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feger steigt durch eine schmale Oeffnung in den Keller, aber niemand hatte sich dorthin flüchten können, das Unglück war zu schnell gekommen. Die Feuerwehr hebt Balken um Balken ab, eingeengt zwischen und unter denselben liegen die Leichen. Dieselben werden nach Freilegung mit einem Tuch bedeckt und zu den übrigen Toten im Rathaus im I. Stock aneinandergereiht. Das Gesicht der Umgekommenen ist teilweise grauenhaft entstellt, der Schwerdruck der Balken und anderer Gegenstände hat die Glieder zerschlagen, die Farbe des Blutes vermischt sich mit der des Schuttes und man hat Mühe, die gräßlich Zugerichteten zu erkennen. Die Rettungsmannschaft ist in 2 Hälften geteilt, auf der westlichen Seite des Hauses werden vor unfern Augen 5 Tote hervorgeholt, eine schwere Arbeit, da große eiserne Balken hindernd im Wege stehen. Aber ohne Aufhören greifen die Männer mutig zu, dis Trümmer werden entfernt und das Rettungswerk nimmt seinen Fortgang. Die Balken sind teilweise vollständig unversehrt, teilweise sind sie aber wie Sicheln gebogen, eine ungeheure Last muß das Zerstörungswerk vollbracht haben. Auf der östlichen Seite des Hauses sind die Arbeiten im Innern leichter vor sich gegangen, auch hier liegen unter dem Schutt noch mehrere Tote, darunter ein Mädchen. Abends 7 Uhr wird mit dem Abräumen des Schuttes an der Peripherie des Hauses begonnen. Plötzlich ruft wieder ein Arbeiter: da liegt einer! Der Kopf war leicht sichtbar, der Körper lag unter großen, starken Balken und Steinen, Lebenshoffnung war nicht mehr vorhanden, nach einer Viertelstunde gelang es, auch diesen Toten zu bergen. Aus der Trümmerstätte trägt ein Feuerwehrmann eine Wanduhr heraus, sie zeigt auf dem Zifferblatt 5 Min. nach '/rl Uhr. Einer der ersten Toten, die auf das Rathaus gebracht wurden, ist Seifenfabrikant Albert Schlatterer hier, bald darauf Restau- ratenr I. Leber zum scharfen Eck; bei letzterem war die Taschenuhr, die unverletzt ihren Gang ging, das Erkennungszeichen. Beide Verunglückte waren mit dem 12 Uhr Zug nach Nagold gefahren und hatten kaum das Gebäude betreten, als sie sofort von dem einstürzenden Haus tödlich getroffen wurden. Ein entsetzliches Unglück hat die beiden blühenden Menschenleben dahingerafft und wir sind gewiß, daß allgemeinste, herzlichste Teilnahme sich den schwer betroffenen Familien zuwendet. Die beiden Leichname werden heute hieher übergeführt. Von weiteren Calwer Einwohnern erlitt Gipser und Maler Carl Staudenmeyer, welcher vor dem Hause dem Vorgang der Hebung zusah, eine nicht unbedeutende Verletzung des Hinterkopfs, ein anderer kam unversehrt aus den Trümmern und wieder andere schätzen sich glücklich, Haus und Straße vor Eintritt der Katastrophe verlassen zu haben. Die Rettungsarbeiten wurden von dem Oberamtmann und Stadtschulth, Brodbeck geleitet, letzterer selbst entging mit knapper Not dem Tode; Soldaten des Genesungsheims
übernahmen den Sicherheitsdienst. Aerztliche Hilfe war genügend vorhanden. Aus telephonische Benachrichtigung eilten die Aerzte von allen Seiten herbei, um den Unglücklichen Hilfe angedeihenzu lassen; so von Nagold, Horb, Altensteig, Haiter- bach, Wildberg, Calw und Liebenzell; von Calw ging ein Hilfszug mit Aerzten, Rettungsmannschaft und Verbandszeug ab.
Herzzerreißende Scenen spielen sich an der Unglücksstätte und auf dem Rathaus ab. Unbeschreiblich ist das Jammergeschrei der Frauen und Kinder, die den Mann und Vater verloren haben; Eltern weinen um ihre Kinder und jedermann wird hingerissen von dem grausigen Unglück, das sich unseren Blicken bietet. Als wir an der Unglücksstätte ankamen, trat uns der Besitzer des Gasthofes, Hirschwirt Neu deck, entgegen. Er berichtete mit kummervollem Gesicht und Weinen, er habe alles verloren, sein ganzes Vermögen sei dahin, aber er würde dies alles verschmerzen, wenn nur nicht seine Frau getötet worden wäre; das 3jährige Töchterchen des Besitzers war mit andern Kindern zur Zeit der Katastrophe aus der Straße und kam so mit dem Leben davon. Die werktägige Liebe hat sofort bei dem Unglück eingegriffen; die Nagolder Frauen suchten in jeder Weise helfend mitzutun und überall fanden die Verletzten liebevollste Aufnahme. Auch von Seiten der Regierung wurde Hilfe zugesagt; gestern abend kam Minister v. Pischek noch nach Nagold, um im Aufträge des Königs die nötigen Schritte einzuleiten. Ueber die Katastrophe selbst erfuhren wir Folgendes: Der Gasthof sollte um m höher gehoben werden. Mit der Hebung war der bekannte Bauunternehmer Rückgauer, dem schon eine große Zahl derartiger Ausführungen gelungen ist, betraut worden. Anläßlich der Hebung hatte der Besitzer Einladung zur Metzelsuppe ergehen lassen, der Liederkranz hatte sich ebenfalls dort versammelt, um in dem Stammlokal einige Lieder zu singen, eine große Zahl sonstiger Gäste war gekommen, die Räumlichkeiten waren etwa mit 200—300 Personen besetzt. Die Nagolder selbst strömten zusammen, um im alten Lokal noch einen Schoppen zu trinken. Die Hebung war bis auf 5 ein geschehen. Plötzlich zeigte sich ein Riß und kurz darauf siel das ganze Gebäude unter schrecklichem Getöse zusammen und alle in ihm befindlichen Personen unter seinen Trümmern begrabend. Ein fürchterlicher Staub erhob sich, so daß ^4 Stunde lang alles in eine Staubwolke eingehüllt war. Es wurde sofort Sturm geläutet und die Helfer und Retter waren bald zur Stelle. Es entstand ein heldenmütiges Schaffen und Räumen seitens der Feuerwehr und Zivilisten und schon nach 1 Stunde fand man Verschüttete. Das Haus war gegen die Hirschstraße zu eingestürzt; die Schiebung muß also von der Hinteren Seite des Gebäudes erfolgt sein. Nach 3stündiger angestrengter Tätigkeit wurden schon 45 Tote herausgegraben, abends 7 Uhr waren es 49.
Die Zahl der Schwerverwundeten soll sich auf über 30 belaufen, ebenso die der leicht Verletzten. Unter den Toten befinden sich 15 Nagolder, ferner der Pfarrer Rüdinger von Warth und ein Töchterchen; der Frau wurden beide Füße und ein Arm abgedrückt, lebend wurden sie in das Krankenhaus gebracht. Die andern Toten gehören meist dem Arbeiterversonal des Unternehmers an; sie standen noch bei den Maschinen und wurden im Augenblick des Einsturzes zuerst von den Balken und Steinen erdrückt; die im Innern des Hauses sich befindlichen Personen erlitten verhältnismäßig weniger Schaden. Ueber die Ursache des Unglücks hört man verschiedene Mutmaßungen, es wird auch schwer fallen, die Ursache überhaupt festzustellen. D.as Gebäude wurde im Jahr 1862 erbaut, litt bei Bränden vielfach durch Wasser und wurde öfters im Innern umgebaut; es ist also leicht möglich, daß die eingebauten Teile keine starke Verbindung mehr unter sich hatten. Der Unternehmer äußerte sich über die Ursache dahin, er könne sich den Einsturz nicht erklären, es sei nur anzunehmen, daß der obere Stock eine zu starke Belastung gehabt und dadurch eine Schiebung veranlaßt habe. Die Staatsanwaltschaft traf gestern abend in Nagold ein, um Erhebungen an Ort und Stelle über die Ursache anzustellen. Es wird sich dann wohl zeigen, ob es an den nötigen Vorsichtsmaßregeln bei der leichten Bauart des großen Hauses gefehlt hat oder nicht. Soviel aber muß jetzt schon gesagt werden, es war ein Leichtsinn sondergleichen, daß in dem zu hebenden Hause ein so umfangreicher Besuch von Gästen und Neugierigen stattgefunden hat, jedenfalls muß die Behörde, nachdem jetzt ein so haarsträubender Unglücksfall vorliegt, fernerhin das Betreten eines derartigen Gebäudes verhindern. Eine furchtbare Katastrophe ist es, die über Nagold, Umgebung und Württemberg hereingebrochen ist, ein Unglück, das zu einem der größten gehört, von dem eine Württemberg. Stadt überhaupt betroffen wurde. Groß ist der Jammer in vielen Familien und es eröffnet sich hier für die Nächstenliebe ein, großes Feld der Tätigkeit. Die uns heute Mittag zugegangene Totenliste führt 53 Namen auf, die wir Raummangels halber erst morgen veröffentlichen können. Die Zahl der Schwerverletzten beträgt ca. 50, verschiedene von ihnen schweben in Lebensgefahr. Die Zahl der leichter Verletzten hat noch nicht ermittelt werden können, da die Mehrzahl in Privathäusern untergebracht ist. Die Frau des Pfarrer Rüdinger von Warth, ist heute Nacht ebenfalls ihren Verletz- ^ ungen erlegen.
Eine Sammlung für die betroffenen Familien dürfte in Bälde auch hier eingeleitet werden.
sAmtliches aus dem StaatsanzeigerZ Die K. Generaldirektion der Staatseisenbahnen hat am 31. März d. Js. die Expedientenstelle in Calw dem Eisenbahngehilfen Schöll, in Hirsau dem Eisenbahngehilfen Schuster, übertragen.
Steinmetz gegenüber saß. Er ging und ließ sich nieder, als hätte er eine lange Reise hinter sich.
„Was soll geschehen?" fragte Steinmetz.
„Ich weiß nicht, — es liegt ja nichts daran. — Was raten Sie mir?"
„Es muß so vieles geschehen, daß es schwer ist, zu sagen, was zuerst getan werden muß. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Baron wütend ist und allen Schaden, den er Ihnen znfügen kann, sogleich anstiften wird. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß das Dorf in einem Zustand glimmenden Aufruhrs, und daß zwei Frauen unserer Sorge anvertraut sind."
Paul bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl. Ter Intendant hatte den richtigen Ton angeschlagen; dieser Mann war am glücklichsten, wenn er sich für andere abmühen konnte.
„Und was soll mit Etta geschehen?" murmelte er.
Der Ton seiner Stimme ließ Steinmetz zusammenzucken. „Sie müssen mit ihr sprechen," antwortete er sinnend. „Gewiß müssen Sie mit ihr sprechen, — vielleicht kann sie Ihnen alles erklären."
Er blickte unter den struppigen, grauen Augenbrauen über den Tisch hinweg zu ihm hinüber. Paul sah in diesem Augenblick nicht wie jemand aus, der für Erklärung zugänglich ist, — nicht einmal für die Erklärungen einer schönen Frau; aber es gab etwas, das Karl Steinmetz bei all seiner Erfahrung nie ganz hatte ergründen können: die Macht einer Frau über den Mann, der sie liebt, oder einmal geliebt hat.
„Sie kann Stephan Lanowitsch' zerstörtes Leben nicht erklären, — sie kann keine Entschuldigung für die tausend natürlichen Todesfälle finden, die sich bloß in diesem Gouvernement jeden Winter ereignen."
Das hatte Steinmetz gefürchtet, — die Gerechtigkeit.
„Geben Sie ihr wenigstens Gelegenheit," sagte er.
Paul sah zum Fenster hinaus. „Wenn Sie es wünschen," murmelte er.
„Ja, Paul, ich wünsche es. Ich bitte Sie darum; und vergessen Sie nicht, daß sie — kein Mann ist."
Die Sonne war längst untergegangen, und das Zwielicht bedeckte eisig und hoffnungslos das beschneite Land. Steinmetz sah nach der Uhr. Eine Stunde war verstrichen, seit sie beisammen waren, eine von jenen Stunden, die in einem Leben so viel bedeuten, wie ein Jahr. Er mußte die Uhr nahe ans Gesicht halten, um die Zeiger zu sehen; das Zimmer war beinahe dunkel, denn ohne besondere-Weisung ließ sich niemals ein Diener blicken.
Paul sah den Intendanten an, als wolle er fragen, wieviel Uhr es sei. In großen Augenblicken werden wir uns oft plötzlich der Grenzen der menschlichen Natur bewußt; in solchen Momenten sehen wir ein, daß wir nicht Götter, sondern nur Menschen sind.
„Wir müssen uns zum Diner ankleiden," sagte Steinmetz. „Später, — nun, später werden wir sehen."
„Ja," antwortete Paul, aber er rührte sich nicht von der Stelle.
Die beiden Männer sahen einander einen Augenblick an. Sie hatten viel mit einander durchgemacht, — Gefahren, Aufregungen, Sorgen, — und Paul wußte, daß dieser Mann mit dem breiten, plumpen Gesicht ihn wie einen Vater liebte. Das Sprechen fiel ihm nicht leicht, die Worte schienen ihm den Hals zusammenzuschnüren.
„Sie dürfen nicht glauben, daß es gar so schlimm ist, wie es hätte sein können," sagte er endlich, „aber im Augenblick habe ich das Gefühl, als hätte ich niemand mehr außer Ihnen."
Steinmetz blickte mit seinem seltsam ergebenen Lächeln zu ihm auf.
„Ja ich bin immer da," sagte er.