Samstag
Beilage zu Nr. 31
23. Februar 1997.
Silberstrahl.
(Abenteuer des Sherlock Holmes.)
Von Conan Doyle.
Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, Watson, als hinzugehen," sagte Holmes eines Morgens, als wir beim Frühstück saßen.
„So? Wohin denn?"
„Nach Dartmoor — nach Kings Pyland."
Das überraschte mich nicht; im Gegenteil, ich hatte mich schon gewundert, daß er nicht längst zur Mitarbeit an dem ungewöhnlichen Fall aufgefordert worden war, der in ganz England das Tagesgespräch bildete. Mit gerunzelten Brauen, den Kopf aus die Brust gesenkt, war mein Gefährte einen ganzen Tag lang ruhelos im Zimmer auf- und abgegangen, hatte immer wieder den stärksten schwarzen Tabak in seine Pfeife gestopft und war für alle meine Fragen und Bemerkungen stocktaub gewesen. Die neuesten Nummern sämtlicher Tagesblätter, die unser Zeitungsagent ihm zuschickte, überflog er nur mit einem Blick und warf sie dann in den Winkel. Er blieb stumm, aber ich wußte genau, worüber er brütete. Es lag ja nur ein Fall vor, der genug öffentliches Aufsehen erregte, um ihn zu bewegen, die ganze Kraft seines kritischen Scharfsinns aufzubieten, nämlich, das seltsame Verschwinden des Rennpferdes, welches die größte Anwartschaft auf den Ehrenpreis von Wefsex gehabt hatte, und die rätselhafte Ermordung des Stallmeisters John Stracker. Als Holmes mir daher plötzlich mitteilte, er wolle sich auf den Schauplatz des Dramas begeben, hatte ich bereits auf diesen Entschluß von seiner Seite gewartet und gehofft.
„Ich würde dich sehr gern begleiten, wenn ich dir nicht im Wege bin," sagte ich.
„Du tätest mir den größten Gefallen damit, lieber Watson, auch wäre es durchaus keine Zeitverschwendung; der Fall enthält nämlich so interessante Einzelheiten, daß er wohl in seiner Art einzig dasteht. Wir können, glaube ich, unfern Zug gerade noch in Paddington erreichen und unterwegs will ich eingehender mit dir über die Sache reden Bitte nimm auch deinen ausgezeichneten Feldstecher mit, wir brauchen ihn vielleicht."
So saß ich denn etwa eine Stunde später in der Ecke eines Coupes erster Klaffe und während der Bahnzug mit uns nach Exter davonsauste, vergrub Sherlock Holmes sein scharfgeschnittenes, ausdruckvolles Gesicht, das von einer Reisemütze mit Ohrenklappen umrahmt war, in einen Haufen neuer Zeitungen, die er sich in Paddington gekauft hatte. Erst als Reading längst hinter uns lag, warf er die letzte Nummer unter den Sitz und holte seine Zigarrentasche heraus.
„Wir fahren rasch," sagte er, nachdem er einen Blick aus dem Fenster geworfen und auf seine Uhr gesehen hatte, „unsere Fahrgeschwindigkeit beträgt augenblicklich dreiundfünfzig und eine halbe Meile in der Stunde."
„Ich habe mir nicht die Zeit genommen, die Meilensteine zu zählen."
„Ich auch nicht," erwiderte er. „Aber die Telegraphenstangen dieser Linie haben einen Abstand von sechzig Ellen; da läßt sich's leicht berechnen. Vermutlich ist dir die Ermordung John Strakers und das Verschwinden von Silberstrahl schon samt allen näheren Umständen bekannt?"
„Was der „Telegraph" und die „Kronik" darüber Mitteilen, habe ich gelesen."
„Bei diesem Fall ist es für die Schlußfolgerung wichtiger, die vorhandenen Angaben genau zu untersuchen, als sich nach immer neuen Beweismitteln umzusehen. Das Trauerspiel ist so ungewöhnlicher Art und für eine große Anzahl Personen von solcher Tragweite, daß uns die Ueber- fülle unbegründeter Annahmen, Mutmaßungen und Voraussetzungen zu verwirren droht. Da gilt es vor allem, die nackten Tatsachen, soweit sie unleugbar und bestimmt fefistehen, von dem unnützen Beiwerk zu trennen, welches Berichterstatter und Theoretiker hinzugefügt haben. Erst wenn man eine sichere Grundlage gewonnen hat, wird man Schlüffe ziehen und die besonderen Punkte ins Auge fassen können, um welche sich das ganze Geheimnis dreht. Am Dienstag abend bin ich sowohl von Oberst Roß, dem Eigentümer des Pferdes, als von Polizeiinspektor Gregory, dem der Fall übergeben ist, auf telegraphischem Wege um meinen Beistand gebeten worden."
„Am Dienstag abend!" rief ich. „Und heute ist schon Donnerstag. Warum bist du denn nicht gestern hingefahren?"
„Weil ich mich in einem Irrtum befand, lieber Watson — was leider häufiger vorkommt, als die Leute glauben mögen, die mich aus deinen Aufzeichnungen kennen. Ich hielt es nämlich nicht für möglich, daß das berühmteste Rennpferd Englands lange verborgen bleiben könnte, noch dazu in einer so öden Gegend, wie der Norden von Dartmoor Von Stunde zu Stunde habe ich gestern auf die Nachrickt gewartet, daß man sein Versteck entdeckt hat, und daß der Räuber des Pferdes zugleich John Strakers Mörder ist. Als aber die Zeitungen heute, außer der Festnahme des jungen Fitzroy Simpson nicht Neues brachten, da fühlte ich wohl, daß etwas ge- schehen müsse und es für mich an der Zeit sei, tätig einzugreifen. Inzwischen halte ich auch den gestrigen Tag nicht gerade für verloren."
„Also hast du dir schon eine Theorie gebildet?"
„Wenigstens ist mir klar geworden, welches die wesentlichen Tatsachen sind. Ich werde sie dir aufzählen, denn es gibt kein besseres Mittel, Licht über einen Fall zu verbreiten, als wenn man ihn jemand auseinandersetzt; auch kann ich ja nur auf deine Mitwirkung rechnen, wenn ich dir zeige, welchen Standpunkt ich selbst einnehme."
Ich lehnte mich nun in die Kiffen zurück und rauchte meine Zigarre, während Holmes vornübergebeugt dasaß, einen kurzen Umriß der Ereignisse entwarf, welche uns zu der Reise veanlaßt hatten und dabei mit dem langen, dünnen Zeigefinger, auf der Fläche seiner linken Hand die verschiedenen Punkte beschrieb, die ihm wichtig erschienen.
„Silberstrahl," sagte er, „ist ein Abkömmling des berühmten Jsonomy und seine Laufbahn war ebenso glänzend wie die seines großen Vorfahren. Das Pferd steht im fünften Jahr und hat seinem glücklichen Besitzer, Oberst Roß, nacheinander bereits sämtliche Rennpreise eingebracht. Auch der Ehrenpreis von Weffex war ihm, nach allgemeiner Ansicht, so gut wie gewiß; die Wetten verhielten sich wie drei zu eins. — Ueberhaupt ist Silberstrahl von jeher der bevorzugte Liebling des Rennpublikums gewesen und hat die auf ihn gesetzte Hoffnung noch nie getäuscht; gelegentlich find wahrhaft riesige Summen auf das Pferd gewettet worden. Hieraus ist leicht ersichtlich, daß eine Menge Leute das stärkste Interesse daran haben mußten, sein Erscheinen auf dem Rennplatz am nächsten Dienstag gewiß zu verhindern.
„Auch in Kings Pyland, wo Oberst Roß seinen Reitstall hat, war man sich diese? Tatsache wohl bewußt und traf umfassende Maßregeln zum Schutz des edeln Tieres. John Straker, ein süherer Jockey der Obersten, hatte bei allen Wettrennen dessen Farben getragen, bis sein Gewicht zu schwer wurde. Fünf Jahre ist er als Jockey und sieben Jahre als Stallmeister bei seinem Herrn gewesen und hak den Dienst stets mit Treue und Eifer versehen. Sein Amt war übrigens nicht beschwerlich, denn alles in allem standen nur vier Pferde unter seiner Obhut und er hatte drei Stallknechte zur Verfügung. Einer von diesen Knechten pflegte die Nacht über im Stall zu wachen, während die andern auf dem Heuboden schliefen. Alle drei standen in bestem Ruf und galten für vollkommen zuverlässig. Straker war verheiratet und wohnt« in einem kleinen Landhaus, das kaum zweihundert Meter von dem Stallgebäude entfernt liegt; er hatte keine Kinder, hielt sich eine Dienstmagd und lebte in guten Verhältnissen. Die Gegend rund umher ist einsam, doch hat ein Bauunternehmer aus Lavi- stock etwa eine halbe Meile nach Norden hin ein kleines Villenviertel errichtet, um Erholungsbedürftigen oder andern Sommerfrischlern, die in der reinen Luft von Dartmoor Stärkung suchen, Unterkunft zu gewähren. Der Ort Tavistock selbst liegt zwei Meilen nach Westen; jenseits des Moors befindet sich in gleicher Entfernung die große Pferdezüchterei von Capleton welche Lord Backwater gehört; der dortige Ausseher heißt Silas Brown. Nach jeder andern Richtung hin ist das Moor völlig verödet und dient nur einigen herumziehenden Zigeunern zum Aufenthalt.
So ungefähr standen" die Dinge am letzten Montag abend, ehe das Unglück geschah. Nachdem die Pferde ihren gewöhnlichen Uebungsritt gemacht hatten und getränkt worden waren, verschloß man um neun Uhr den Stall. Zwei von den Knechten begaben sich nach Strakers Haus, wo sie in der Küche zu Abend aßen, während Eduard Hunter, der dritte, als Wächter zurückblieb. Einige Minuten nach neun brachte ihm die Dienst, magd, Edith Baxter, sein Nachtessen, dar in einem Teller voll Hammelragout bestand. Sie nahm kein Getränk mit, da Wasserleitung im Stall war und der Knecht, der die Wache hatte, nichts anderes trinken durfte, das galt als strenge Regel.
Edith Baxters Weg führte über das offene Moor, und da es ganz dunkel war, nahm sie eine Laterne mit. Als sie sich dem Stall bis auf zwanzig Meter genähert hatte, tauchte plötzlich aus der Finsternis ein Mann auf und rief sie an. Er trat in den gelben Lichtkreis der Laterne und sie sah, daß er den besseren Ständen angehörte; er trug einen grauen Anzug aus leichtem Wollenstoff, Gamaschen und eine Tuchmütze, in der Hand hielt er einen schweren Stock mit dickem Knauf. Was ihr am meisten auffiel war jedoch die entsetzliche Blässe seines Gesichts und sein ängstliches Benehmen; nach ihrer Ansicht mochte er eher über als unter dreißig Jahre alt sein."
„Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich bin?" fragte er. „Ich hatte mich schon darein ergeben, die Nacht auf dem Moor zuzubringen, als ich das Licht Ihrer Laterne sah."
„Sie find dicht bei den Stallgebäuden von Kings Pyland," versetzte sie.
„Wirklich! Nun, das nenne ich einen Glücksfall!" ries er. „Man hat mir gesagt, daß dort nur ein Stallknecht wohnt; vielleicht wollen Sie ihm eben sein Abendbrot bringen. Ich denke, Sie werden nicht zu stolz sein, um sich das Geld zu einem neuen Kleide zu verdienen, nicht wahr? — Nun gut, wenn Sie dem Knecht noch heute abend dies hier zukommen lassen," er nahm ein kleines, zusammengefaltetes Papier aus der Westen- tasche, „so sollen Sie den hübschesten Anzug habenden man zu kaufen bekommt."
(Fortsetzung folgt.)