Samstag
Beilage zu Nr. 23
9. Februar 1997
Das Doktor-Frälüein.
Novelle von Alwin Römer.
(Fortsetzung)
Draußen bot ihr Holzbrcher den Arm und nach einigem Zögern legte sie leicht den ihrigen hinein.
Frau Erdmann schüttelte den Kopf, aber sagte kein Wort. Von der Schüddekopp erfuhr sie, daß Holzbecher schon gestern mit dagewesen sei und die „Frau Doktor" sehr gelobt habe. Ueberhaupt behandle er sie „hellschen gut", ganz anders wie die „jungen Doktors", die es ja immer nicht lange aushielten in Fichtenstein.
„Vielleicht will er sie heiraten!" warf die alte Frau anscheinend gleichgültig hin.
„Das sagt die Fiebelkornen auch, Frau Erdmann!" erklärte Mutter Schüddekopp eifrig. „Aber er ist doch wohl schon zu alt für sie!"
„Alter schützt vor Torheit nicht!" sagte die Greisin trocken. „Fragt sich nur, ob sie damit einverstanden ist!"
„Ja, warum denn nicht?" orakelte die Schüddekoppen. „Enne jute Brotstelle ist es doch. Und für uns wär's 'n Segen. Denn sie hat 'n jutes Herz!"
„So?"
„Aber freilich! Was hat sie der Marie schon alles mitgebracht! — Und gleich den ersten Abend hier, wo wir ihren Geburtstag feiern durften und die Marie doch nicht mit konnte, hat sie ihr Suppe gekocht und das Bett gemacht, janz wie' ne Mutter!"
„Das ist sehr hübsch von ihr!" sagte Frau Erdmann. Es kam ihr immer mehr zur Kenntnis, daß sie recht töricht gewesen war in ihren Vorurteilen. Diese „Frau Doktor" war wirklich ein liebes, kluges und gutes Geschöpf. Warum hatte sie nicht vorher Gelegenheit gesucht, sie sich an. zusehen, ehe sie sich den alten und doch noch so voreiligen Mund verbrennen mußte?
Nun, Gott sei Dank, es war ja wohl noch nichts verfahren. Heute und morgen würde Doktor Holzbecher kaum die Courage haben, ihr seine verliebten Absichten kund zu tun. Gleich, wenn sie nach Hause käme, wollte sie Hubert erzählen, daß sie anderen Sinne» geworden sei und sich schäme, ihm mit ihrem Wegzüge nach Hohensinsberg gedroht zu haben.
Aber als sie über die Schwelle daheim trat, kam ihr das Mädchen mit einem Briefe entgegen. Hubert hatte ihn von der Eisenbahnstation mit seinem Pferde zusammen geschickt. Er habe plötzlich verreisen müssen, stand darin. In etlichen Tagen wolle er zurück sein. Sie möge sich nicht um ihn änstigen. Aber es wäre besser so-
Da wußte sie, daß ihr Starrsinn ihn Hinausgetrieben hatte. Und wenn er nun wiederkam, und Holzbecher hatte inzwischen einen günstigen Augenblick benutzt, so hatte sie in ihrer übergroßen Mutterliebe zum zweiten Male das Glück ihres Sohnes verscherzt.
Das bedrückte sie schwer, da sie nicht einmal wußte, wo den Flüchtling eine Nachricht traf, und ihres Lebens unfroh, saß sie im Lehnstuhl und ließ ihren Abendtee kalt werden.
Hubert Erdmann fuhr draußen im Lande umher, wickelte Geschäfte ab und suchte sich durch allerhand Zerstreuungen vor einem übereilten Entschluß zu schützen. Auch leitete ihn die Hoffnung, die Mutter würde in den Tagen seiner Abwesenheit mit sich zu Rate gehen und ihren Widerstand aufgeben. Unterdessen wagte der Winter seinen zweiten Angriff auf das ziemlich hoch gelegene Gebirgsvorland, zu dem Klein-Selkow, Huster- witz und all die anderen Nesterchen gehörten. Diesmal mit mehr Glück. Dafür war's auch inzwischen November geworden und ein scharfer Ostwind hatte Tag und Nacht geblasen und Nasen und Ohren gehörig in die Farbe genommen. Die Fichtenäste hingen dick voll Schnee; alle Fluren lagen unter der großen, weißen Winterdecke, über die das Rabenvolk unmutig krächzend dahinzog, und der flache Wiesenteich am Fichtensteiner Waldrand prangte mit einer schon ganz respektablen Eiskruste.
„Noch einen tüchtigen Nachtfrost," sagten die Sachverständigen unter der Klein-Selkower Dorfjugend, „und wir können uns die Schlittschuh anschnallen!'
Das bezog sich natürlich nur auf die, die welche hatten. —
Angenehm berührt von dieser Aussicht war auch Lenore Rümelin. Dieser gesunde Sport, dem sie als Kind schon leidenschaftlich gehuldigt hatte, war ganz dazu angetan, alle die zwiespältigen Empfindungen in ihrem Innern auf eine kleine Weile wenigstens zum Schweigen zu bringen. Denn neben den immer deutlicher werdenden Galanterien ihres Direktors, die sie sich mit schweigendem Staunen gefallen lassen mußte, solange ihre schnell ins Werk gesetzten Bemühungen um ein, n anderen Wirkungskreis keinen Erfolg zeitigten, quälte sie heimlich ein immer wieder auftauchendes Grübeln um dar Schicksal jenes Mannes, für den sie eine so starke Verachtung im Herzen gehabt Hatte, ehe sie ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen. Und wie oft sie auch die Gedanken an ihn und seine Beweggründe, aus denen er einstmals die von ihr vergötterte Freundin aufgegeben, über sich selbst erbittert, von dannen scheuchte, sie waren wie die frechen Spatzen am
Balkongesims ihres Zimmerchens, die sich auch nur auf ein paar Minuten vertreiben ließen und dann um so kecker zurückkehrten. Ganz betroffen hatte sie ein Brief der Gräfin gemacht, die mit leiser Schalkhaftigkeit auf eine Schilderung der neuen Umgebung und ihrer Verhältnisse geantwortet hatte: „Mir will scheinen, daß Hubert Erdmann trotz der Jahre, die aus mir nun langsam eine alte Frau machen, ein frischer, spröde Mädchenherzen nur allzu schnell erobernder Jüngling geblieben ist, und es wird mich gar nicht wundernehmen, wenn meine stolze Lenore, die sich einstmals jeder Männerwerbung gegenüber kühl bis ans Herz hinan verhielt und nur für ihren hohen Beruf schwärmte, eines schönen Tages die weiße Flagge hißt und mit einem gewissen Jemand zusammen goldgeräuderte Karten in die Welt hinaursendet."
Auf diesen Brief, der ihr ein brennendes Rot in die blassen Wangen getrieben, war sofort eine geharnischte Epistel nach Nelkeneck geflattert, in der sie die „durchaus falsche Auffassung ihrer Schilderungen" lebhaft bedauert und sich derartige Anspielungen als bittere Kränkung ein für allemal verbeten hatte. „Denn wenn ich auch ein ehrliches Mitleid mit Herrn Erdmann empfinde", hatte ihr Schlußsatz gelautet, „so möchte ich doch niemals einem Mann angehören, der sich Dir, teure Jngeborg, gegenüber so treulos gezeigt hat, mögen auch die Motive dazu noch soviel Entschuldbares für ihn ausweisen. Ich müßte tatsächlich vor mir selbst erröten, wenn ich an dergleichen je denken könnte."
Sie hatte selbst geglaubt, was sie geschrieben, und mit diesem starken Protest, schwarz aus weiß, die unsinnige Geschichte auch für sich selbst zu erledigen vermeint. Aber Papier ist geduldig, viel geduldiger als ein klopfendes Menschenherz, daß sich seine Gefühle nicht wegkommandieren läßt, viel geduldiger als ein Paar junger Augen, die in schlecht kontrollierten Sekunden gewisse Wege abstreifen, auf denen jemand auftauchen könnte, der trotz aller „Treulosigkeit" sich längst über die schwankende Barriere „ehrlichen Mitleids" hinweggestohlen hat und trotz allem „beschämenden Vorsichselbsterröten" das eigenwillige Herz höher schlagen läßt. Es war wirklich ein abscheulicher Zustand, in dem sich die arme „Frau Doktor" befand, und doch überraschte sie sich zuweilen dabei, wie es ihr, wenn sie allein war, jubelnd von den Lippen klang:
„Das macht, es hat die NaHtigall
Die ganze Nacht gesungen —"
Sie hielt dann erschrocken inne und schalt sich selbst ob so „alberner Anwandlungen". Aber ganz langsam merkte sie doch, daß sie ganz so war wie der Vogel Strauß, der seinen Kopf unter die Flügel steckt und nun meint, cs könne ihn keiner sehen. —
Als sie die ersten Schlittschuhläufer auf dem Wiesenteich Herumzirkeln sah, holte auch sie die blanken Stahlflügel aus dem Koffer und nahm ihre erste Freistunde wahr, sich im sausenden Laufe die frostklare Novemberluft um den vergrübelten Kopf wehen zu lassen. Vielleicht flogen dabei alle bösen Grillen wie Nebelhauch davon. —
Die Vormittagsschule war just au« und gestattete nun auch den Großen, die sich eine tunde länger als die anderen mit der nicht gerade süßen Weisheitskost hatten füttern lassen müssen, ihre Künste zu probieren. Lenore war bald mitten unter ihnen und dar junge Volk lachte ihr kameradschaftlich zu und zog übermütig allerhand Figuren um sie her trotz ihres gelehrten Titels und der fest eingebürgerten, würdigen Anrede die Doktor Holzbecher verfügt hatte. Sie war dessen herzlich froh und freute sich schon auf die Stunden, die sie mit Jngeborgs Aeltestem, der morgen kommen sollte, hier herumtollen würde. Als nun gar eine lustige, kleine Schneeballenschlacht zwischen den Buben und Mädchen entstand, bei der es zu den komischsten Entgleisungen kam, wurde sie wieder ganz jung und beteiligte sich alsbald mit brennendem Eifer an der Bekämpfung der nicht gerade galanten Herrengeschlechter von Klein-Selkow.
Natürlich waren die Buben ihnen über. Immer kräftiger wurde ihr weißer Geschoßhagel; immer weiter rückten sie vor, so tapfer die kleinen Mädchen sich auch verteidigten. Schon dachten einige daran, ihr Heil in eiliger Flucht zu suchen und den immer kecker werdenden Schlingeln die Wahlstatt zu überlassen. Da bekamen sie plötzlich Hilfe, deren Nahen im Gefechtseifer von niemand bemerkt worden war. Auf dem Wege von der Station her war jemand ausgetaucht, der das drollige Bild zunächst mit einem unfreien Lächeln beobachtet hatte, bis ihm unter der Schar der zurückgedrängten Mädchen eine schlanke Gestalt ausgefallen war. Da war's wie ein Sonnenstrahl über sein Antlitz gegangen und vom Waldrande halb gedeckt, hatte er sich wie ein forscher Junge in Trab gesetzt, um den bedrängten Blondzöpfchen und ihrer Führerin wirksamen Beistand zu gewähren. Und es war ein mächtiger Bundesgenosse, den das Schicksal der holden Weiblichkeit da im geeigneten Moment gesandt hatte. Seine Zielsicherheit war verblüffend und die Schnelligkeit, mit der er seine ihm von den Kleinsten jubelnd gelieferte Munition verschoß, erinnerte lebhaft an allermodernstes Schnellfeuer. Langsam neigte sich der Sieg auf die Seite des schönen Geschlechts, das mit kräftigen Hurra» seiner wiedererwachten Begeisterung Luft machte.
(Fortsetzung folgt.)