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Dienstag Krttage zu Ur. 29. 21. Kebruar 1905.
Der Spion.
' Historischer Roman aus der Geschichte des heutigen Rußlands von Julius Grosse.
(Fonsitzung.)
„Beide Schwestern, jo unähnlich einander wie möglich, waren von bezaubernder Schönheit. Tatiano, die Aeltere, brünett und von einer gewissen Nachlässigkeit der Haltung, schien meist von Schwermut und Trauer überschattet, sie hatte bereits eine schwere Piufurg erfahren. Die Jüngere dagegen, Nadjeschda, blauäugig und braunlockig, war von ungebändigtcm lebhaftem Temperament, dabei doch von jungfräulicher Scheu und naiver Anmut. Was soll ich cs verhehlen, daß sie es bald wir angetan?
Obschon ich keinen Augenblick die Schranke vergoß, die zwischen uns bestand, gab ich doch mich widerstandslos manchem schönen Traume hin. Wir lasen Shakespeare's , Romeo", „Byron's", „Corsar" und „Braut von Abydos" und „Bruns", „schottische Lieder". Und so berauschten wir uns im Born der Poesie, die uns dos wirkliche Leben zu einem phantastischen Reich der Abenteuer machte. Doch da müßte ich Ihnen einen ganzen Roman erzählen, wie allmählich alles gekommen."
„Das lassen Sie nur!" unterbrach ich Sherwood. „Ich kann mir das Weitere schon denken. Sie haben als ein Schurke gehandelt!"
„Doch nicht, Herr Oberst," sagte Sherwood. „Ich habe zwar dem Himmel zu danken, daß er mir das süßeste und unverhoffteste Glück bescheerte, aber ich habe keine Ursache irgend einer R.ue, denn meine Absichten waren und sind noch die ehrenhaftesten.
„Hören Sie also weiter. Das Wanderliche war, daß meine Leidenschaft für Nadjeschda von der älteren Schwester gleichsam protegiert wurde, seit ich einmal ihre Partie genommen. Dies hing so zusammen: Um Tatiana hatte sich vor Jahresfrist ein junger, reicher Kavalier beworben, der als entfernter Verwandter auf dem Gute zu Besuch war. Ich darf seinen Namen aus gewissen Gründen nicht nennen, er ist heute noch Artillerieoffizier in Chaikow. Um sich Tatiana zu nähern und eine Vertraute zu gewinnen, hatte er anfangs der Gouvernante den Hof gemacht. Diese, eine intrigante Person, die Carriöre machen wollte, faßte selbst eine tolle Leidenschaft zu dem vornehmen Herrn und bezog alle seine Aufmerksamkeiten auf sich.
„Als er schließlich doch um Tatiana warb und ihr Jawort errang, wurde sie in blinder Wut zur Verräterin und zwar in der politischen Gesinnung des Kavaliers. Sie hatte aus seiner Korrespondenz erfahren, daß er ein Revolutionär und einer geheimen Gesellschaft angehörte, die angeblich den Umsturz des Trones und die Vernichtung des Haus s Romanow bezweckte. Kaum hatte sie diesen Verdacht dem alten Uschakoff beigebracht, so kam es zu stürmischen Auftritten. Schließlich stellte er dem Leutnant das Ultimatum, entweder seinen Abschied zu nehmen und in das Ausland zu gehen oder seiner Tochter Tatiana zu entsagen. Und da Jener keine Entscheidung fand, vielleicht weil er durch gewisse Eide gebund n war, so begann Tatiana an seiner Zuneigung zu zweifeln und gab ihm selbst seinen Abschied. Der Leutnant reiste ab und gleichzeitig wurde die Gouvernante entlassen. So hatte der Parteigeist ein hoffnungsvolles Liebesglück zerstört. Tatiana mochte seitdem ihren Schritt hundertmal bereut haben, denn sie liebte ihn immer noch leidenschafilich, und in der Unmöglichkeit, ihn wieder an sich zu ziehen, welkte sie in stillem Gram dahin. Nadjeschda, die Jüngere, verstand von ollen jenen Zerwürfnissen nichts und schalt oft lachend ihre Schwester eine Törin, sich deshalb das Herz so schwer zu machen. Damals verteidigte ich Tatiana mit Wärme, und von dieser Stunde an wurde sie meine beste Freundin. Sie schürte und protegirte meine aufkeimende Neigung für Nadjeschda mit einem Eifer, ja mit einer List und Verschlagenheit, als läge ihr ganz besonders daran, auch ihre unerfahrene Schwester in das Netz der Leidenschaft verstrickt zu scheu, damit sie nichts mehr vor ihr voraus habe. Wer kennt die Jrrgäuge eines Mädchenherzens?
„Da war es eines Tages, als eine Menge gemischter Gesellschaft aus der Umgegend anlangte und Miene machte, tagelang zu bleiben, Gutsbesitzer mit ihren Frauen, Beamte und Militärs nebst ihrer Dienerschaft. Zum Glück war der General Uschakoff auf einige Zeit verreist, und so konnten wir die Ehre ablehnen. Gleichwohl vergingen peinliche Siunden. Man schoß nach der Scheibe, man schmauste und trank, tanzte und sang. Sie kennen ja solche Heimsuchungen. Unter anderem wurde auch eiu Porträt von Hand zu Hand gegeben, das eines blonden, widerlichen Hyänengefichts mit eingedrückter Nase und schiefgeschlitzten Augen, der richtige Typus eines Baschkiren voll Wildheit und Energie. Das Porträt stellte einen gewissen Wassili Davidoff dar, und ich hörte die Anspülung, daß ihm Nadjeschda bereits zugesogt sei. Er würde d m- nächst selbst kommen, und seine Verwandten baten im Voraus um gute Aufnahme. Mir war das Alles eiy Gräuel und noch unausstehlicher dir Harm
losigkeit, womit Nadjeschda alles das aufnahm. Endlich gegen Abend wurden wir die Heuschrecken wieder loS.
„Da begehrte Tatiania, ich möchte sie noch ein Stündchen auf dem Waffe» fahren zur Einsiedelei auf der Paulsinsel. Auch Nadjeschda, die erst nicht wollte, mußte mitfahren. ES war ein schöner, warmer Sommerabend, wie nur Rußland sie kennt. Die Libellen flogen und die Mücken tanzten im roten Licht, und in den Wäldern sangen die Drosseln. Wir hatten allerhand zu plaudern über die unwillkommenen Gäste, und die Schwestern flochten sich Kränze aus den gelben Knospen der Wasserrosen.
„Nach einer halben Stunde fuhr ich endlich direkt nach der Paulsinsel hinüber. Wir stiegen aus, und ich schritt mit Nadjeschda zu dem Häuschen aus Birkenrinde, das auf dem Hügel stand. Plötzlich hören wir hinter uns lauten Ruderschlag und wenden uns um. Tatiana war wieder in das Boot gesprungen, sie habe vergessen, Shawls und Kapuzen mitzunehmen. Damit fuhr sie lachend davon. Wir waren allein, Nadjeschda und ich allein, zum erstenmal seit langen Tagen.
„War es nun ein Zufall oder eine Spitzbüberei Tatiana'S, Nadjeschda'S Uebermut schien mit einem Male verschwunden, sie wurde plötzlich ernst und befangen wie niemals zuvor.
„Stellen Sie sich die Situation vor. Zuerst scherzte ich ob des Eifers Tatiana'S, dann begann ich aus meiner Jugendzeit zu erzählen, auch von dem schweren Unglück, das meine Eltern betroffen und unser Familienglück in Elend verwandelt hatte. Nadjeschda hörte mir teilnahmsvoll zu, und ich sah eine Trän« in ihren Augen schimmern. Auch sie erzählte dann einzelnes aus ihrer Jugendzeit und besonders von ihrer geliebten Mutter. Die Stunden vergingen, reine heilige Stundcn brüderlichen und schwesterlichen Vertrauens. Tatiana kam nicht wieder, und wir hatten ihrer bereits völlig vergessen. Plötzlich hörten wir das Glockenspiel auf der Schloßkapelle, ein Zeichen, daß es Mitternacht. Jetzt wurde Nadjeschda unruhig und geriet in äußerste Beängstigung um ihre Schwester, der vielleicht ein Unglück widerfahren, denn ihre Absicht durchschaute sie nicht.
„Rasch entschlossen warf ich mich jetzt ins Wasser, um einen Kahn zu holen. Ein paarmal drohten mich dis Wasserpflanzen hinabzuziehen und ich mußte alle Kraft aufbieten, um lebend davonzukommen. Endlich stieg ich am Ufer empor. Da saß Tatiana im Dunkel auf einer Bank und trat mir entgegen.
„Nun, Sie umgekehrter Leander, wie stehts mit Ihrer H;ro?"
„Ich antwortete nicht. „Ich glaube wirklich, Sie sind auf der Flucht vor Ihrem Glück," sagte sie. „Ich meinte cs Ihnen recht gemacht zu haben, und Nadjeschea hat ihr Geständnis erwartet. Schämen Sie sich!"
„Ich gab ihr auch jetzt keine Antwort, sondern eilte zum Schloß, um den alten Kosaken Kuzmin mit einer Gondel zur Insel zu schicken und Nadjeschda zu holen, ihr Fahrzeug müsse sich losgerissen haben.
„Jubeln freilich hätte ich können, daß Nadjeschda eine Eiklärung erwartet, aber was sollte dann aus uns werden? Mein Entschluß war gefaßt, meine Stelle aufzugebcn und abzureisen, sobald der General zurückgekehrt. Die Wirkung des unfreiwilligen Bades hielt mich übrigens einige Tage krank auf meinem Zimmer — sehr nach meinem Wunsch. Als ich soweit genesen, um reisen zu können, beschloß ich, nicht länger zu warten, packt« meine Sache» zusammen und bestellte mir durch Kuzmin eins Telega.
„Aber ich war kaum die Treppe hinab, als mir abermals Tatiana ent- gegentrat. „Wohin wollen Sie, Sherwood? Ich weiß, Sie lieben meine Schwester, und ich habe es begünstigt. Ich will nicht, daß Nadja so unglücklich werde wie ich. Gehen Sie davon, so wird Vater sie mit dem Davidoff vermählen. Das ist ausgemacht. Was Sie sonst sagen können, weiß ich alles. — Wir sind reich genug, um frei wählen zu können. Vor dem Vater nehme ich alles auf mich. Sobald er zurückkommt, reden wir mit ihm. Er ist herzensgut und Nadja ist sein Liebling. Können Sie sie opfern wollen? Unmöglich! Wenn Sie ein Mann sind von Herz und Charakter, so handeln Sie al» ein Mann!"
„Von dieser Stunde an war alles anders. Ich will Ihnen nicht sagen, wie ich Nadjeschda wiedersah — in derselben Birkcnhütte, wo ich sie damals verlassen. Worte wurden nicht gewechselt. Daß ich blieb, war meine Eiklärung, und Nadja blühte auf wie eine Rose. Die Lektionen waren schon längst aufgegeben. Wir ritten wieder über Felder und Haiden, besuchten Dörfer und Kirchen, und Nadjeschda beschenkte die Muschiks mit vollen Händen. Abends ruderten wir auf den blauen Wassern und blieben zusammen manche Sommernacht, wo die Sonne nicht unterging.
„Damals ist Nadjeschda meine Braut geworden ohne Erklärung — die Lippen sprachen von selber. Die Rückkunft des Vaters verzögert« sich seitdem noch eine Woche, und so lebten wir ungestört unserem Glück. ES waren goldene, unvergeßlich« Tage, die einzig seligen meine» armen LebenS; keine Menschensprache, keine Dichterzung« würde sie schildern können. (Fortsetzung folgt.)