Zweites
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Zweites
Blatt.
Der Enztälen
Neuenbürg, Samstag den 13. Oktober 1906.
Blatt.
64. Jahrgang.
RunSschau.
Heber Rationalliberale Partei und Mittelstandspolttik
sprach, wie schon kurz gemeldet, Reichstagsabgeordneter Patzig beim Parteitag in Goslar:
Er führte aus: Ich gehe jetzt auf ein Gebiet ein, auf welchem in unserer Partei die vollste Uebereinstimmung herrscht. Die Frage: Was ist Mittelstand? ist schwer zu bezeichnen und man findet da starke Gegensätze zwischen Produzent und Konsument zwischen Landwirtschaft und städtischem Gewerbe, auch eine höher bezahlte Gruppe der Lohnarbeiter kann zum Mittelstand gerechnet werden. Der Redner schildert dann eingehend, wie sich der Mittelstand entwickelt hat und welche Teile der Bevölkerung dazu zu rechnen sind. Der Mittelstand ist außerordentlich wichtig und alle staatstreuen Parteien sollten sich mit der Frage beschäftigen, was für ihn zu tun ist. Ein konservativer Führer erklärte einmal, Liberalismus und Mittelstand seien vereinbar. Wenn aber der Liberalismus irgendwo mit zu fürsorglicher Arbeit berufen ist, so ist es hier, weil es sich um Schichten der Bevölkerung handelt, aus denen er selbst die Mehrzahl seiner Anhänger zieht. In der Mittelstandspolitik muß jedes Mittel versucht werden. Die Fleisch Versorgung unseres Volkes bedarf entschieden der Verbesserung. Es ist lebhaft zu bedauern, daß ein Landwirtschastsminister, als man der schweren Sorgen bezüglich der Fleischversorgung des Volkes Ausdruck gab, ganz nonchalant von einer nur augenblicklichen Fleischnot sprechen konnte. Muß das nicht Verbitterung erregen? (Zustimmung.)
Gewerbefreiheit und Freizügigkeit haben wir dem Deutschen Reich mit auf den Weg gegeben. Das war eine vornehme Leistung der Partei. Freilich dürfen wir keinen Mißbrauch dulden und gegen Auswüchse müssen wir uns energisch wenden. Freilich nicht in der Weise, wie eine kleine Gruppe, die „Wirtschaftliche Vereinigung", die nur durch demagogische Agitation etwas geworden ist und alles besser wissen will als andere, obgleich wir Mittelslandspolitik getrieben haben, ehe diese Leute noch geboren waren. Man fragt, warum der Reichstag nicht rechtzeitig gegen Mißbräuche eingegriffen hat. Das lag daran, weil das Parlament immer mit anderen dringenden Arbeiten behelligt war. Dem Ausverkaufswesen muß gesteuert werden dadurch, i daß jeder Ausverkauf unter gewerbliche Kontrolle gestellt wird. Wir hoffen, daß die Regierung demnächst einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringt.
Die gnädige Krau.
4) Erzählung von A. Aurg.
- (Nachdruck verboten).
Inge wollte nächsten Winter Kochstunde nehmeil — das war jetzt sehr feilt, und alle jungen Damen der besten Kreise lernen kochen.
Sie wandte sich an Sophie.
„Du Sophie, ihr habt doch eine perfekte Köchin draußen, die kann aber gut kochen!"
„Die perfekte Köchin, mein Schatz, sitzt neben Dir — ich habe gekocht und koche immer — aber das Küchenmädchen geht mir zur Hand, ich habe sie gut ,angebündigtt, wie Vater immer sagt."
„Du, Sophie, hast gekocht?"
„Ja gewiß, sonst bekämen wir nichts zu essen, denn Life, das Küchenmädchen, muß auch das Hühnervieh und das liebe Borstenvieh besorgen."
„Wie klug und geschickt Du bist," sagte Inge aufrichtig, „ich möchte auch kochen lernen."
Sie sah über den Tisch hinfort ins Leere. Ja, sie wollte kochen und wirtschaften lernen, wie sie alles andere gelernt hatte — ,licht nur um Mamas und Papas willen, sondern auch für die eigene Wirtschaft.
Ob Henrik das wohl möchte?
Mit einem Male fühlte sie einen Stich im Herzen — es war doch etwas anderes um Henrik.
Die Stühle schnurrten auf dem schneeweiß ge-
Auch muß auf Antrag gewerblicher Körperschaften der Staatsanwalt gegen unlauteren Wettbewerb vorgehen. Gegenüber dem reaktionären großen Befähigungsnachweis sind wir für den kleinen Befähigungsnachweis eingetreten. Eine Enquete über die Lage des Kleinhandels muß erfolgen, dann muß aber auch an die große Aufgabe herangetreten werden, das stattliche Heer der Privatbeamten in die staatliche Versicherung einzugliedern. (Beifall.)
Wir tun dem Staatsgedanken einen ungeheuren Dienst, wenn wir diesen 300 000 Staatsbürgern, die da sagen: Was Ihr den Arbeitern getan habt, das tut an uns doch auch! die Türen des Reiches öffnen. (Beifall.) An diese große Aufgabe wollen wir mit derselben Begeisterung herantreten, wie damals als wir iln Jahre 1889 die kaiserliche Botschaft empfingen. Wir wollen auf dem nationalen Boden für den Mittelstand eintreten. Das ist eine Aufgabe, in der wir alle einig sind. (Beifall.)
Non Delegierten aus Kassel, Duisburg und Essen liegt hiezu folgende Resolution vor: „Der Vertretertag der nationalliberalen Partei begrüßt mit Genugtuung die Ausführungen des Abgeordneten Patzig über die Mittelstandspolitik und betont insbesondere die Notwendigkeit einer Revision des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, namentlich auch in Bezug auf das Allsverkaufswesen und er hofft, von der Mitarbeit seiner Vertreter im Reichstag einen wirksamen Schutz gegen die Handel, Industrie und Gewerbe schädigenden Auswüchse des Ausverkaufwesens. Er hält hier eine Kontrolle durch die Gewerbebehörden für geboten."
Auf Antrag des Abg. Patzig wird dieser Resolution noch folgender Zusatz gegeben: „Der Vertretertag erwartet ferner, daß der berechtigte Anspruch der Privatangestellten auf reichsgesetzliche obligatorische Pensionsversicherung und Invalidenversicherung baldigst erfüllt werde."
Die „Holzzellstoff-und Papierfabrik A.-G. Neustadt i. Schw." erstellte diesen Sommer zwei Neubauten, ein einstöckiges Gebäude für eine neue Papiermaschine, das zwischen die bereits bestehenden alten Gebäulichkeiten eingebaut wurde, und einen dreistöckigen Anbau an der Westseite der bestehenden Anlagen, der jetzt eingestürzt ist. Die Bauten wurden nach dein bekannten System des Ingenieurs Luitpold-Stuttgart in Eisenbeton erstellt, welch' letzterer auch mit einem anderen angesehenen Freiburger Geschäftsmann dem Unternehmer Franz Glyckherr, für die richtige Ausführung der Arbeiten der Firma gegenüber Bürgschaft leistete. Die Berechnungen
l des Herrn Ingenieur Luitpold wurden auf Veranlassung des Neustadter Bezirksamtes der Baupolizeibehörde bei Beginn der Arbeiten durch Professor Nestle-Karlsruhe geprüft und wegen angeblicher zu schwacher Konstruktion beanstandet. Der Bau wurde I kurze Zeit eingestellt und erst nachdem Luitpold die Bedenken zerstreut hatte, konnte derselbe weiter geführt werden. Die vor ca. 8 Tagen vorgenommenen Belastungsproben ergaben jedoch die Haltbarkeit der Konstruktion. Da z. Zt. die Montierung der sehr schweren Maschinen vorgenommen wird, so könnte der Einsturz eventuell auch durch vorübergehende einseitige und übergroße Belastung durch Maschinenteile hervorgerufen sein. Darüber wird die gerichtliche Untersuchung Klarheit schaffen. Der eingestürzte Bau repräsentiert einen Herstellungswert von ca. 30—40 000 l/ö. Die Firma Holzzellstoff- und Papierfabrik Neustadt dürfte jedoch außerdem sehr dadurch geschädigt sein, daß die neuen Anlagen durch das Unglück nicht in Betrieb genommen werden können.
Essen, 11. Okt. Heute vormittag überfuhr ein in den Bahnhof Dorsten einfahrender Zug das auf „Halt" stehende Einfahrtssignal und fuhr in voller Fahrt auf einen andern auf. Die Lokomotive und
11 Wagen wurden stark beschädigt, ein Lokomotivheizer leicht verletzt. Der Personenverkehr wird mit geringer Verspätung durch Umleiten aufrecht erhalten.
Der Geschüftsagent Siener, der mit Hinterlassung seiner Familie von Edenkoben flüchtete, hat über 100 000 Mk. Schulden gemacht. Er nahm auch mehrere tausend Mark unterschlagene Gelder mit auf die Flucht. Noch kurz vor der Flucht verkaufte er seine Villa um den billigen Preis von
12 000 Mk.
Vom badischen Schwarzwald meldet man, daß dieser Herbst ungewöhnlich hohe Temperaturen bringt. Zeitweise herrschen in Höhenlagen von 800 bis 900 Meter 28 Grad Celsius Sonnenwärme, an exponierten Stellen bis 31 Grad. Nach dem letzten Gewitterregen trifft man Frühlingsblumen auf den Wiesen, Obstbäume setzen Blüten an und Winterschläfer des kleinen Tierreichs werden wieder lebendig. Auch die sternenklaren Nächte sind sommerlich warm: 16—18 Grad Celsius. — Vom Feldberg, 10. Okt., wird gemeldet: Der Verkehr ist bei schönstem Wetter riesig. Voriges Jahr hatten wir Schnee und Eis um diese Zeit, heute haben wir ganz erhebliche Hitze.
Frankfurt a.M., 11. Okt. Heute mittag verwundete ein hiesiger Monteur, Raimund Josef, seine Frau und schoß sich dann selbst eine Kugel in die Schläfe. Der Mann war sofort tot. Als Grund
scheuerten Fußboden — Frau Forstmeister hatte die Tafel aufgehoben.
Im Familienzimmer brannte die Hängelampe über dem gemütlichen Sofaplatze, und Sophie eilte, den schönen Flügel aufzuklappen, der den größten Raum im Zimmer einnahm. In zwanglosen Gruppen stand man, sich unterhaltend, umher. Hr. von Dorgerlow rückte an den Notenpult, das neben dem Flügel stand, dann nahm er eine Violine aus dem Lederetui, die außerdem noch sorglich in ein weiches Seidentuch gehüllt war. Und während Sophie, am Flügel Platz nehmend, verständnisvoll die Töne anschlug, stimmte er das herrliche Instrument.
Tante Christine nahm ein grauwollenes, grobes Strickzeug zur Hand, und Inge bedauerte aufrichtig, keine Arbeit mit heruntergebracht zu haben.
„Tante Christine, gib mir auch ein Strickzeug!"
Verständnisvoll griff die Forstmeister«! in ihren großen Arbeitskorb, der, auf Füßen ruhend, beständig neben ihrem Sofaplatze stand, und eine einfache Strickarbeit mit zwei dicken, langen Holznadeln hervorziehend, sagte sie: „Da Inge, das kann man im Schlaf stricken, immer rechts, erste Masche abstecken. Das sind warme Schals für die Leute zur Winterszeit."
Da zogen schon die ersten Töne des Gounodschen „Ave Maria!" durch den stillen Raum.
Diese Art Hausmusik gefiel Inge sehr, es gefiel ihr überhaupt so gut hier, wie sie es nie für möglich gehalten. Ohne sich eigentlich klar darüber ge
worden zu sein, fühlte ihr Gemüt die wohltuende Ruhe dieses Feierabends.
Feierabend — sie sagte im Geist das Wort langsam vor sich hin. Sie kannte bei der Rastlosigkeit ihres Lebens daheim kaum einen Feierabend, wo Geist und Herz ausruhen können. Ihre Feierabende mit ihren Festen und Zerstreuungen bedeuten oft inehr eine Anstrengung. Das Schönste daran war das Zusammensein mit Henrik. Da war er wieder, der jugendfrohe, schöne Henrik, und sie erinnerte sich deutlich ihres Abschieds. „Ob sie ihm stets treu bleiben würde?" Wie ernsthaft er das gefragt hatte. Und ihre ebenso ernste Gegenfrage: „Und Du mir, Henrik?"
Nein — ein Zurück gab es hier nicht, mochten die Hindernisse auch turmhoch vor ihnen stehen. Ihre Liebe mußte sie alle besiegen-
Die Töne waren verhallt, der Forstmeister war, wie immer, wenn er Musik hörte, begeistert.
„Und nun, Herr Assessor — liebe Sophie — mal noch etwas von Mozart. Sie wissen, es geht nichts üher meinen Mozart."
Nach dem musikalischen Teile des Abends, für den zu morgen Inge ein Duett mit Sophie versprach, blieb man noch in angeregter Unterhaltung beieinander, bis plötzlich Konrad mit einer großen Laterne auftauchte.
Dabei machte er ein äußerst vergnügtes Gesicht und sang, den Ton des Dorfnachtwächters nachahmend : „Hört ihr Herrn und laßt euch sagen, daß die Glock' hat eilf geschlagen —"