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Rerterrbürg, Samstag den 26. Mai 1906.
64. Jahrgang.
Deutschland und England.
Seit einiger Zeit haben bei uns wie jenseits des Kanals nichtamtliche Bemühungen eingesetzt, das bis vor kurzem ziemlich gespannt gewesene Verhältnis zwischen England und Deutschland wieder zu einem freundschaftlicheren zu gestalten, welchem Zweck z. B. auch der soeben wieder beendigte Besuch der Bürgermeister einer Anzahl größerer deutscher Städte in England gewidmet war. Auch bei dieser Gelegenheit hat es nicht an gegenseitigen Sympathie- und Freundschaftskundgebungen gefehlt, die an festlicher Tafel zwischen den Gästen aus Deutschland und den englischen Gastgebern gewechselt wurden, ein großer Teil der englische» Presse brachte warme deutsch, freundliche Artikel anläßlich des Besuches der deut- scheu Städte-Vertreter, ja, letztere hatten sogar die Ehre des Empfangs durch König Eduard im Buckingham - Palast zu London. Kaum zweifelhaft werden auch die in Vorbereitung befindlichen weiteren ähnlichen Veranstaltungen zur Herbeiführung besserer Beziehungen zwischen Deutschland und England, zu denen zunächst der in der zweiten Junihälfte bevorstehende Besuch deutscher Zeitungsverleger und Redakteure in England gehört, einen durchaus befriedigenden Verlauf nehmen, und so könnten die Freunde einer aufrichtigen Verständigung Englands mit dem deutschen Reiche gewiß nur Genugtuung darüber empfinden, wenn auf einem solchen Wege eine wirkliche dauernde Annäherung der englischen Nation an das stammverwandte deutsche Volk zu stände käme. Aber es ist nur die Frage, ob in der Tat auch alle diese Besuche, Festessen und Tischreden den erhofften politischen Zweck haben oder ob sie nur vorübergehende Erscheinungen bleiben werden, welche den Gang der hohen Politik nicht im mindesten beeinträchtigen. Es bedarf wohl keiner besondere» Versicherung, daß die deutsche Regierung ehrlich bestrebt ist, zu einem aufrichtigen Freundschafts- Verhältnisse mit England zu gelangen und daß die große Masse des deutsche» Volkes durchaus diesen Standpunkt der eigenen Regierung billigt. Und ebensowenig steht zu bezweifeln, daß auch jenseits des Kanals zahlreiche Bevölkerungskreise von dem Wunsche erfüllt find, es möchten sich zwischen ihrem Lande und Deutschland wärmere Beziehungen entwickeln, wie sie nur den zahlreichen langjährigen Ber- bindungen zwischen den beiden stammverwandten Ländern entsprechen würden. Aber meint es auch die englische Politik so ehrlich? Seit geraumer Zeit schon macht sich in der auswärtigen Politik des Jnselreich ein deutschfeindlicher Zug bemerklich, nur, daß er das eine Mal schärfer, das anderemal weniger bemerkbar hervortritt, er ist jedoch zweifellos vor- Händen, wie sich dies schon in einer ganzen Reihe von Fällen gezeigt hat. Und diese antideutsche Nicht- ung in der englischen auswärtigen Politik hatte ja vorigen Sommer mit Benutzung der Marokko-Affäre zu einer derartigen Annäherung Englands an Frank- reich mit ersichtlich gegen Deutschland gerichteter Spitze geführt, daß, wie nachher bekannt wurde, die Gefahr eines Krieges beider Westmächte gegen das deutsche Reich keineswegs so fern war. Und sollte die englische Politik nicht versuchen, bei einer Passenden Gelegenheit doch noch eine Koalition gegen Deutschland zusammenzubringen, um sich durch einen siegreichen Krieg dieses dem englischen Welthandel immer gefährlicher werdenden Konkurrenten nach Möglichkeit zu entledigen? Mau kann sich eines solchen Verdachts nur schwer erwehren, und es müßte die englische Regierung fichs angelegen sein lassen, diesen Verdacht zu entkräften und an die Stelle der bisher beliebten Nadelstiche gegen Deutschland endlich eine entgegenkommendere Politik zu setzen, die den Wunsch der leitenden Londoner Kreise, in ein besseres Einvernehmen mit dieser Großmacht zu gelangen, deutlich zum Ausdruck brächte. An Gelegenheit, eine solche deutschfreundlichere Schwenkung in der briti- scheu Auslaudspolitik eiutreten zu lassen, fehlt es
für das Londoner Kabinett nicht, man braucht nur an Südwestafrika zu denken, wo gerade die englische Zweideutigkeit und Hinterhältigkeit mit dazu beige- tragen hat, daß der Aufstand der Hottentotten gegen die deutsche Herrschaft einen so langwierigen Charakter annahm. Schließlich ist auch eine der Prämissen für eine deutsch-englische Verständigung, daß die ton- angebenden Londoner Blätter in ihren fortwährenden Verdächtigungen Deutschlands und seiner Politik endlich aufhören und ihm dafür Gerechtigkeit widerfahren lassen. Vielleicht, daß der bevorstehende Be- such deutscher Zeitunasmänner jenseits des Kanals das seinige dazu beiträgt, eine Umkehr in der Deutsch- land bislang mehr oder weniger mißgünstigen Halt- ung der .Times" und anderer hervorragender Londoner Blätter zu veranlassen.
AunSschau.
Der Reichstag eilt seiner sommerlichen Vertagung entgegen, spätestens am Mittwoch, den 30. Mai, soll sie eintreten. In der abgelaufenen Woche verabschiedete er die neuen Militärpensionsgesetze, sie wurden am Mittwoch in dritter Lesung zusammen en bloc angenommen. Bei der alsdann folgenden zweiten Beratung des Schutztruppengesetzes gab Geheimrat Twele die Erklärung ab, daß die Regierung mit Rücksicht auf die Geschäftslage des Hauses auf die Weiterberatung dieses Gesetzes verzichte. Hierauf trat der Reichstag in die dritte Beratung des Etats ein, wobei sich zunächst eine General- debatte entwickelte. Sie wurde vom Natioualliberalen Bassermann eröffnet, welcher einen Ausblick auf die weiteren Aufgaben des Reichstages warf und daneben die auswärtige Lage streifte. Abg. Graf Limburg (kons.) gab seinem Bedauern über das Zustandekommen der Fahrkartensteuer und der Diätenvorlage vom Standpunkte der Rechte der Einzelstaaten aus Ausdruck. Nun folgte der Staatssekretär v. Tschirschky und Bögendorff mit einer Reihe von Erklärungen, welche den Beziehungen unter den Dreibundsstaateu, den angeblichen englisch-russtschen Abmachungen, dem bevorstehenden Besuche Kaiser Wilhelms beim Kaiser Franz Josef und den deutsch-englischen Beziehungen galten und welche Auslassungen einen merkwürdigen Optimismus atmeten. Der nächste Redner war Abg. Bebel; in zweistündiger Rede verbreitete er sich über die Reichsfinanzreform und die neue Flottenvorlage, die Erhöhung der Ortsportotaxe, die Isolierung Deutschlands, Englands Machtstellung, die Kaiser- depesche an den Minister Goluchowski, die abgehauene Hand von Breslau, den Konflikt in der Metallindustrie und noch anderes mehr, natürlich die schärfsten oppositionellen Töne auschlageod. Weiter sprachen noch die Abg. Schräder (fr. Verein.) und Böckler (Reformp.). Mit einem lebhaften Wortgefecht zwischen dem Staatssekretär Posadowsky und Hrn. Bebel endete die Generaldiskussion.
Der Reichstag dürfte eventuell doch noch über Pfingsten hinaus tagen. Die Regierung wünscht, daß die dem Reichstage vorgelegten Ergänzungsetats noch vor der Vertagung erledigt werden. Das Zentrum hat aber keine Lust, diese Vorlagen übers Knie zu brechen und will sie ordnungsgemäß erledigen. Sollte dazu aber die Zeit vor Pfingsten nicht mehr ausreichen, so ist die Regierung gewillt, die Vertagung erst nach Pfingsten und zwar nach Erledigung der Ergänzungs-Etats eintreten zu lassen. Bei gutem Willen kann aber alles bis zum 30. Mai erledigt werden.
Der Kaiser hat einen Ausflug nach Ost- und Westpreußen unternommen. Zunächst weilte er in Präckelwitz als Jagdgast des Fürsten zu Dohna- Schlobitten.
Der befürchtete ungünstige Einfluß der Handelsverträge auf die Industrie hat sich bis jetzt noch nicht gezeigt, obwohl nun schon mehr als zwei Monate vergangen find. Vielmehr ist für die Hauptgewerbe im großen und ganzen die Arbeitslage
j günstig geblieben. Eine Einwirkung der Handels- Verträge wird bisher nur für einzelne Teile der chemischen Industrie hervorgehoben. Der Beschäftig, ungsgrad würde sich noch günstiger gestaltet haben, wenn nicht der April in einer ganzen Reihe von Gewerben Streike und Aussperrungen in größerem Umfange gebracht hätte.
Der neue ungarische Reichstag ist am Dienstag vom Kaiser Franz Josef mit einer Thron- rede eröffnet worden, welche bei den Ungarn große Befriedigung hervorgerufen hat. Der neue Konflikt zwischen Oesterreich und Ungarn wegen des vom Ministerium Weckerle geforderten autonomen ungarischen Zolltarifs soll auf dem Wege von Kompromiß. Verhandlungen beseitigt werden. Die von den Ministerpräsidenten Hohenlohe und Weckerle angebotene Demission ist vom Kaiser nicht angenommen worden. Der in Wien eingetroffene Preußische Generalstabschef von Moltke erfreut sich dort einer ausgezeich- neten Aufnahme. Am Mittwoch gab der österreichische Generalstabschef Frhr. von Beck zu Ehren seines preußischen Kollegen ein größeres militärisches Diner, bei welchem von Moltke auf Kaiser Franz Josef, Freiherr von Beck auf Kaiser Wilhelm toastete.
Das 40jähr. Regierungsjubiläum König Carols von Rumänien ist am Mittwoch in Bukarest durch ein großes Nationalfest gefeiert worden. Dem König wurden hierbei begeisterte Ovationen dargebracht.
Bukarest, 24. Mai. Dem König ist zu seinem Regierungsjubiläum ein Glückwunschschreiben des deutschen Reichskanzlers zuge- gangen.
Rom, 23. Mai. Der Weltpostkongreß hielt heute seine letzte Sitzung. Zum Sitz des nächsten Kongresses wurde Madrid gewählt. Die Unter- zeichuung der Kongreßakte wird am 26. erfolge». Mehrere Abgesandte nahmen die Einladung der italienischen Regierung zum Besuch von Florenz und Venedig an.
Der Finanzausschuß des Senats zu Washington empfiehlt einen Antrag zur Annahme, daß die Materialien zum Bau des Panamakanals der heimischen Produktion und Fabrikation entnommen werden sollen, unter der Voraussetzung, daß der Präsident diese Bestimmung nicht für zu weitgehend hält.
Die Lage in Natal wird nach einer Reutermeldung als sehr ernst angesehen. Den englischen Truppen in Pretoria ist der Befehl zugegauqen, sich in Bereitschaft zu halten.
Der berühmte norwegische Dichter und Schriftsteller Ibsen ist am Mittwoch in Christiania gestorben; er war schon in letzter Zeit infolge eines Schlaganfalles leidend. Sobald König Haakon die Todesnachricht erhalten hatte, übermittelte er der Witwe Ibsens sein und der Königin Beileid. Der Schriftstellerverein ließ durch seinen Präsidenten an der Statue des Dichters vor dem Nationaltheater ein prachtvolles Blumenarrangement »iederlegen. Ganz Christiania trauert um den großen Toten.
Berlin, 23. Mai. Der Reichsbaukzinsfuß wurde von 5 auf 4^/-°/» herabgesetzt.
Die Hauptstelle deutscher Arbeitgeber-Verbände erklärte in ihrer in Berlin abgehaltenen Sitzung den mitteldeutschen Bergarbeiterstreik für un- berechtigt und beschloß einmütig, den vom Streik betroffenen Arbeitgebern die Hilfe der Hauptstelle im ganzen Umfange zuteil werden zu lassen.
In Lindenau bei Leipzig feierte der Senior der deutschen Turnerschaft, vr. Erl. F. Götz, am Donnerstag seinen 80. Geburtstag unter herzlicher Teilnahme weiter Kreise. Der um die deutsche Turnsache hochverdiente Greis erfreut sich noch großer körperlicher Rüstigkeit und geistiger Frische.
Mannheim, 23. Mai. Während hier der Rhein seit gestern noch um 25 Zentimeter gestiegen, ist der Neckar um 48 Zentimeter gefallen. Pegel- stand von heute früh 668, bezw. 685 Zentimeter.