Samstag
Beilage zu Nr. 7,
12. Januar 1S07
Abenteuer des 8k6i1oel( ^olm68.
Von Conan Doyle.
Die Gutsherren von Neigate.
(Fortsetzung.)
„Wißt Ihr was" rief er, „ich möchte mir gern in aller Ruhe einen kleinen Einblick in den Fall verschaffen, er fesselt mich ungemein. Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Oberst, überlasse ich Ihnen einstweilen meinen Freund Watson und begleite den Inspektor nach dem Tatort, um mich zu überzeugen, ob ein paar Dinge, did mir eben eingefallen sind, auf Wahrheit beruhen. In einer halben Stunde bin ich wieder da."
Es vergingen fast anderthalb Stunden, dann kehrte der Inspektor allein zurück.
„Herr Holmes spaziert draußen im Felde auf und ab," sagte er. „Sein Wunsch ist, daß wir alle vier zusammen nach dem Hause gehen."
„Zu Herrn Cunningham?"
„Jawohl."
„Weswegen?"
Forrester zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht genau. Unter uns gesagt, glaube ich, daß Herr Holmes seine Krankheit noch nicht völlig überwunden hat. Er ist schrecklich aufgeregt und gebärdet sich ganz sonderbar.
„Fürchten Sie nur nichts," sagte ich. „Meist habe ich noch immer gefunden, daß Methode in seiner Tollheit war."
„Mancher dächte vielleicht, es sei Tollheit in seiner Methode," brummte der Inspektor. „Aber er scheint mit Feuereifer ans Werk zu gehen; wir wollen ihn lieber nicht aufhalten, wenn es Ihnen recht ist, Herr Oberst."
Die Hände in den Taschen, den Kopf auf die Brust gesenkt, schritt Holmes draußen auf und ab.
„Die Sache wird immer interessanter," sagte er. „Dein Ausflug aufs Land, Watson, ist über alles Erwarten gelungen. Ich hätte mir keinen schöneren Morgen wünschen können."
„Sie haben den Schauplatz des Verbrechens in Augenschein genommen, wie ich höre," sagte der Oberst.
„Ja, wir sind zusammen auf Kundschaft ausgezogen, der Inspektor und ich."
„Mit Erfolg?"
„Wenigstens haben wir mancherlei erfahren. Ich kann Ihnen das unterwegs erzählen. Zuerst besichtigten wir die Leiche des Unglücklichen. Er ist durch einen Pistolenschuß getötet worden, ganz wie man uns be. richtet hat."
„Zweifelten Sie denn daran?"
„Man tut immer gut, alles selbst zu untersuchen Unser Gang war durchaus nicht vergeblich. Wir hatten dann eine Unterredung mit Herrn Cunningham und seinem Sohn, die mir genau die Stelle bezeichnen konnten, wo der Mörder auf der Flucht durch die Gartenhecke gebrochen war. Das interessierte mich sehr."
„Natürlich."
„Dann suchten wir die Mutter des armen Menschen auf, erfuhren jedoch nichts von ihr; sie ist sehr alt und ganz kindisch."
„Und zu welchem Ergebnis kamen Sie bei Ihren Ermittelungen."
„Zu der Ueberzeugung, daß wir es mit einem eigenartigen Verbrechen zu tun haben. Vielleicht trägt unser jetziger Besuch dazu bei, das Dunkel zu lichten. — Nicht wahr, Herr Inspektor, Sie sind doch auch meiner Meinung, daß der abgerissene Zettel in des Ermsrdtten Hand, auf dem seine Todesstunde verzeichnet ist, die allergrößte Wichtigkeit hat?"
„Mich dünkt, er sollte uns Aufschluß über die Tat geben können."
„Das tut er auch. Kein anderer Mensch hat ihn geschrieben, als der, welcher Wilhelm Kirwan zur Nachtzeit an diesen verhängnisvollen Ort bestellte. — Aber wo ist das fehlende Stück des Papiers hingekommen?"
„Ich habe überall auf dem Erdboden gesucht, in der Hoffnung, es zu finden," versetzte der Inspektor.
„Jemand hat es dem Toten aus der Hand gerissen; es verdächtigte ihn, er mußte es haben. Dann hat er es wahrscheinlich in die Tasche gesteckt, ohne zu bemerken, daß die Leiche noch eine Ecke in der Hand behielt. Wenn wir uns das abgerissene Stück verschaffen könnten, wäre gewiß ein großer Schritt zur Lösung des Rätsels getan."
„Ja, aber wie kann man die Taschen das Verbrechers durchsuchen, bevor man seiner Person habhaft geworden ist?"
„Nun, jedenfalls wird man gut tun, sich die Sache zu merken. Noch ein anderer Punkt liegt auf der Hand: Der Z ttel ist Wilhelm zugeschickt worden. Wer ihn geschrieben hat, war nicht zugleich der Ueberbringer, sonst hätte er seine Botschaft wohl mündlich ausgerichtet. Durch wen ist er also abgegeben worden? Oder kam er vielleicht mit der Post?"
„Ich habe mich danach erkundigt," sagte Forcester; „Wilhelm hat gestern nachmittag einen Brief durch die Post erhalten. Der Umschlag ist aber nicht mehr vorhanden."
„Vortrefflich," rief Holmes und schlug dem Polizisten auf die Schulter. „Sie haben auch schon mit dem Briefträger gesprochen. Mit Ihnen zu arbeiten, ist ein wahres Vergnügen. — Da find wir ja an der Pförtnerwohnung; kommen Sie, Herr Oberst, ich zeige Ihnen den Schauplatz des Verbrechens."
Wir schritten an dem hübschen Häuschen vorbei, das der Ermordete bewohnt hatte und durch ein? breite Eichenallee, bis zu dem stattlichen, alten Herrenhause. Nach der Landstraße zu war der Garten von einer grünen Hecke umgeben. Holmes und der Inspektor gingen voran; um die Ecke biegend gelangten wir an die Seitenpforte, wo ein Schutzmann Wache hielt.
„Oeffnen Sie, bitte, einmal die Tür," redete ihn Holmes an. „Hier auf der Treppe also stand der junge Cunningham und sah die beiden Männer mit einander ringen, gerade an der Stelle, wo wir jetzt find. Der alte Cunningham war oben am Fenster — am zweiten links — und sah den Kerl dort hinter dem Busch verschwinden. Sein Sohn ebenfalls. Beide wissen das ganz genau, sie haben sich den Busch gemerkt. Dann lief Herr Alec zu dem Verwundeten und kniete neben ihm. Der Boden ist sehr hart, man findet keine Spuren mehr, an die man sich halten kann."
Während Holmes noch sprach, kamen zwei Männer vom Gartenpfad ' her um die Hausecke, ein ältlicher Herr mit stark gefurchtem, ausdrucksvollem Gesicht und Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, und ein junger Mensch, dessen modische Kleidung und heitere», unbekümmertes Wesen zu dem traurigen Geschäft, das uns hergeführt hatte, schlecht zu passen schien.
„Noch immer auf der Suche?" sagte er zu Holmes gewendet. „Ich glaubte, Ihr Londoner kämet nie in Verlegenheit. So sehr schnell scheint Ihr mir die Sache doch nicht abzumachen."
„Man muß uns nur etwas Zeit lassen," erwiderte Holmes gutmütig.
„Ja, die wird wohl vonnöten sein," fuhr der junge Cunningham fort. „Mich dünkt, es ist auch nicht die geringste Spur vorhanden."
„Nur einen Faden haben wir," fiel der Inspektor ein. „Wir glauben, daß wenn sich entdecken ließe — Aber ums Himmels willen, Herr Holmes,
— was fehlt Ihnen?"
Die Züge meines armen Freundes hatten urplötzlich einen entsetzlichen Ausdruck der Qual angenommen, sie verzerrten sich krampfhaft, seine Augen rollten wild umher, und unter dumpfen Tönen sank er um, mit dem Gesicht auf den Boden. Zu Tode erschrocken über diesen unerwarteten, schweren Anfall, trugen wir Holmes in die Küche, wo er, in einen Armstuhl zurückgelehnt, mehrere Minuten lang mühsam Atem holte. Endlich erhob er sich wieder und stammelte eine verwirrte Entschuldigung wegen seiner Schwäche.
„Watson kann Ihnen sagen, daß ich soeben erst von schwerer Krankheit genesen bin," fügte er als Erklärung hinzu. „Solche plötzlichen Nerven« zufälle kommen bei mir bisweilen vor."
„Soll ich Sie im Wagen nach Hause schicken?" fragte der alte Cunningham.
,.O nein, da ich einmal hier bin, möchte ich mir erst noch über einen Punkt Gewißheit verschaffen, der sich leicht ermitteln lassen wird."
„Und der wäre?"
„Ich halte es für sehr möglich, daß Ihr armer Kutscher den Einbrecher schon in voller Tätigkeit fand. Sie scheinen es als feststehend zu betrachten, daß die Tür zwar erbrochen war, der Räuber aber da» Hau» nicht betreten hat."
„Das liegt meiner Ansicht nach auf der Hand," verletzte Cunningham bedächtig. „Mein Sohn Alec war ja noch nicht zu Bett gegangen und hätte sicherlich jedes Geräusch im Hause gehört."
„Wo saßen Sie denn?"
„Ich rauchte meine Pfeife im Ankleidezimmer."
„Welches Fenster ist das?"
„Das letzte links, neben 'meines Vaters Schlafstube."
„Natürlich war in beiden noch Licht?"
„Jawohl, versteht sich."
„Das ist doch wirklich sehr auffallend," sagte Holmes. „Finden Sie es nicht auch höchst sonderbar, daß ein Dieb, der noch dazu kein Neuling ist, mit aller Ruhe in einem Hause einbricht, wo zur Zeit noch zwei Leute wach sind, wie er an den Hellen Fenstern sehen kann?"
„Es muß eben ein äußerst frecher Bursche sein."
„Ja, wissen Sie," sagte Herr Alec, „wenn der Fall nicht absonderlich wäre, brauchten wir uns nicht an Sie um Aufklärung zu wenden."
Die Annahme aber, daß der Räuber bereits ins Hau« gedrungen war, ehe Wilhelm sich über ihn hermachte, scheint mir ganz verfehlt. Wir hätten doch sonst unsere Sachen in Unordnung gefunden und irgend etwas vermißt, das er gestohlen hat."
„Das kommt darauf an. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir e» mit keinem gewöhnlichen Einbrecher zu tun haben. Er liebt es, auf besondere Art zu verfahren, wie man schon an der wunderlichen Auswahl sieht, die er bei Acton getroffen hat — was war es doch? — Eine Rolle Bindfaden, ein Briefbeschwerer und allerlei Krimskrams." (Forts, folgt.)