Vit vivvvirsv«!
Ein Wesenszug unserer Zeit, der von Jahr zu Jahr schärfer hervortritt und im Vergleiche zu einer etwa 30 Jahre zurückliegenden Zeit dem Antlitz der heutigen Welt geradezu charakteristische Züge verleiht, ist die in allen Volksklassen von oben bis unten lebendige Genußsucht, der Hang zum Wohlleben, das Streben, mehr zu scheinen, als man ist. Man kann Hinblicken, wohin man will, sei es in die höher gestellten Klassen — auf die Bülows Finger neulich wies! — in den Mittelstand oder die Arbeiterschaft — überall wird man dasselbe Symptom wahrnehmen, hier stärker, dort gemildert auftretend, aber doch überall mit wenigen Ausnahmen vorhanden. Der böse Geist unserer Zeit! Ein Grundübel I Das Sprichwort, das das „Sich nach der Decke strecken" als volksphilosophischen Grundsatz verkündet, scheint heute seiner Bedeutung gänzlich bar zu sein. Anstatt sich seiner zu erinnern, hat man sich gewöhnt, über seine Verhältnisse hinauszuleben. Ein Schrei nach „panöm et eireevses", „Brot und Spiele!" wie im alten Rom, durchzittert heute wieder die Menge!
Veruntreuungen und Unterschlagungen sind zu jeder Zeit vorgekommen; aber man blicke zurück und frage sich einmal, ob sie je eine solche Höhe erreichten wie diejenigen, die im letzten Jahre zu verzeichnen gewesen sind. Es ist noch kein Vierteljahr her, da gaben zwei eklatante Unterschlagungen einer Welt den Gesprächsstoff: In zwei unserer angesehensten Banken wurde um die Mitte des August die Veruntreuung ungeheurer Summen aufgedeckt, in dem einen Falle belief sich der Betrag auf über eine halbe Million, in dem andern auf 250000 Mark! Man hat sich allmählich daran gewöhnt, Defraudationen, die nur die „Kleinigkeit" von einigen 25- bis 50 000 Mark erreichen, so zu sagen kaum noch als der Rede wert zu erachten. Zeitungen, die auf Sensationen zugeschnitten sind, pflegen erst Unterschlagungen von einigen 100 000 Mark besonders zu behandeln, Kleinigkeiten verschwinden unter den „Vermischten Nachrichten". Der moderne Zug ins Große zeigt sich auch darin. — Nun haben wir wieder einen neuen Fall! Bei einer Berliner Aktiengesellschaft sind Unterschlagungen in kolossaler Höhe festgestellt worden. Man spricht von etwa 400000 Mark. Viermalhunderttausend Mark! Man spricht von Spielverlusten, von einer Geliebten, aber man bedenke — Viermalhunderttausend Mark! Das ist eine Summe, die sich mancher kleine Mann gar nicht vorstellen kann, oder bei deren Nennung er jedenfalls gar nicht versteht, wohin all dies viele Geld gewandert ist! Wie es möglich sei, solche Summen sich zu verschaffen — die Frage interessiert uns hier nicht; für uns kommt als Wesentliches in Betracht, daß sie vertan, vergeudet, verpraßt worden sind.
Aber was hier mit Hilfe verbrecherischer Mittel ermöglicht wird, das sehen wir in anderen Kreisen unter Ausnutzung aller vorhandenen Möglichkeiten, unter Verbrauch fast des ganzen Verdienstes ebenfalls: die Sucht zu genießen, Wohlleben um jeden Preis zu erringen, es andern. Bessergestellten, gleich zu tun, sie womöglich sogar zu überbieten! In Kreisen vernünftiger Leute, wird oftmals lebhafte Klage geführt darüber, daß sie gezwungen seien, um auf der Höhe zu bleiben, gesellschaftlich „mittun" zu können, sich in Unkosten für gesellige Abende, für Abfütterungen stürzen zu müssen. Gewiß, das wird von vielen beseufzt, aber wenige haben nicht nur keinen Mut, sich diesem Uebel zu entziehen, die meisten leben vielmehr gedankenlos in den Tag hinein, lassen Gott einen guten Mann sein und wenden das letzte bißchen dran, um ihr sogenanntes Ansehen zu wahren, um gesellschaftlich als „au kait" zu gelten. Und wenn bei Müllers das Abendessen fein war, da muß es bei Schutzes pikfein sein und bei Hinz oder Kunz hochfein! Von der ganzen Gesellschaft aber hat der eine ebenso wenig wie der andere etwas Besonderes in die Milch zu brocken! Es muß eben „mitgemacht" werden! Damit entschuldigt man sich gewissermaßen und sündigt gegen sich und die Zukunft seiner Familie gedankenlos weiter! Die Satire unserer Witzblätter, daß die Gnädige sich heutzutage bald vor dem Aufputz des Mädchens verstecken muß und dieses die Abtragung abgelegter Kleider mit einem spöttischen Achselzucken ablehnt das trifft in Hunderten von Fällen heute die Wahrheit! Ueberall der Hang zur Großspurigkeit. Kleine Geschenke erhalten nicht mehr, sondern lassen die Freundschaft erkalten. Wer sich heutzutage etwa noch getraut, bei dieser oder jener Gelegenheit mit einem Fünfer Trinkgeld brillieren zu wollen, der muß sich darauf gefaßt machen, sagen wir verständnislos angesehen zu werden. Kaum daß man ein „Dankschön" hört, spendiert man ein Zehn-
psennigstück. Alles das sind Zeichen der Zeit, die unter dieselbe Rubrik gehören: Grundübel I Eins folgt aus dem andern. — Auch in der Arbeiterschaft erblicken wir dasselbe Symptom! Man doziert so oft von arbeiterfreundlicher Seite, der Arbeiter wolle bei seiner saueren Plage gerade so gut wie der Besitzende seinen Genuß haben. Soll er auch. Aber schließlich muß sich jeder nach seinem Vermögen amüsieren. Die vielen Versicherungen aber, in denen sich heutzutage der Arbeiter — wir meinen damit Angestellte im weitesten Sinne des Wortes — befindet, haben ihn augenscheinlich mehr und mehr des Bedürfnisses, zu sparen, entwöhnt. Wir haben da Kranken-, Sterbe- und Begräbniskassen, Lebens- und Feuerversicherungen, Militär- und Aussteuer-, Jn- validitäts-, Unfall- und Altersversicherungen und zu alledem plant man neuerdings, und zwar sicherlich mit Recht, noch eine Versicherung der Privatangestellten und eine gegen Arbeitslosigkeit! Also man glaubt gegen alle Eventualitäten, gegen alle Zufälligkeiten des Lebens geschützt zu sein, glaubt der Verpflichtung zur Sparsamkeit überhoben zu sein, und ahmt statt dessen einer höher gestellten gesellschaftlichen Klasse nach, die es wieder über ihre Verhältnisse hinaus treibt.
Wie dem Uebel zu steuern ist — das ist schwer zu sagen! Wenn nicht der Einzelne die sittliche Kraft in sich fühlt, sich loszureißen von den törichten Gewohnheiten unserer Zeit, dann wird man nur sehr, sehr langsam in der Gesundung vorwärts schreiten. Aber wenn auch nur eine Anzahl Einzelner durch die drohende Mahnung des „panem ot eiresimss" der altrömischen Geschichte, die ihm heute wieder lebendig werden muß, zur Umkehr bewogen wird — so ist doch schon mancherlei gewonnen. Im übrigen scheint uns ein segensreicher praktischer Weg beschritten mit der Einrichtung der Schul-Sparkassen, die vielerorts zu außerordentlichem Erfolge geführt haben. Ueberhaupt scheint uns die Schule gerade in dieser Beziehung berufen, hier helfend und fördernd durch Lehre und Beispiel einzugreifen. In der Jugend liegt die Zukunft. Jung gewohnt, sagt man, alt getan. Darin liegt ein großer Teil Wahrheit. Akademische Raisonnements werden nur immer wenige Ohren finden und nur wenige Herzen. Darüber muß man sich — leider — klar sein. Aber die oberen Kreise unserer Gesellschaft sollten sich ebenfalls wieder als Lehrer und Vorbilder des Volkes empfinden. Wenn dann der Gesundungsprozeß von unten und oben zu gleicher Zeit erfolgt, dann wäre eine allmähliche und vielleicht auch eine radikale Besserung wohl wahrscheinlich! (D. W.)
Seine Maj. der König hat dem General der Jnfant. z. D. ä In suito des Füsilier-Regts. Nr. 122 Pergler von Perglas das Großkreuz des Militärverdienstordens verliehen.
Stuttgart, 1. Dez. Wie der „Schw. Merk." hört, werden der König und die Königin morgen vormittag im Automobil von Bebenhausen auf einige Stunden hier eintreffen, um dem um 11 Uhr in der Eberhardskirche aus Anlaß der Feier des 60jährigen Regierungsjubiläums des Kaisers von Oesterreich stattfindenden Festgottesdienst anzuwohnen. Am Freitag wird dann das K. Hoflager wieder dauernd nach Stuttgart verlegt.
Stuttgart, 28. Novbr. In einer Rede, die der Ministerpräsident v. Weizsäcker aus Anlaß der Eröffnung der Eisenbahnlinie Schorndorf- Rudersberg am 27. d. M. gehalten hat, wies er daraus hin, daß er seine letzte Dienstreise nach Berlin gemacht habe in einer Angelegenheit des deutschen Reichs aus Anlaß des Zusammentritts des Bundesratsausschusses für die auswärtigen Angelegenheiten. „Wenn auch", fuhr er fort, „da und dort am Horizont Gewölk sich zeigt, so wollen wir uns darüber nicht beunruhigen, denn die Sicherheit einer Nation beruht in der Kraft und Tüchtigkeit ihrer Bürger, und damit ist es in Deutschland gut bestellt. Wenn in der letzten Zeit eine gewisse Sorge und Bewegung der Gemüter sich gezeigt habe, so werde das Endergebnis sein, daß sich das deutsche Volk erst recht zusammenschließe, und das werde man auch im Ausland fühlen, daß das Deutschland von heute, wenn es gelte, ebenso einig und ebenso kräftig dastehe, wie in dem heroischen Zeitalter der Gründung des Deutschen Reiches. Darum sehen wir der Zukunft mit ruhiger und fester Zuversicht entgegen." Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen wies der Ministerpräsident auch auf den Fortschritt hin, den Deutschland in den letzten Tagen mit dem Abschluß des Vertrages über die Güterwagengemeinschaft gemacht hat. Man wisse, sagte der Ministerpräsident,
daß für einen engeren Zusammenschluß der deutschen Eisenbahn Se. Majestät der König ganz besonders eingesetzt habe und einsetze; um so mehr müsse man diesen ersten Schritt begrüßen. Er sei nicht ohne Opfer gemacht worden, aber allseitig habe man bei diesen Verhandlungen nicht die trennenden Momente, sondern das nationale Bedürfnis ins Auge gefaßt. Das gelte insbesondere auch von der maßgebendsten Instanz, dem preußischen Eisenbahnminister, und man dürfe sicher sein, daß derselbe wie bei den bisherigen Verhandlungen so auch bei der Ausführung der getroffenen Vereinbarung und der Weiterbildung des Geschaffenen vor allem die nationale Seite im Auge haben werde.
Im Monat Oktober 1908 betrugen die Einnahmen der Württ. Eisenbahnen insgesamt 7 238 000 Mk. gegenüber dem Vorjahr 262 675 Mk. weniger. Der Ausfall rührt vom Güterverkehr her, der mit 1161 725 Tonnen um 112139 Tonnen hinter dem Güterverkehr vom Oktober 1907 zurückbleibt und eine Mindereinnahme von 415 520 Mk. verursacht hat. Im Personenverkehr ist die Zahl der beförderten Personen auf 5161997 (im Vorj. 4 713 450), die Einnahmen auf 2 253 000 Mk. (im Vorj. 2114155) gestiegen. Vom 1. April bis 31. Oktober 1908 betragen die Einnahmen insgesamt 45 630 000 gegen 461666 100 Mk. im gleichen Zeitraum von 1907.
Vom Zentralkomitee für die Zeppelinspende ist die bereits angekündigte Summe von 100000 ^ bei der Allgemeinen Rentenanstalt in Stuttgart eingetroffen.
Ulm, 30. Nov. Die gestern hier versammelten Buchdruckereibesitzer des Bezirks Ulm vom Kreis IV des Deutschen Buchdruckerverbands beschlossen zur beabsichtigten Einführung einer Inseraten st euer folgende Resolution: In Anbetracht der jetzt schon bestehenden großen öffentlichen Leistungen der deutschen Zeitungen und angesichts der zu befürchtenden wirtschaftlichen Schädigung einzelner Berufsklassen, nimmt der Bezirksverein entschieden Stellung gegen die Anzeigensteuer. Der Verein sieht in ihr eine Gefahr für die gesamte Geschäftswelt. Diese Steuer ist eine Erdrosselungssteuer, sie ist eine Doppelsteuer, kulturfeindlich und verwerflich, weil sie den obersten Grundsatz verläßt, der, wie im kleinen, so auch im großen heißen muß: „Gleiches Recht für alle!"
Reutlingen, 30. Nov. Am Samstag mittag ist hier mitten in der Stadt ein angeschossener Hirsch erlegt worden. Das Tier ist offenbar bei den Hofjagden im Schönbuch angeschossen worden, hat sich dann in die hiesige Gegend geflüchtet und bis in die Tübinger Vorstadt hinein begeben. Von dort wurde es gehetzt, bis es in der Eberhardstraße zusammenbrach.
Waiblingen, 30. Nov. Einem verhängnisvollen Experiment ist in Steinreinach ein 27jähriger lediger Mann zum Opfer gefallen. Derselbe klagte schon längere Zeit über starken Blutandrang zum Kopf; um nun diesem Uebelstande abzuhelfen, schlug er sich mit dem Beil die linke Hand ab. Am gleichen Abend stach er sich mit einer Schere tief in den Hals. Dieser Stich führte dann den gewünschten Tod herbei.
Laupheim, 1. Dez. Der diesjährige Obstertrag im Oberamt Laupheim ist auf 131500 Mk. gegen 25 650 Mk. im Vorjahr geschätzt worden.
Baiersbronn, 1. Dez. In Mitteltal ist gestern ein Bienenstand mit 28 Bienenkästen von bübischer Hand angezündet worden. Die Bienenkästen, die bevölkert waren, sind nebst dem ganzen Stand verbrannt.
Stuttgart. lLandesProduktenbörfe.I (Bericht vom 30. Nov.) Niederschläge, Nebel und Sonnenschein lösten in der abgelaufenen Woche einander ab. Die Temperatur ist gesunken und die von dieser Stelle aus mehrmals gemeldeten weniger günstigen Beurteilungen des Saatenstandes finden nur in'den amtlichen Kundgebungen der maßgebenden deutschen Behörden volle Bestätigung. Dagegen hat sich der Wasserstand gehoben und die Rheinfrachten sind billiger geworden. Die sichtbaren Getreidebestände in Nord- amerika haben sich vermehrt, die Aussichten aus die neue argentinische Ernte etwas gebessert und die osteuropäischen Produktionsländer melden gleichfalls guten Stand ihrer Herbstsaaten; ferner verzeichnet die Versorgungsstatistik des Weltbedarfs günstigere Zahlen. Unter diesen Umständen verkehrten die maßgebenden Plätzen des Weltmarkts in ruhiger Tendenz mit etwas billigeren Preisen. Dagegen verzeichnen die ^süddeutschen Märkte kleinere Zufuhren, raschen Verkauf, sowie etwas höhere Preise. Die heutige gutbesuchte Börse verkehrte in abwartender Haltung. Umsätze fanden in fast allen Getreidearten statt. — Mehlpreise per 100 Kilogramm inkl. Sack: Mehl Nr. 0: 83 Mk. — Pfg. bis 34 Mk. - Pfg., Nr. 1: 32 Mk. - Pfg. bis 33 Mk. - Psg., Nr. 2: 31 Mk. — Pfg. bis 32 Mk. - Pfg., Nr. 3: 30 Mk. - Pfg. bis 31 Mk. — Pfg., Nr. 4: 27 Mk. — Pfg. bis 28 Mk. — Pfg. Kleie 9 Mk. 50 Pfg. bis 10 Mk. — Pfg. (ohne Sack.)