473
dorff, Baron Fredericks, den fie irrtümlich für den Minister Bulygin hielten. Freder-cks blieb unverletzt. ,
Warschau, 24. Juni UkberdreStraßen- kämpfe, welche gestern in Lodz stattfanden, sind erschreckende Einzelheiten hteher gelangt. Die Aufständischen warfen Straßenbahnwagen, Droschken und sonstige Fuhrwerke um nnd benutzten fie zum Barrikadenbau. Die Aufständischen waren teilweise mit Gewehren, Revolvern, Dolchen und anderen Waffen versehen. Die Frauen kämpften mutig an der Seite ihrer Männer. Das Militär schoß wiederholt auf die Aufständischen, ohne daß diese ihre Positionen verließen. Nach verschiedenen übereinstimmenden Angaben werden die Verluste auf beiden Seiten auf 200 Tote und 800 Verwundete geschätzt, darunter viele Frauen. — Der Bevölkerung Hot sich eine grenzenlose Erbitterung bemächtigt, die jeden Augenblick den Ausbruch neuer Kämpfe erwarten läßt. Im Laufe der Nacht wurden neue Barrikaden errichtet, vom Militär jedoch gestürmt. Zahlreiche Verwundete wurden in die Krankenhäuser gebracht. Die Hospitäler find von Kosak,n bewacht, die den Angehörigen den Zutritt verweigern. Zahlreiche Bürger verlassen in wilder Flucht die Stadt, in der fortgesetzt Plünderungen und Brandstiftungen Vorkommen. Das Militär reicht zur Aufrechterhaltung der Ordnung nicht aus. Aus Warschau wurde militärische Hilfe abgesandt.
London, 24. Juni. Eine Tokioer Drahtung des „Daily Telegraph" meldet: Nicht 2000 sondern 12 000 Russen mit 16 Geschützen räumten Nordkorea bis zur Annäherung der Japaner, die am 20. Juni Kyongsyong besetzten. Zwischen der Poß- wjet Bai und Wladiwostok sollen 30000 Russen stehen.
Madrid, 25. Juni. Auf der Höhe des Kap Finisterre erfolgte ein Zusammenstoß zwischen einem englischen Kreuzer und dem deutschen transatlantischen Dampfer „Coblenz". Einzelheiten fehlen noch.
New-Jork, 24. Juni. Perd'caris, der bekanntlich seiner Zeit von dem Jnsurgevtensührer Raisuli gefangen genommen wurde, erklärte einem Interviewer, er führe dir Hebung Deutschlands in der Marokkofrage darauf zurück, daß Frankreich die Entfernung aller Fremden mit Ausnahme der Franzosen aus dem Staatsdienst verlangt habe. Tie Absicht Frankreichs, auf solche Weise sich ein Monopol zu schaff n, habe den deutschen Kaiser veranlaßt, dieser Politik ein Ende zu machen.
-rrmLWes.
Elf Jahre unter den Hereros Ihre Erlebnisse und Erfahrungen unter den Hereros erzählt Helene v. Falkenhauseu in nnem eben erschienenen Buch: Änsiedlerschicksale. Elf Jahre in Deutsch-Südwestafrika 1893 bis 1904 (Berlin 1905). Es ist ein an tapferem Ringen, heldenhaftem Lebensmut und tragischen Ereignissen reiches Bild, das sich da vor uns entrollt. Die Verfasserin, die mit ihren Eltern und Geschwistern nach dem „dunklen Erdteil" aus gewandert war, heiratete dort einen H-rrn v. Falkenhauseu, mit dem sie untrr steten Gefahren und langem Mühen eine fünfjährige
glückliche Ehe führte, bis ihr Mann von den Hereros hinterlistig und grausam ermordet wurde und fie selbst mit ihren Kindern kaum dem sicheren Tode entrann. Sehr schwierig war es zunächst, die eingeborene Dienerschaft auf eine gewisse Stufe der Kultur zu bringen, und manch lustiges Vorkommnis erheiterte dabei die Gemüter. „Einmal sollte eine größere Anzahl zufällig vorbeireitender Herren und Damen auf unserer Veranda bewirtet werden, und die von uns neu eingekleidete, mit großer Geduld angelernte Kofferin Katharina war beauftragt, die Tassen heraus zubringen. Wer beschreibt unser» Schrecken und das allgemeine Amüsement, als sie erscheint, das neugeschenkte Kleid gleich einer Pelerine um die Schultern geworfen, den Kopf durch den Rockschlitz gesteckt und über unser Lachen mit weit aufgerissenem Munde staunend! Die übrige Kleidung bis auf den Schurz hatte fie vergessen an- zulcgen." Bisweilen kam auch schwarzer Besuch. So brachten zwei deutsche Offiziere einst den Oberhäuptling Samuel Mohahero, einen „Unterkepitän" und einige andere farbigen Würdenträger mit. Samuel musterte die Verfasserin und ihre beiden Schwestern unaufhörlich während des Essens, bei dem er sich große Mühe gab, Messer und Gabel zu handhaben; schließlich konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf die Schwester Käthe und erklärte, die wolle er haben, er sei bereit, bis zu 100 „Beester" (Rinder) für sie zu geben. Am andern Tage kam Samuel wieder und meinte, er wolle auch Helene mhwen. Beim Abschied hielt er ihr stumm seine Pfeife hin, die das Fräulein arglos annahm; nun bedeutet aber das Ueberreichen einer Pfeife bei den Eingeborenen einen Heiratsantrag, und kurz vor dem Ausbruch des Hererokrieges 1896 ließ sich Samuel nach seiner Pfeife erkundigen und fie zurückfordern. Die Vielweiberei herrscht bei den Wilden in sehr ausgedehntem Maße; jeder darf sich so viel Weiber halten, als er bezahlen kann. Dadurch entstehen nicht nur höchst komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse, so daß eine Schwarze erzählen konnte, die Frau ihres Vaters sei die Schwester ihres Kindes, sondern bei dem großen Kinderreichtum herrscht auch große Not. und die Eingeborenen verkaufen sehr gern ihre Kinder. Einst brachte einer feinen Neffen, der entsetzlich ebgemagert war, und sich, um dem peinigenden Hunger zu entgehen, glühende Kohlen auf den Leib gehalten hatte, deren tiefe Wund- eindrücke man noch sah. Als man nach dem Namen fragte, erwiderte der Onkel: „Mein Baas (Herr), ich mache dir den Jungen zum Präsent, bei dir wird er wohl zu essen bekommen, du kannst ihn ja Präsentmensch nennen, denn einen Namen hat er nicht. Höchst interessant berichtet die Verfasserin über die Gesänge der Hereros. „Die Melodie, wenn man von einer solchen sprechen kann, bewegt sich eigentlich nur in Septimonklängen, und der Gesang wird stets von einer Art Tanz begleitet. Die Gesänge find zum größten Teil LobeShymncn auf die Rinderherden; der Vortänzrr resp. Sänger erzählt von dem Reichtum einzelner Kapitäne oder seiner Vorfahren, von den verschiedenen Posten, ans denen fie die Rinder nach ihrer Farbe getrennt hielten; dann werden einzelnen Tieren, die sich durch auffällige Merkmale von den übrigen unterscheiden, bksord-re Strophen gewidmet, die Gestalt der Hörner mit den Armen nochgebildet u. s. w. Ferner besingt I
er wunderbare Begebenheiten und Erlebnisse, wobei er Geräusche nachzuahmen versucht, wie das Fahren mit der Eisenbahn oder gar das Nähen mit der Maschine, auch viel wilde Kriegsgesänge und Tänze werden oufgeführt." Etwas Unheimliches liegt in dem lauten Gebrüll; es verbreitet auch über die Tänze eine romantische und wilde Stimmung. Von den Bergdamaras erwähnt die Verfasserin, daß „sie ganze Sagen und Romane aufführten, bei denen Eifersuchtsszenen die Hauptrolle spielten und vielfach ihre Gesänge, die bei zunehmendem Monde, hauptsächlich vor und gleich zu Beginn der Regenzeit stattfanden, Lobes- und Dankeshymnen auf die segenspendende Gottheit seien." Von allzu großem Liebreiz scheinen für unsere Begriffe die Hererofrauen nicht zu sein, wenn wir hören, daß unglaubliche Fettpolster, gelbe faltenreiche Gesichter, schief geschlitzte Augen und eine breite platte Nase olS Merkmale der Schönheit gelten. Ihre Toilette besteht in einem panzerartigen Korsett aus Lcderstreifen u. darauf befestigten runden Plättchen von Straußen- eierschalen, das furchtbar schwer ist und von widrig riechendem Fett trieft. Dazu tragen fie eiserne Beinschienen, deren Höhe sich nach dem Reichtum des Mannes und der Beliebtheit der Schönen richtet, und viele Ringe aus Messing, Kupfer und Eisen. Diese schwere Bürde des Schmuckes können nur „große Damen" ous der Hererogesellschaft anlegen, und fie ist ein probates Mittel, die Frau am Weglaufen zu verhindern. Einfache Frauen tragen nur einen Lcndenfchurz. Die Haare werden vollkommen glatt abrasiert, der Kopfschmuck besteht aus einer Lederhaube mit Stahlpirlen oder irgend einer abenteuerlichen Dekoration aus Ochsenfell. Die Mädchen behalten auf dem Scheitel einen Haarschopf, der mit Kuhdünger steif gemacht und zusammengedreht wird. Der Km per ist stets mit Fett dick eingeschmiert, ja, die Frauen verwenden als Parfüm ein stark riechendes Pflanzenpulver „Bucko", das einen widerlichen Geruch ausströmt. Auch den Christen gewordene« Hereros ist tägliches Waschen schwer beizubringett. Uebnhoupt hat das Evangelium bet ihnen keine liefen Wurzeln geschlagen, sie heucheln wohl Frömmigkeit. wenn es ihnen Vorteil bringt, aber im Grunde bleiben fie ihrer fatalistischen Gottheit treu und und bewahren sich ihre Hauptcharoktereigenschaften, einen brennenden Geiz, unbeschreibliche Trägheit, Verlogenheit, Hinterlist, eingebildeten Stolz und Grausamkeit. Obwohl sie nicht zählen können, wissen fie ganz genau, ob ein Stück ihrer Herde fehlt, und beim Betrügen entwickeln sie eine große Intelligenz. Sie nennen sich allein „Menschen", die Weißen nennen fie „gelbe Dinger", die deutschen Beamten verächtlich „Sklaven". So ist auch ihr Aufstand hauptsächlich aus dem Wunsche nach Freiheit geboren worden. Die meisten Leute wünschten den Krieg und die Häuptlinge mußten nachgeben, obwohl sie sich vor den deutschen Truppen fürchteten. So viel unfreiwillig Komisches in den Berichten von dem ungeschlachten und gierigen Wesen dieser Wilden zum Ausdruck kommt, so geht doch eine ernste Stimmung durch daS Buch, die in vielen deutschen Herzen einen Nachhall finden wird und neues Interesse für die Ansiedler im fernen Afrika erregen wird.
Kestoröen in Liebenzell: Oskar Koch, Besitzer des Unteren Bad-S.
„Ist Fräulein Zia etwas zugestoßen, die heute gegen Abend Herrn Llibke besuchte?" fragte der Pfarrer B hrend mit erschöpftem Atem.
„Die ist ja schon längst fort! Ich sah sie zum Hause hinauSgehen, eS mochte bald 10 Uhr sein; er hatte ihr eine Droschke bestellt."
Der alte Mann faltete zitternd die Hände. Er selbst hatte sich erboten, den weiten Weg in einer Nachtdroschke zu machen, als man das Mädchen bis gegen Mitternacht vergeblich erwartet hatte.
„Um Gott, wo kann sie sein? Sie ist ein Kind noch! Wäre ihr ein Unglück zugestoßen! . . . Benachrichtigen sie doch Herrn Lübke! Vielleicht kann er Auskunft geben!"
Der Portier schritt bereitwillig mit dem Lichte in de» Hof. Aber der Pavillon war leer. DaS Bett stand unberkhri; nur Jakob blinzelte erwachend in den Lichtschein.
„Papa Lübke!" rief er, als vermisse er auch seinen Genoffen.
Der Portier brachte die Nachricht, Herr Lübke sei auch noch nicht zu Hause; er erinnere sich, daß er am Abend für einen Gast Commission übernommen hatte, von der er also noch nicht zurückgekehrt war.
Der Plärrer meinte anfangs, einen Trost darin finden zu können.
„Viklleicht hat ihn das junge Mädchen doch begleitet? fragte er aufatmend.
„Doch nicht! Sie ist später als er gegangen, fie hat ihn auch nicht zurück erwartet."
De« Pfarrer sann in höchster Aufregung. ,
„Könnte man nicht erfahren, wohin r, geschickt worden ist?
„Unmöglich! Er hat e» sicher Niemanden gesagt, den» er ist gewissenhaft, und der Gast, der um ein Zimmer begehrt hatte bis zum Abgänge seine« Zuge«, ist wieder abgereist."
„Sie wissen auch nicht, wer es war?"
„Da er nicht über Nacht hier bleiben wollte, ist ihm der Fremdrnzettel nicht vorgelegt worden."
Die Hände ringend stand der Pfarrer da.
„Welche Nachricht soll ich j>tzt bringen?" sprach er mutlos vor sich hin.
„Da- junge Mädchen hat ja doch immer, wenn «S Sonntags aus dem Hotel ging, eine Droschke genommen."
„Allerdings, das könnte beruhigen aber desto unerklärlicher ist eS! . . Ich will zum nächsten Polizei-Posten gehen und die Meldung machen. Die Nacht ist so finster! Ich schaudere, wenn ich zu denke» wage . . ."
Gesenkten Hauptes entfernte sich der Pfarrer mit trostlosem Herzen, alle Möglichkeiten überlegend und erschöpfend, dir ihn hätten beruhigen können. Eines ful ihm immer wieder ein. Zia war in letzter Z-it so zerstreut und eigentümlich gewesen, aber unmöglich konnte er ihr zutraue«, daß sie febst und freiwillig. . . Nein dazu war sie nicht fähig! Aber was konnte ihr widerfahren sein?
Ein Schauder durchrieselte den alten Herrn; mit schotternde» Knieen suchte er im Nebel die Droschke, die ihn hierher geführt, und gab dem Kutscher die Ordre, zur Polizeiwache zu fahren.
Unterwegs faltete er die Hände im Schoße und sprach ein inbrünstige- Gebet zum Himmel, er möge da« arm«, unschuldige Kind in feinem Schutze be- hatten.
Der Morgen graut« bereits. Der Wind war wShrend der Nacht umg«. schlagen; «in kalter Nordost hatte den Nebel verjagt und «in« leicht« EiSkrnst« bedeckte die Straß«.
(Fortsetzung folgt.)