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im Bürgerausschuß erhalten. Der Bürgerausschuß hat jetzt, wie der Gemeinderat, eine unbedingte radikale Mehrheit. Er besteht aus 9 Deutschparteilern, 3 Konservativen, 12 Demokraten und 8 Sozialdemokraten. Da im Gemeinderat neben den 3 besoldeten Gemeinderäten 3 Deutschparteiler, 1 Konservativer, 14 Demokraten und 10 Sozialdemokraten sitzen, so haben jetzt die bürgerlichen Kollegien (abgesehen von den 3 besoldeten Gemeinderäten) folgendeZusammensetzung: 12 Deutschparteiler, 4 Konservative, 26 Demokraten und 18 Sozialdemokraten. Somit ist nun die radikale Parteiherrschaft Meister über Stuttgart geworden. Und dabei das politische Unikum: Die Partei, die nur ein starkes Zehntel der Wählenden auf sich zu vereinigen vermochte, ist die weitaus stärkste Fraktion auf dem Rathaus! Etwa 6 Sitze würden insgesamt ihrer Stimmenanzahl entsprechen und 26 besitzt sie. Wenn irgend etwas, so rechtfertigt dieses Mißverhältnis das Verlangen nach einer proportionalen Wahl, die ja nun schon bei der nächsten Gemeindewahl zur Einführung gelangt. Ein Wort ist auch noch über die sogenannten „Mittelstandszettel" zu sagen. Am Wahl- tag tauchte ein Wahlvorschlag für den „Mittelstand für Gewerbe und Handel" auf, der nicht einen einzigen der sonst ausgestellten Kandidaten enthielt. War der Zettel von einem Freunde des Mittelstands ausgegangen, so wäre diesem Freunde, gelinde gesagt, etwas mehr Ueberlegung sehr zu wünschen gewesen. Die Vermutung liegt aber viel näher, daß es sich dabei um eine von gegnerischer Seite versuchte Irreführung handelte. Der Versuch ist auch insofern gelungen, als 419 Wähler diese Spekulation auf diejenigen, die „nicht alle werden", mitmachten und diesen Vorschlag unabgeändert abgaben; 25 weitere Wähler gaben sich auch noch die Mühe, an dem Zettel herumzuarbeiten. Diese 444 Wähler hätten ebensogut zu Hause bleiben können; sie haben ihre Stimmen zu ungunsten des Bürgertums mißbrauchen lassen. Die Wahlbeteiligung war im ganzen eine schwache. Es haben nur 65,1 Prozent abgestimmt gegenüber 80 Prozent bei der Landtagswahl. Die Nähe der letzteren hat zweifellos manchen wahlmüde gemacht, und so hat das rote Kartell, das, wie die Zahlen zeigen, auch aus diesem Umstand Nutzen gezogen hat, leicht gesiegt. (Schw. M.)
Stuttgart 15. Dez. Heute kam vor der Strafkammer des Kgl. Landgerichts die Strafsache gegen Redakteur Schmidt vom „Beobachter" wegen Beleidigung des Pfarrers Kühle von Reichenbach zur Verhandlung. Wie bekannt, erschienen im „Beobachter" im Anfang des Jahres 1905 verschiedene Artikel, die den Pfarrer Kühle bezichtigten, er habe einem in Ostheim verstorbenen Lehrer das Läuten der Scheidungsglocke verweigert, weil er Angehöriger des Katholischen Lehrervereins gewesen sei. Auf Anregung von Gericht und Staatsanwaltschaft fand heute der Fall, für den Schmidt die preßgesetzliche Verantwortung trifft, im Wege des Vergleichs seine Sühne dahin, daß Schmidt zu Gerichtsprotokoll erklärte, er habe sich auf Grund des Aktenmaterials davon überzeugt, daß die Behauptung, Pfarrer Kühle habe das Scheidungsgelöute wegen Zugehörigkeit des verstorbenen Lehrers Mayer zum Katholischen Lehrerverein verweigert und der hieran geknüpfte Vorwurf der Rechthaberei auf einer unrichtigen Information seitens Dritter beruht; er spreche sein Bedauern über die Wiedergabe der unrichtigen Information und den hieran geknüpften Vorwurf der Rechthaberei aus. Des weiteren übernahm der Angeklagte die Kosten des Verfahrens.
Echterdingen 15. Dez. Im Laufe dieser Woche verendeten, laut „Filderbote" einem hiesigen Bauern 3 Kühe im Wert von 1200 ein Rind dürfte ebenfalls noch zu Grunde gehen. Nach Aussage des Oberamtstierarzts handelt es sich um eine Vergiftung durch schlecht eingebrachtes oder verhageltes Futter, welches eine Lähmung des Schlundkopfes herbeiführt.
Heilbronn 15. Dez. Die „Neckarzeitung" weist in ihrer gestrigen Nummer darauf hin, daß Professor Curtius der Bearbeiter der Hohenlohe-Manuskripte, einem Mitarbeiter des „Matin"
gegenüber die Mitteilungen der „Neckarzeitung" nicht zu dementieren vermochte und bemerkt ferner der „Schwäb. Merkur" werde in seinem heutigen Abendblatt folgende Erklärung bekanntgeben: „Reichstagsabg. Professor Hieber teilt uns mit, der Vorwurf des „Schwäb. Merkur" gegen die „Nekarzeitung," ihre Behauptungen bezüglich der Hohenlohe'schen Enthüllungen, seien unrichtig, ist tatsächlich ungerechtfertigt. Sowohl die „Neckarzeitung," als ich haben in dieser Angelegenheit durchaus loyal gehandelt. Die Einzelheiten haben für die Oeffentlichkeit kein weiteres Interesse." Die Erklärung des „Schwäb. Merkur" in seinem heutigen Abendblatt geht dahin, daß Professor Hieber die Absicht durchaus ferngelegen sei, die Enthüllung der „Nekarzeitung" bezw. „Nationalzeitung" im Reichstag zur Sprache zu bringen. Die falsche Nachricht hiervon in der Presse sei nur die Folge eines Mißverständnisses gewesen. Bezüglich der aufsehenerregenden Enthüllung an die „Nationalzeitung" erklärt der „Schwäb. Merkur" seine Information als auf einem telephonischen Hörfehler beruhend.
Göppingen 15. Dez. In Göppingen sind falsche Zweimarkstücke mit dem Bilde Kaiser Wilhelm I und der Jahreszahl 1876 im Umlauf; die Prägung und der Glanz derselben ist gut, die Falsifikate sind deshalb auch nur schwer von den echten Stücken zu unterscheiden, nur im Gewicht sind sie etwas leichter die echten.
Biberach 16. Dez. Gestern abend 8 Uhr erloschen plötzlich alle Gaslichter in unserer Stadt. Die Kaufläden, die ihre Weihnachtsauslagen eingerichtet hatten, lagen in völliger Dunkelheit und ebenso die Straßen. Die ganze Stadt war in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt und erst allmählich und zwar im Polizeigebäude zuerst konnten die Lichter wieder angezündet werden. Die Ursache dieser unangenehmen Tatsache ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf einen Defekt in der Herstellung und Zuleitung des Gases, sondern auf eine Ungeschicklichkeit eines Angestellten zurückzuführen.
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Berlin 15. Dez. Der Reichs-Anzeiger veröffentlicht heute Abend an erster Stelle die beiden kaiserlichen Verordnungen betreffend die Auflösung des Reichstages und die Wahlen zum neuen Reichstage am 25. Januar 1907.
Berlin 15. Dez Die Mitglieder der nationalliberalen Reichstags fr aktion haben gestern den Entwurf eines Wahlaufrufes beschlossen. Am 19. Dezember wird der Zentral- Vorstand der nationalliberalen Partei zusammen- treten, um den Wahlaufruf der Partei endgültig festzuftellen. In dem Entwurf heißt es: Deutsche Wähler! Nicht kleine Partei-Unterschiede sind in Frage, sondern untergeordnete Dinge! Auf unsere alte Waffenehre, auf unsere nationale Stellung unter den Völkern kommt es an! Auf die Opfer an Gut und Blut, die wir bisher gebracht haben, richtet die Blicke, damit sie nicht vergebens waren. Darum laßt Euch im kommenden Wahlkampf wegen kleiner Unterschiede nicht trennen! Halten wir alle zusammen gegen Zentrum und Sozialdemokratie als freie Deutsche, die in der Zukunft unseres Volkes die Zukunft für sich und ihre Kinder erkennen.
Berlin 16. Dez. Der sozialdemokratische Parteivorstand erläßt einen Wohlauf- ruf, indem es heißt: Wähler Deutschlands! Wir wissen, daß Alles, was wir heute erreichen können, nur Stückwerk ist. gegenüber dem, was erreicht werden müßte. Wir wissen, daß eine Reform von Grund aus eine durchgreifende Umwandlung unserer ökonomischen und politiscben Zustände erfordert, daß nur Freiheit und Gleichheit der Menschheit in Staat und Gesellschaft die volle Anteilnahme an den Errungenschaften der Kultur nur das Werk des festen Wollens und der klaren Einsicht der großen Mehrheit der Nation sein kann. Aber wir wissen auch, daß die Zustände, die heute herrschen und sich immer mehr zuspitzen werden, Tank der Einsichtslosigkeit der herrschenden Klassen die Revolulionierung der Köpfe herbei- führen und die Einsicht und den Willen zur Umgestaltung der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage schaffen müssen. Die Not der Zeit lernt
die Menschen denken. Im Vertrauen auf diese revolutionierende Wirkung der Tatsachen ziehen wir guten Mutes in den Wahlkampf. Unsere und Eure Wahlparole sei: Nieder mit Allem, was sich dem Fortschritt der Menschheit zur vollen Sonnenhöhe der Kultur entgegenstemmt. Hoch die Sozialdemokratie!
Bremerhaven 15. Dez. Der mit 14000 Ballen Baumwolle von Savannah kommende Dampfer „South Australia" traf mit brennender Ladung ein. Unterwegs mußten bereits zahlreiche Ballen Baumwolle gelöscht werden. Der Brand dauert noch fort. Der Kapitän erkrankte durch die ausströmenden Gase schwer.
Paris 15. Dez. Professor Curtius, der Herausgeber der Hohenloheschen Memoiren, der von einem Vertreter des „Malin" über die Richtigkeit der von der „National-Zeitung" gebrachten Meldung befragt wurde, wonach Papst Leo XIII von Kaiser Wilhelm II ein Geldgeschenk in Höhe von 500000 ^ gewünscht haben soll, erklärte, er könne die Meldung nicht dementieren.
Petersburg 15. Dez. Stolypins Tochter, die bei dem furchtbaren Bomben-Attentat gegen die Villa Stolypins schwer verletzt wurde, ist gestern an Lungen. Entzündung erkrankt. Ihr Zustand ist hoffnungslos.
Petersburg 15. Dez. In Riga hat die Polizei eine große revolutionäre Organisation aufgedeckt. 70 Personen wurden verhaftet. Ein fertig ausgearbeiteter Attentatsplan gegen den General-Gouverneur der baltischen Provinzen, Baron von Möller-Salomeski, wurde aufgefunden. Auch einige Beamte der Geheim-Polizei sollten gewaltsam beseitigt werden. Unter den Verhafteten befindet sich einer der gefährlichsten Revolutionäre, Peter Bjelajaew, der Sohn eines Staatsrates, der erst unlängst die Realschule verlassen hat.
Odessa 15. Dez. Eine bewaffnete Bande überfiel das Marinegefängnis in Sewastopol, um die dort wegen Meuterei verhafteten Matrosen zu befreien. Die Bande wurde jedoch von der Wache vertrieben.
Vermischtes.
Aus Hinterpommern. In einem Dörfchen Hinterpommerns hat der Lehrer sich mit vieler Mühe den „niederen Küsterdienst" abgeschüttelt, und für die Vakanz suchte man am Orts einen passenden Bewerber. Für eine Kandidatur kamen jedoch nur die — Taglöhner in Betracht, da niemand anders die mit einem jährlichen Einkommen von zehn Mark bewertete „niederen" Küsterdienste übernehmen wollte. Aber dies „Gehalt" erschien auch den Taglöhnern nicht standesgemäß, und so meldete der Pfarrer dem Patron (Gutsbesitzer), daß kein „niederer Küster" aufzutreiben sei. Da für den Lohn von 10 Mark, der für den Lehrer ausreichend gewesen war, niemand fand, so schritt man zur Gehaltserhöhung: 25 Mark und 2 Scheffel Roggen. Für dieses außerordentliche Gehalt fand sich denn ein mit kinderreicher Familie gesegneter Arbeiter bereit, das Amt zu übernehmen.
Faudmrtschaftlicher Keprksverem Calw. Bekanntmachung.
Auf der Schweinezuchtstation in Sindlingen sind wieder angekört worden 2 männliche und 7 weibliche Ferkel.
Bestellungen seitens der Vereinsmitglieder nimmt Herr Vereinssekretär Amtspfleger Fechter entgegen. Der Preis pro Zwei-Monat-Alter und pro Stück beträgt 36 ^ für die männlichen und 30 ^ für die weiblichen Tiere.
Calw 14. Dezember 1906.
Der Vereinsvorstand:
Voelter, Regierungsrat.
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