Ealmer Ko^enlilalt.
Samstag Beilage ;« Ur. 66. 29. April 1905.
Der Spion.
Historischer Roman aus der Geschichte des heutigen Rußlands von Julius Grosse.
(Fortsetzung.)
Die prächtige Kapelle im allrussischen Stil war gedrängt voll; nur die obere Galerie blieb leer. Jndeß konnte ich deutlich bemerken, daß sich eine gebeugte Gestalt in Pelz und Schleier hinter einem Pfeiler oben verbarg. Mir war kein Zweifel, daß es Niemand Anderes, als Frau Nadjeschda, die sich unbemerkt in das väterliche HauS gewagt, um als Zuschauerin an der kirchlichen Einsegnung der Schwester teilzunehmen.
Am selben Morgen hatte ich sie noch nicht begrüßen können, aber aus einigen Fragen der Frau Uftinja konnte ich schließen, daß jene Absicht bestand und die Frau des Geistlichen ihre Mitwirkung dazu bot.
Trotz mancher Schwierigkeit hatte sie es wirklich durchgesetzt. Welche Erinnerungen für sie, die einst bei nächtlicher Weile an demselben Altar gekniet, um dann mit einem Abenteurer in die Weite hinauszuzikhm. Einige Male, während der Psalmist sang, glaubte ich ein leises Schluchzen an jener Stell« hinter dem Pfeiler zu vernehmen.
Nichts stört« sonst die Zeremonie bis auf den kleinen Zwischenfall, daß beim Ringwechsel einer der Ringe zu Boden fiel und erst nach längerem Suchen wieder gefunden werden konnte.
Nach der Trauung folgte mittags im großen Frstsaal deS Schlosses rin luxuriöses Mahl mit aller Pracht und allem Ueberfluß, den reiche Grundbesitzer bei solchen Gelegenheiten zu entfalten lieben. Auf den Tafeln prangten uralte Schaustück« von getriebenem M-tall, silberne Armleuchter, goldene Pokale und prächtige Vasen mit schönen Blumensträußen, daneben Schüsseln mit ganzen Reh- rücken und Hammelkeulen, Schinken und Ferkel in Gelees. Obwohl alles in Fülle und Ueberfluß vorhanden, war eS doch kein eigentliches, auf Stunden ausgedehntes Hochzeitsmahl, sondern nur ein Dejeuner zum Abschied. Besonders WadkowSki schien Eile zu haben und fragte wiederholt nach den Schlitten, die zur Abfahrt bereits längst im Hofe standen.
Mir selbst war während deS Mahles eine ganz besondere Aufgabe zugefallen. Schon als sich der Zug aus der Kapelle in den Festsaal bewegte, flüsterte mir die Neuvermählte zu:
„Wie ist eL mit Nadja? Sie muß im Schlosse sein mit Frau Ustinja. Die Unbesonnene wagt das Unglaublichei Hier kann sie auf keinen Fall bleiben! Bitte, bringen Sie mir Nachricht, was sie beschlossen hat, ich will eS so einrichten, daß Sie neben mir sitzen."
Dem Befehl aus so schönem Muude mußte gehorcht werden. Ich suchte im Gedränge alsbald unbemerkt die Tür zu gewinnen und mit einiger Hilfe fand ich mich in den finsteren Gängen draußen auch zur oberen Galerie hinauf. DaS laute Festtreiben erfüllte alle Räume des Schlosses, und einer von der hin- und her laufenden Dienerschaft wies mich gegen ein Nawodku bald auf den rechten Weg.
Frau Nadja saß wirklich noch oben in dem braunem Kirchenstuhl, gebeugt und regungslos, als wäre sie eingeschlafen.
Als ich dann unerwartet neben ihr stand, schrak sie empor, und als sie mich erkannte, streckte sie mir beide Hände entgegen.
„Nur kein« Vorwürfe jetzt, Herr Oberst, ich konnte nicht anders."
„Wer will Ihnen Vorwürfe machen, teuerste Frau," erwiderte ich, „aber Sie müssen einen Entschluß fassen, auch Tatiana wünscht eS. Entweder Sie reisen nachher mit ihr, und dann müssen Sie jetzt schon voraus, damit sie beim Popen einsteigrn können, oder Sie entschließen sich anders, und dann nehme ich Sie morgen nach Novomirgorod mit."
„Bester Herr Oberst, quälen Sie mich nicht," sagte sie mit müder Stimme. „Wenn Sie wüßten, wie es in mir auSfieht. Jeder Eindruck seit gestern qualvoll und doch beglückend, und vollends hier — jeder Winkel voll von tausend Erinnerungen bis in die Kinderzeit hinauf. Ich hätte nicht gedacht, daß die Heimat solche Macht hat. Erst fürchtete ich sie, wie eine trostlose Wüste, wo mich niemand kennt, wie ein verschlossenes Paradies, an das ich kein Recht mehr habe, und nun kann ich mich nicht wieder loSreißen. ES hält mich wie mit hundert Armen. Begreifen Sie das nicht?"
„Nur zu wohl, aber wie soll es nun in Zukunst werden? Ihre Schwester rechnet auf Sie."
„O, meine Schwester — kann sie in mein Herz sehen? Ihre Absicht mag ja gut sein, aber was soll ich in fremden Landen? Nein, nein, am liebsten möchte ich hier bleiben, und wär's als Magd auf dem Hof, als Hirtin oder als Gänsemädchen, von Niemand gekannt. Die gute Sascha mag darum wissen, auch der alte Kuzmin und Frau Ustinja, di« werden mich gewiß nicht verraten."
In solchen excentrischen Ideen schien sie sich zu gefallen und wußte jedem Bedenken zu begegnen, zuerst in Betreff ihre» Vaters.
,O, der sollte nichts von mir gewahr werden," sagte sie. „Wie glücklich wäre ich, wenn ich ihn jeden Tag von Weitem sehen könnte, wie heute. Ach, er ist alt geworden, seit den drei Jahren und gewiß aus Kummer um mich; ich hätte mir die Augen aus dem Kopfe weinen können, als ich ihn jetzt wiedersah. Aber so wird eS gehen, so wird eS gehen."
Vergebens erschöpfte ich mich in Einwendungen. „Können Sie nur denken, teuerste Frau, daß dies unentdeckt bliebe auf die Dauer? Und gesetzt auch, e» gelänge, aber Ihre Pflichten gegen Ihren Gatten —"
„Auch daran habe ich gedacht," erwiderte sie, „ich Halle an ihm fest und hoffe auf ihn. Bis jetzt war alles nur Hoffnung und Vertrauen, waL mich das Schlimmste tragen ließ. Und erreicht er sein Ziel früher oder später, nun, so mag er mich ron hier abtzolm in allen Ehren und vor aller Augen. Nur so kann alles wieder gut werden — auch deS Vaters halber."
„Soll ich das alles Ihrer Schwester sagen?"
„Wie Sie wollen, aber quälen Sie mich nicht mehr. Wenn sie Alle» überlegt, wird sie eS selbst so am besten finden."
Damit war ich in Gnaden entlassen und mußte meinen Rückzug antrete».
Tatiana, der ich sofort alles mitteilte, war über diesen Wankelmut, diese Charakterlosigkeit, wie sie eS nannte, fast aufgebracht. Sie hatte eS sich so schön gedacht, der armen vom Schicksal Verfolgten eine neue sonnige Zukunft zu schaffen und die trübe Vergangenheit in Vergessenheit zu bringen.
Sie schickte mich einige Male mit anderen Vorschlägen hinauf, die ebenso wenig Gehör fanden.
Ueber diesen fruchtlosen Verhandlungen mochte mehr als eine Stunde vergangen sein. Die Gäste, wie das Brautpaar, hatten sich bereit» erhoben und standen in Gruppen, um Abschied von den Neuvermählten zu nehmen. Besonder» WcdkowSki drängte unablässig zur Abreise, während der alte Uschakoff, der deS Guten mehr als hinreichend getan, in einem Meer von Rührung schwamm und dem geliebten Schwiegersohn noch tausenderlei Dinge zu sagen hatte.
ES war ein laute», bewegtes, farbenreiches Bild nicht minder drinnen in den E älen, wie draußen im Vorhous auf der Freitreppe und im GutShof, wo ein lärmende« Treiben herrschte. Während sich die Pferde vor de» Schlitten bäumten, die Kutscher fluchten und sangen, bracht« der alte Kuzmin mit anderen MuschikS auf der Freitreppe ein Abschiedsständchen, dessen schmetternde Klänge zuletzt alle Worte der Abschiednehmende« übertönte«.
Jatiana Iwanowa, von ihrem Gatten getrennt, mußte sich schließlich durch eine dichte Hecke von Nachbarn, Verwandten und Hausfreunden hindurchwinden. Bei Einzelnen blieb sie dennoch stehen und verlängerte den Abschied, wohl auch NadjeschdaS halber, deren letzter Entschluß immer noch erwartet wurde.
Ich war soeben mit dem letzten Vorschlag Tatiana» noch einmal hinauf- gestiegen. Nadja sollte darnach, da sie nunmehr nicht mitreisen könne, einstweilen bei Batjuschka Smirnrff verbergen wohnen bleiben und später Nachkommen, wen« erst die Grenze glücklich erreicht sei.
Auch darauf wollte Nadjeschda nicht eingehen; sie hatte sich bereits in da» Zimmer der alten Sascha geflüchtet, dar sie nun und nimmermehr zu verlassen gedenke.
Da, während wir noch an der verschlossenen Tür verhandelten, trat draußen plötzlich eine allgemeine Stille ein. Man hörte Pferdegetrappel auf den Steinfließen vor dem Hause und barsche Kommandoworte. Gleich darauf erhob sich ein rum klär licher Lärm — erst ein Wortwechsel, dann ein heftiger Aufschrei, Drehungen, Flüche und allgemeiner Tumult, schließlich ließ sich ein gemessener Befehl von einer uns unbekannten Stentorstimme vernehmen.
Etwa» Außerordentliche» mußte geschehen sein. Ich eilte sofort hinunter.
Welche» unerwartete Schauspiel!
UschakoffS prächtiger Schlitten, in welchem WadkowSki bereits Platz genommen, während Tatiana noch davor stand, war von Kosaken umgeben. Ein Feldjäger, der sie kommandierte, war aus seinem Schlitten gestiegen und befand sich in heftigem Disput mit WadkowSki, der sich auf seinen Reisepaß berief und denselben vorwie».
Auf den ersten Blick war mir alle» klar: «ine Verhaftung in der besten
Form.
Noch in dem letzten Moment vor der Abreise hatte man WadkowSki erwischt als eine» der geheimen Häupter und Mitglieder dcS unsichtbaren Bunde». Der Haftbefehl war vom Minister Araktschejef ausgestellt und von Grusino datiert.
Der Feldjäger hatte die ausnahmsweise Höflichkeit, den Anwesenden, wenn auch in kurzer, militärisch,r Form, alle begehrten Aufschlüsse über die Gründe der V>» Haftung zu geben, ebenso über den Bestand der Verschwörung, di« sich angeblich über alle Städte Rußlands erstrecken solle. Als einer der Gefährlichsten sei WadkowSki bezeichnet worden. Ueber seine Verbindungen in Taruffa werde man später inquiriren. „Geschont wird keiner mehr!" sagte der Feldjäger.
(Fortsetzung folgt.)