RunSschau.
Die Auslandspolitik gruppierte sich in den letzten Tagen wieder einmal um Attentate. Es waren ihrer gleich zwei, und zwar galten sie dem Schah von Persien und dem Präsidenten der Republik Argentinien. Sie sind beide ergebnislos verlaufen. In beiden Fällen handelt es sich aber auch wieder um politische Motive. Die Verfassungsstreitigkeiten in Persien sind bekannt. Der Schah hat dabei eine nicht gerade vorteilhafte Rolle gespielt, denn er hat jetzt erst dreimal auf den Koran den Eid geleistet, die Verfassung unverbrüchlich zu halten und er hat noch jedesmal den Inhalt dieses Eides rasch vergessen. Der Präsident von Argentinien hat einen Staatsstreich inszeniert, indem er das Parlament nach Hause schickte und sich selbst Vollmachten vindizierte, die in der Verfassung nicht vorgesehen sind.
Die Krisis in der englischen Baumwollindustrie in der Grafschaft Lancaster hat jetzt den Höhepunkt erreicht. Die Fabrikantenvereinigungen in Colne und Nelson kündigten eine allgemeine Aussperrung an, wodurch voraussichtlich 60000 Webstühle zum Stillstand kommen werden. Dagegen steht in dem Konflikt zwischen den Schiffswerften der Nordostküste und ihren Arbeitern nach einer Aeußer- ung des Handelsministers Lord George eine Einigung zu erhoffen.
Berlin, 6. März. Ueber die Generalaussperrung im deutschen Baugewerbe wird am 25. März von den Arbeitgebern Beschluß gefaßt werden. Das geht aus einem vertraulichen Rundschreiben des Arbeitgeberbundes hervor, das in den Besitz des Vorstandes der Maurer gelangt ist.
Frankfurt a. M., 6. März. Die Strafkammer verurteilte den stellenlosen Maler Karl Kelber, der die Ortskrankenkasse durch falsche An- und Abmeldungen um 125 Mark betrogen hatte, wegen Betrugs im Rückfalle zu 1 Jahr 2 Monaten Zuchthaus.
Der Präsident der ersten Karneval-Gesellschaft in Nürnberg, Kaufmann Breuer, wurde, nachdem er noch am Dienstag wegen seiner Verdienste gefeiert und durch Lorbeerkränze ausgezeichnet worden war, am Aschermittwoch wegen Unterschlagung von 7000 Mk., die er als Buchhalter der Beckschen Dachpappenfabrik veruntreut hatte, in Haft genommen.
Neapel, 6. März. Die Eigentümer der hiesigen Bäckereien schlossen gestern ihre Läden, um nicht zu den amtlich festgesetzten Preisen verkaufen zu müssen. Die Regierung beabsichtigt, Militär zum Brotbacken zu kommandieren.
Innsbruck, 5. März. Im Brandnertal hat eine kolossale Staublawine große Waldbestände und viele Gebäude weggerissen. Die ganze Ortschaft Brand war in Staub gehüllt. Viele Fenster wurden eingedrückt.
Ueber die schreckliche Brandkatastrophe bei Cleveland wird über London berichtet: Die Türen der Schulen öffneten sich nach innen und eine Hinter- türe war geschlossen. Dies ist der Hauptgrund der Katastrophe. Darin, daß die Türe verschlossen war und durch Kinder versperrt werden konnte, erblickt man eine grobe Fahrlässigkeit, denn eine sachkundige Arbeit mit der Axt hätte die Türe in wenigen Minuten Einschlägen können. In der Leichenhalle wurden bereits 108 Kinderleichen rekognosziert; die Szenen, die sich dabei abspielten, spotten jeder Beschreibung. In ganz Collingwood gibt es kaum eine Familie, die nicht von der Katastrophe betroffen worden ist. — Ferner wird dem „Lok.-Anz." aus New-Dork berichtet: Das Feuer ist wahrscheinlich durch fahrlässige Brandstiftung spielender Kinder entstanden. Bis jetzt sind 180 Opfer geborgen. Die Eltern sahen ihre Kinder in einem 8 Fuß hohen Knäuel in dem Ausgang verbrennen, sie konnten ihnen die Hände reichen, aber die armen Kleinen nicht herausziehen. Eine Mutter hielt die Hand auf ihrer Tochter Kopf, bis das Kind verschied und die Hand verbrannte.
London, 5. März. Aus Cleveland wird telegraphiert: Bisher sind 152 Kinderleichen geborgen; man glaubt, daß 9 Lehrer und Lehrerinnen umgekommen sind. Der Totenschaurichter Burke schreibt die Katastrophe dem fehlerhaften Bau des alten Schulgebäudes zu. Es war ein dreistöckiges Haus aus Ziegeln, die Gänge waren eng und es hatte nur einen brauchbaren Ausgang. Die abgebrannte Schule war eine Elementarschule und wurde von 360 Kindern beiderlei Geschlechts im Alter von 6 bis 14 Jahren besucht. Das Feuer brach ungefähr um ff»11 Uhr morgens im Souter
rain aus, wo der Zentralheizungsofen wegen der bitteren Kälte überheizt war. Zuerst folgten die Kleinen lachend dem Feuerkommando, das sie für die öfter stattfindende Uebung hielten. Plötzlich hereinbrechender Rauch verursachte jedoch eine große Panik, die die heroischen Bemühungen der Lehrer nicht hemmen konnten. Zwei Lehrerinnen, die sich den Kindern entgegenwarfen, wurden sofort zu Tode gedrückt. Der Knäuel von Kinder auf den Treppen wuchs von Minute zu Minute. Die Flammen griffen so rasend um sich, daß 45 Minuten nach dem Feuerausbruch das Schulgebäude einem Hochofen glich und eine Stunde darnach nichts mehr von ihm übrig war als Schutt und Asche. Gegen 20 Kindern sprangen aus den obersten Fenstern und blieben fast alle tot oder schwer verwundet liegen. Mehrere Zuschauer wurden wahnsinnig und wollten sich in die Flammen stürzen. Ein Kaufmann namens Upton drang bis zum zweiten Stock vor und rettete 18 Kinder, indem er sie aus dem Fenster in die Arme von Arbeitern warf. Als das 19. schwerverwundete Kind in seinen Armen starb, wurde er wahnsinnig und stürzte sich in die Flammen. Viele Retter erlitten schreckliche Brandwunden. Im Innern des Gebäudes müssen sich Szenen abgespielt haben, von denen sich die Phantasie kaum eine Vorstellung machen kann. Die Verzweiflung der Eltern auf der Straße war herzzereißend. Bald nach dem Ausbruch des Feuers stürzten sämtliche Decken ein und man sah die Kinder in das Flammenmeer fallen, ohne ihnen helfen zu können.
Treue.
Novelle von H. Lange.
6) - (Nachdruck verboten.)
Ein Dienstmädchen öffnete die Wagentür. Darauf kam eine Dame in mittleren Jahren auf die Aussteigende zu.
„Der Herr segne Ihren Eingang!" sprach sie mit etwas salbungsvoller Freundlichkeit und küßte das junge Mädchen auf die Stirn. Nachdem der Kutscher abgefertigt worden, betraten die zwei das zu ebener Erde gelegene Wohnzimmer, das sehr einfach ausgestattet war. Kaffeeduft mischte sich mit dem Geruch des Goldlacks und der Reseda, welche auf den Fensterbrettern blühten.
Frau Pastor war während des Sprechens dem jungen Mädchen bei dem Ablegen behilflich gewesen. Sie legte die einzelnen Stücke nicht aus der Hand, ohne sie vorher mit scharfmusternden Blicken zu betrachten. Und als dann Erika vor den Spiegel getreten war, um glättend ein wenig über die in Unordnung geratenen krausen Stirnhaare zu streichen, da drückten ihre heimlich beobachtenden Blicke offenbare Mißbilligung aus. Erikas Erscheinung in dem zwar einfach gearbeiteten, aber tadellos sitzenden dunkelblauen Kleide, das Geschmack und Vornehmheit zugleich verriet, bildete einen zu augenfälligen Kontrast zu ihrer eigenen dürftigen Gestalt in dem dunklen unkleidiamen Kostüm längst vergangener Mode.
Dann saßen sie miteinander am Kaffeetische. Die Unterhaltung gestaltete sich nicht besonders lebhaft; es fehlte den beiden ungleichen Menschen vorderhand an Berührungspunkten.
Als Erika später ihr Zimmer angewiesen wurde, blickte sie mit großen Augen langsam rundum. Dies sollte also ihr neues Heim sein, dies öde, unwirtliche Zimmer, das ihrem Schönheitsbedürfnisse grausam Hohn sprach. Ein grellbuntes Bild — dessen Stoff der biblischen Geschichte entnommen — unterbrach allein die nüchterne Weiße der Wand über dem Sofa mit der unmöglichen Fasson, die in keine Zeitepoche hineinzupassen schien. Die weißen Vorhänge an den Fenstern erhöhten den Eindruck der Nüchternheit und Farblosigkeit. Ein Bett, ein großer Schrank, eine Kommode mit einem geschmacklosen Bukett von künstlichen Blumen und einem Spiegel darüber, vervollständigten die Einrichtung dieses Raumes, der Erika als dauernder Aufenthaltsort vorderhand unerträglich erschien.
Sie trat ans Fenster und blickte durch die regenüberrieselten, kleinen Scheiben. Sie sah auf Stallgebäude und Scheunen und auf einen ländlichen, von allerlei Federvieh bevölkerten Hof hinab. Ihr war so wunderbar zumute: so, als könnte sie es gar nicht selbst sein, die hier stand in dieser fremden Umgebung, oder träumte sie einen seltsamen schweren Traum, aus dem zu erwachen Wonne sein mußte?
Wie war es doch alles so jäh, so unerwartet gekommen I Nach jenem Abende, der sie so grausam aus ihrem kurzen Glückstraum gerissen hatte, hatte sie eine qualvolle Nacht durchlebt und sich unter Kämpfen und Tränen zu dem Entschlüsse durchgerungen, aus Kurts Gesichtskreise still und heimlich
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verschwinden zu wollen. Er, dem sie nun nicht mehr angehören konnte nach ihrer Meinung, er sollte sie nicht mehr Wiedersehen, damit er seine Liebe vergessen lernte. Dann kamen Tage harter Kämpfe mit der Muttter, welche, obgleich sie völlig damit einverstanden war, daß Erika ihr Verhältnis zu Koschwitz löste — wenn auch aus einem ganz andern Gesichtspunkte — sich energisch dem Plan der Tochter widersetzte. Warum sollte Erika nicht in Berlin bleiben und abwarten, bis sich ihr ein besserer Ersatz für den plötzlich armgewordenen Freier bot? Und noch dazu solch obskures Nest sich aussuchen zu wollen, das sicherlich keine Gelegenheit zur Anknüpfung passender Bekanntschaften gab I Aber Erika ließ nicht nach mit Bitten und Tränen, sie konnte den Gedanken nicht ertragen, in den alten Verhältnissen weiterzuleben, weiterzulächeln, weiterzuheucheln, und dabei der Qual neuer Begegnung, die sie vielleicht schwach fand, ausgesetzt zu sein. Sie mußte fort. Und endlich bekam sie ihren Willen.
Dann war alles außerordentlich schnell gegangen. Sie bewarb sich um die in einer Zeitung angebotene Stelle an der Bürgerschule zu Gülzow, erhielt sie, trat dann mit dem Pastor des Ortes wegen einer Pension in Verhandlung die zu dem sie fürs erste befriedigenden Abschlüsse führte, daß er ihr dieselbe in seinem eigenen Hause anbot, und reiste ab, nachdem sie noch einen kurzen Abschiedsbrief an Kurt von Koschwitz geschrieben hatte.
Sie sah nun im Geiste alles so kommen, wie sie es sich gedacht hatte. Kurt würde zur Mutter gehen, um Erikas Aufenthaltsort von ihr zu erfahren. Sie sagte es nicht. Erika wollte es so haben, und es lag auch in ihrem eigenen Interesse, vielleicht erzählte sie auch ihm das Märchen, das sie für alle Bekannten in Bereitschaft hatte — das Märchen von der reichen Tante, welche Erika zu einer Reise nach dem Süden mitgenommen. Kurt würde sich aufs Bitten legen, die Generalin blieb fest, er würde aufbrausen, drohen — es half ihm nichts. Noch einige Male würde er einen neuen, ebenso erfolglosen Versuch machen, und dann würde er resignieren. Mit der Zeit würde ihr Bild in seiner Erinnerung verblassen, und schließlich würde er sie vergessen haben. Dann söhnte er sich mit dem Onkel aus und freite die reiche Cousine — die, wie Erika aus seinem eigenen Munde wußte — ein hübsches und munteres Wesen war. Warum sollte er nicht glücklich mit ihr werden?
Und sie? Sie saß nun hier, und der Tag war so grau und trübe — ein Bild ihrer Zukunft. Aber was lag an ihr — wenn nur er glücklich wurde, damit dies Opfer nicht umsonst gebracht war!
Langsam und schwer nur lebte sich Erika in die neuen Verhältnisse ein, die zunächst so niederdrückend auf ihr Gemüt wirkten, daß ihr manchmal der Mut entsank, in dieser selbstauferlegten Verbannung auszuharren. Zwar ihre Tätigkeit befriedigte sie, und in der Schule unter ihren zum größten Teil frischen und lernbegierigen Mädchen war sie eine ganz andere, lebhaft, selbst munter und hier und da zu einem Scherz aufgelegt, den die kleine Zuhörerschaft stets gebührend zu würdigen verstand. Aber war sie nach Hause zurückgekehrt in ihr Zimmer, in dem sie sich nicht heimisch zu fühlen vermochte, oder saß sie während der Mahlzeiten, bei welchen es stets ein wenig steif und gemessen herging, oder auch während der Abendstunden mit dem Pastorenpaar zusammen, so fühlte sie wieder den Druck, der auf ihrer Seele lastete. Die frostige Atmosphäre dieses Hauses war eben nicht geeignet, wohltätig auf ein trostbedürftiges junges Menschenherz einzuwirken. Zwar die Pastorin, welche vom ersten Augenblick an Erikas seelische Verstimmung bemerkt hatte und in ihr das halbverlorene Weltkind erblicken mochte, versuchte es auf ihre Weise, Einfluß auf die junge Hausgenossin zu gewinnen; aber sie griff es falsch an. Ihre überstrengen Ansichten, ihr häufig moralisierender Ton verletzten das junge Mädchen, das sich keiner Schuld bewußt war. Und außerhalb des Hauses war ihr bisher auch noch keine Menschenseele begegnet, welcher sie sich hätte anschließen mögen. Auch die spärlich einlaufenden Briefe der Mutter brachten keine lichten Augenblicke in dies trübe Leben. Daß die Generalin ihrer Tochter noch immer zürnte, verriet der kalte Ton ihrer Briefe und ihr kurzer und oberflächlicher Inhalt. Der Name, den Erika jedesmal mit heißen, begierigen Augen suchte, fand sich nur wenige Male darin. Seltsamer Widerspruch! Sie wollte, daß Kurt sie vergessen sollte und fand einen schmerzlich süßen Trost darin, zu erfahren, daß er immer von neuem versuchte, ihren Aufenthaltsort zu erfahren, und daß er sich in ihren Verlust nicht finden konnte.
_ — Fortsetzung folgt. —