Zweites

Zweites

Blatt.

Der «nztäler.

^ 1S2,

Neuenbürg, Freitag den 3. Dezember 1909.

67. Jahrgang.

RunSschau.

Berlin, 1. Dez. Sieben Protestversamm­lungen von Frauen und Mädchen, die gestern abend hier stattfanden, nahmen Stellung zu der Frage:Warum haben die erwerbstätigen Frauen und Mädchen kein Wahlrecht zu den Gewerbe- und Kaufmannsgerichten?" In allen Versammlungen wurde eine gleichlautende Entschließung angenommen, in der gegen die bestehenden Gesetzesbestimmungen Einspruch erhoben wird.

Mainz, 27. Nov. Bei der letzten General­versammlung des Mainzer Männer-Gesang­vereins machte der Vereinspräsident die Aufsehen erregende Mitteilung, daß die vom Verein für 1910 bereits beschlossene Sängerreise nach Frankreich auf­gegeben werden müsse, da dem Verein in Paris, wohin er sich zuerst wenden wollte, ein größerer Konzertsaal verweigert wurde. Dem Verein wurde auch vom deutschen Botschafter in Paris dringend von einem Besuch der Stadt abgeraten, da nach seiner Ansicht die Zeit zu einer derartigen Reise deutscher Sänger durchaus ungeeignet sei und sehr zu befürchten stehe, daß den Deutschen nicht ein einziger größerer Konzertsaal in Paris zur Verfüg­ung gestellt werde. Als Gegenstück könnte man an­führen, daß in der Wiesbadener Festspielwoche, am 18. Mai ds. Js., ein französischer Männergesang­verein im Wiesbadener Kurhaus vor dem Kaiser gesungen hat.

Mannheim, 1. Dez. Ein Zusammenstoß ereignete sich Mittwoch vormittag auf dem Stroh­markt zwischen der Elektrischen und einem Auto­mobil. Das Auto kam in dem Augenblick die Straße herab, als die Elektrische in der Richtung Pfälzer Hof fuhr und in demselben Momente eine Elektrische der gleichen Linie von der entgegen­gesetzten Richtung herankam. Der Chauffeur, die Gefahr bemerkend, wollte in schräger Richtung zwischen den elektrischen Wagen hindurchfahren. Es war zu spät, das Auto wurde zwischen beide Straßen­bahnwagen förmlich eingekeilt und nahezu ganz zer­drückt. Wunderbarer Weise kam der Chauffeur heil davon, es saß niemand im Kraftwagen. Durch diesen Unsall wurde der elektrische Straßenbahn­verkehr längere Zeit unterbrochen.

Neustadt a. d. H., 1. Dezember. Nach einer Meldung desPfälzer Couriers" ist der durch seinen Weinprozeß bekannt gewordene ehemalige Abgeord­nete Otto Sartorius bei der gestern vorgenom­menen Gemeinderatswahl in Musbach mit großer Mehrheit zum Gemeinderat gewählt worden.

Dresden, 29. Nov. Infolge großer Schnee­massen stürzte die Brücke über den Flöha-Fluß bei Wünschendorf ein. Sechs Fußgänger sind dabei in die Tiefe gestürzt. Drei wurden schwer verletzt.

Von der bayrischen Grenze, 30. Nov. Vom köstlichsten Edelfisch der Donau, vom Rotfisch oder Hucher haben zwei Fischer in Dillingen innerhalb zwei Tagen 7 Stück mit der Flugangel gefangen. Die Fische wiegen 1022 Pfund.

Den üblichen politischen Wochenwitz hat Frank­reich wieder geliefert; als die Galavorstellung in der Großen Pariser Oper zu Ehren des Königs Manuel von Portugal vor sich gehen sollte, erklärten die Elektrotechniker, sie täten nicht mit, wenn man ihnen den Gehalt nicht erhöhe. Flugs wurde aus der nächsten Kneipe der bekannte Agitator Pataud herbeigeholt, der den erschrockenen Direktoren der Oper die Friedensbedingungen diktierte und, da die Geschichte in Frankreich passiert ist, wurden die Bedingungen auch eiligst unterschrieben und so an­gesichts des Souverains eines benachbarten und befreundeten Staates die Autorität einer Behörde, wie sie die Leitung der Grande Opera nun einmal ist, in aller Form preisgegeben.

Paris, 30. Nov. Drei vermummte Räuber drangen gestern abend in einen Postwagen auf dem Nordbahnhofe und entwendeten ein Colli mit Wert­sachen. Der genaue Wert des Inhalts ist noch nicht bekannt, dürfte sich jedoch auf über 300000 Franks beziffern. Die Polizei verhaftete eine Bande internationaler Diebe, welche bei verschiedenen Ju­welieren in Europa bedeutende Diebstähle aus­geführt haben. In ihrer Wohnung wurden Schmuck­sachen im Werte von 75000 Franks aufgefunden.

London, 29. Nov. Die deutsche BarkSelene", von Tocopilla nach Hamburg unterwegs, traf in Falmouth ein, um die Leiche des Kapitäns zu landen. DieSelene" hatte eine sehr ungünstige Fahrt. Aus der Höhe von Ecuador starben der Kapitän und 11 Seeleute am Fieber. Es wurde ein neuer Kapitän und eine neue Mannschaft aus­genommen. Auf der Heimreise erkrankte der ueue Kapitän und starb auch.

Saint Paul (Minnesota), 1. Dezbr. Infolge des Ausstandes der Weichensteller auf der North­western Railroad sind viele Güterzüge ausgefallen. Auch die Personenzüge verkehren unregelmäßig. Auf der Duluth - Lake - Superior - Eisenbahn liegen alle Güterzüge still. Sollte der Ausstand andauern, so würden 10000 Mann ausgesperrt werden. Eisen­bahnbeamte versehen auf den Bahnhöfen in St. Paul Weichenstellerdienste.

Brest, 29. Novbr. Ein aus der Vorstadt St. Pierre Quilbignon zurückkehrender, mit 20 Personen besetzter elektrischer Straßenbahnwagen ent­gleiste, als er einen starken Abhang herunterfuhr, in einer Kurve. Die Bremse funktionierte plötzlich nicht mehr und der Wagen sauste ungehemmt herab. Er lief noch einige Meter neben dem Geleise, über­schlug sich dann und begrub alle Insassen unter sich. Sämtliche Verunglückte sind mehr oder weniger schwer verletzt, zwei Frauen lebensgefährlich.

Mailand, 29. Nov. In einem hiesigen Vorort wurde durch eine Feuersbrunst ein großes Arbeiter­wohnhaus vollständig eingeäschert. Ein Feuer­wehrmann stürzte bei den Rettungsarbeiten von einem Balkon ab und war sofort tot. 45 Familien sind obdachlos, der Schaden ist bedeutend.

Vermischtes.

Von der Vielschreiberei bei den Behörden erzählen dieMünch. N. N." folgendes Geschicht- chen: Ein kniffliger Revisor in München hatte im Inventarverzeichnis von 1907 ein Paket Nägel ent­deckt, das im Inventarverzeichnis von 1908 fehlte. Sofort ging ein Schreiben hinaus:Es ist anher zu berichten, warum im Inventarverzeichnis von 1908 die sub. Nr. 1117 des Jahres 1907 im Ver­zeichnis aufgeführtenNägel fehlen?" Die Antwort lautet:Von k. H. zurück:Sie sind inzwischen vernagelt worden."

Ein Chinesenviertel in Berlin. Die Reichs­hauptstadt wird immer internationaler. Seit kurzem besitzt sie auch ein Chinesenviertel in der Umgebung des Schlesischen Bahnhofs. In einem Hause der Breslauerstraße wohnen nicht weniger als 9 Söhne des himmlischen Reiches, aber auch in den anderen Straßen, die am Bahnhof liegen, sind sie in größerer Zahl zu finden. Sie treiben Hausierhandel mit Erzeugnissen ihrer Heimat, die sie teils mitgebracht haben, teils hier aus heimischen Rohstoffen selbst anfertigen. Sie besuchen Läden und Gastwirtschaften, gehen auch in die Häuser, um dort ihre Waren ab­zusetzen. Diese bestehen in Marmorsachen aller Art, in Schnitzereien, Stickereien und Holzsachen, die mit Malereien in der bekannten chinesischen Manier bedeckt sind. Sie tragen durchweg europäische Klei­dung uud haben bis auf einen, der ihr Führer und Oberhaupt ist, den Zopf abgelegt. Ihr Essen be­reiten sie sich selbst und holen Fleisch, Gemüse und andere Naturalien aus den Läden und Kellern der Gegend selbst ein. Der deutschen Sprache sind sie ziemlich mächtig.

Der Krillantring.

Kriminalerzählung von Max Arendt.

1) - (Nachdruck verbotene

Der Novembersturm heulte durch die Straßen. Hinter den kleinen Fenstern des Hinterhauses Lange­straße 107 saß eine hübsche junge Frau über eine Näharbeit gebeugt. Ab und zu sah sie hinüber zur Uhr.

Schon halb Neun," murmelte sie,und Paul ist immer noch nicht zurück."

Er war in so verzweifelter Stimmung, als er ging," murmelte sie wieder vor sich hin.

Dann aber setzte sie hinzu, wie um ihre trüben Gedanken zn verjagen:Nein, dazu hat er mich viel zu lieb, das tut er nicht, dazu hat er mich viel zu lieb. Mich und sein Kindl

Und bei diesem Gedanken zog ein freudiges Lächeln über ihre Züge.

Die blasse junge Frau hatte einst bessere Tage gesehen im trauten Elternhaus. Damals hätte sie wohl schwerlich daran gedacht, ihre Tage in einem einsamen Dachstübchen zu verbringen. Und doch war die Sache so einfach gekommen ohne ihre Schuld; es sei denn, daß sie ihn geheiratet hatte, ihn, den sie über alles liebte, wie er sie.

Er war Kaufmann und hatte ein hübsches, flott­gehendes Geschäft gehabt. Ein paar Jahre lebten sie glücklich und sorglos. Da brach das Unglück über sie herein. Ihr Vater hatte sich in Speku­lationen eingelassen und dabei nicht nur sein^Ver-

mögen, sondern auch noch einen Teil des Vermögens ihres Mannes verloren. Die Folge war, daß Paul Berger Bankrott machte. Damit begann die Not; für ihn war es in der Tat ein Unglück gewesen; denn als alle Gläubiger befriedigl waren, blieben ihm nur noch ein paar hundert Mark und mit dieser Summe hoffte er sich eine neue Existenz zu gründen.

Ein Onkel, der in sehr geordneten Verhältnissen in Berlin lebte und der allgemein als reich galt, sollte ihm dabei helfen.

Die Freunde, auf deren Hilfe er gerechnet hatte, waren tot oder sie hielten ihn mit leeren Versprech­ungen hin.

Der Onkel aber, der ebenso reich wie geizig war. warf ihm die Tür vor der Nase zu, mit dem Be­merken, er möge sich nie wieder bei ihm sehen lassen, da er seinem liederlichen Herrn Neffen nicht seine sauer verdienten Spargroschen überliefern wolle.

Das nagte an dem Manne, der sein Letztes her­gegeben hatte, um seinen ehrlichen Namen zu behalten.

Ich bin jung," sagte er.Es wird schon so gehen."

Aber es ging nicht.

Vergeblich bemühte er sich, in dem großen Berlin irgend eine Stellung zu erringen.

Mit den Verhältnissen unbekannt und auch zu bescheiden, wollte es ihm nirgends gelingen.

So war der letzte Rest ihres Geldes verzehrt die Sachen hatten sie zum größten Teil verkauft und was noch in der kleinen Wohnung stand, hatten

sie in äußerster Not einem Manne verpfändet, der täglich in den Zeitungen ankündigte, daß er unter kulanten Bedingungen gegen Sicherheit Geld verleihe.

Das alles ging der blassen Frau durch den Kopf, als sie jetzt in den Hintergrund des Zimmers an das Bett des Kindes trat.

Zärtlich beugte sie sich über den schlummernden Knaben und küßte ihm die Stirn.

Armes Kind," flüsterte sie, welchen Entbehrungen gehst du noch entgegen, welche Stürme wird dir das Leben noch bringen!"

Tränen traten in ihre Augen.

Wie soll es bloß noch enden! Diese ewige Not, kein Brot im Hause"

Sie unterbrach sich, denn auf der knarrenden Treppe wurden Schritte vernehmbar und gleich darauf trat der sehnsüchtig Erwartete in das Zimmer.

Er fand nicht Zeit, seinen nassen Ueberrock ab­zulegen, denn die junge Frau war ihm entgegen gegangen und hatte ihn stürmisch umarmt.

Aber mit einem Aufschrei ließ sie die Arme wieder sinken.

Um Gotteswillen, Paul, was ist geschehen, du blutest ja!"

Sie nahm seinen Kopf und wandte ihn gegen das trübe Licht.

Ueber die linke Wange zogen sich vier lange Schrammen, als ob ihn jemand gekratzt hätte.

Der Mann küßte sein junges Weib zärtlich und während er ihr liebkosend über die Haare fuhr, eut- gegnete er: