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Bank 600 ^ abzuholen, wurde am Samstag auf dem hiesigen Hauptbahnhof von einem un­bekannten Mann das Geld abgenommen. Der­selbe gab dem Mädchen gegenüber au, daß er von dem Bankier den Auftrag erhalten habe, das Geld wieder zurückzufordern, da es nicht richtig gezählt sei. Er händigte ihr darauf ein geschlossenes Couvert ein und entfernte sich in der Richtung nach dem Bankhause. Als die Polisseuse im Geschäft anlangte und von dort aus Nachfrage bei dem Bankhause angestellt wurde, stellte es sich heraus, daß das Mädchen einem raffinierten Schwindler zum Opfer gefallen war, der sie jedenfalls beim Herauskommen aus dem Bankhause beobachtet hatte und ihr darauf gefolgt war. Es ist nun schon das dritte Mal, daß diese Gaunereien Vorkommen und trotz dieser Warnungen sind die Boten doch nicht vorsichtig genug, denn sonst könnte es den geriebenen Be­trügern nicht gelingen, immer wieder Opfer zu finden und sie zu Prellen.

Deutsches Weich.

In der Neichstagssitzung vom 26. November fand eine namentliche Abstimmung statt über den Antrag Paasche, der bezüglich des Zeitpunkts des Inkrafttretens des Zolllarifgesetzes Wiederherstellung der Regierungsvorlage forderte. Die Regierungsvorlage bestimmt, daß' dieser Zeitpunkt durch kaiserliche Verordnung mit Zu­stimmung des Bundesrats bestimmt werden solle. Die Kommission wünschte als spätesten Termin den 1. Januar 1905. Die Abstimmung hatte das Ergebnis, daß mit 195 gegen 75 Stimmen der Antrag Paasche auf Wiederherstellung der Regierungsvorlage angenommen wurde. Von den württembergischen Abgeordneten haben mit Ja, für den Antrag Paasche, gestimmt: Augst, Braun, Gröber, Hieber, Hegelmaier, Hofmann- Ellwangen, Kloß, Payer, Rembold, Schlegel; mit Nein keiner. Krank war Kettner, beurlaubt Fr. Haußmann, Hoffmann - Hall, Mauser, Schrempf; ohne Entschuldigung fehlte Hähnle und K. Haußmann. Bei der Abstimmung über den Antrag Molkenbuhr zu § 11, der Bundes­rat habe die Zölle auf Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Hülsenfrüchte, Lupinen, Malz und Mais anfzuheben, sobald deren Verkaufspreise eine gewisse Höhe erreicht haben, stimmten die Ab­geordneten Augst, Braun, Gröber, Hegelmaier, Dr. Hieber, Hofmann-Ellwangen, Payer und Rembold mit Nein, Kloß und Schlegel mit Ja.

Die große Redeschlacht im Reichstage über die geschäftsordnungsgemäße Zulässigkeit des Antrages Kardorff, das Haus möge den Zolltarif in zweiter Lesung gleich im Plenum annehmen, hat sich auch noch in die neue Woche hineingezogen, obwohl sie schon in der ver­gangenen Woche drei Sitzungen ausfüllte. Im Grunde genommen erscheint die lange Hinaus­ziehung dieser Geschäftsordnungsdebatte aller­dings zwecklos, denn die Mehrheit des Reichs­tages wird eben den Antrag Kardorff schließlich für zulässig erklären und ihn dann einfach an­nehmen. Die sozialdemokratisch - freisinnige Minderheit aber, deren Standpunkt gegenüber dem Antrag Kardorff vielleicht nicht so sehr verwerflich erscheint, hat ihrer eigenen Sache zweifellos einen schlechten Dienst durch das ver­rückte Gebühren der sozialdemokratischen Rufer im Streit geleistet. Man mag über das Be­ginnen der Mehrheitsparteien, ohne Weiteres die 640 Positionen des Zolltarifs der parla­mentarischen Kritik zu entrücken und sie durch einen kleinen Gewaltstreich kurzer Hand in den rettenden Hafen zu bugsieren, denken wie man will jedenfalls durften die Sozialdemokraten ihrer Erregung über dies Unterfangen der Mehrheit nicht einen so gafsenjungenhaften Aus­druck verleihen, wie es leider geschehen ist. Das Ansehen der deutschen Volksvertretung ist ohne­hin schon bedenklich gesunken; durch solche wüste Radauszenen aber, wie sie die sozialdemokratischen Heißsporne aufführen, kann dieser Niedergang nur noch beschleunigt werden!

Berlin, 1. Dez. Reichstag. Bei großer Unruhe und Unaufmerksamkeit des Hauses spricht Abg. Kunert (Soz.) gegen die Zulässigkeit des Antrages Kardorff. Abg. v. Kröcher (kons.) polemisiert unter vielfacher Heiterkeit des Hauses gegen die Sozialdemokraten und beklagt die Ab­

wesenheit vieler Mitglieder der bürgerlichen Parteien. Er erinnert an die Zeit vor der großen französischen Revolution und bedauert das Epigonentum unserer Zeit. Daß die Partei des Umsturzes im Reichstag sitze, sei widersinnig. Der einzig berufene Interpret der Geschäftsord­nung und der Zulässigkeit des Antrags Kardorff sei der Reichstag. Der Worte seien genug ge­wechselt, man möge endlich abstimmen. Abg Zubeil (Soz.): Der Abg. v. Kröcher habe nur einige dumme Witze vorgebracht. Präsident Graf Ballestrem (unterbrechend): Sie dürfen die Witze eines Abgeordneten nicht als dumm bezeichnen. Der Abg. Zubeil wird im weiteren Verlaufe seiner Rede, als er den Antrag Kardorff nieder­trächtig nennt und dem Abg. Bachem Verleumd­ung vorwirft, zweimal zur Ordnung gerufen. Abg. Richter (freis. BP.) hält die Obstruktion nur als Abwehrmittel gegen eine augenblickliche Ueberrumpelung für berechtigt, nicht aber als ständigen Oppositionsfeldzug. Man kämpfe da­mit gegen einen Grundgedanken des Parlamen­tarismus. (Zustimmung.) Wir bewegen uns in österreichischen Zuständen. Wenn dieser Reichs­tag, dem er 80 Jahre angehöre, jemals ein Bild des österreichischen abgeben würde, würde er es für keine Ehre mehr halten, überhaupt einer solchen Körperschaft anzugehören. Der deutsche Reichstag soll den andern Parlamenten ein Muster sein in der korrekten Form des Parla­mentarismus. Wenn die Zolltarifvorlage zu Stande kommt, was er für sehr nachteilig halte, tragen die Sozialdemokraten und die freisinnige Vereinigung vor dem Volke den Hauptteil der Verantwortung. Abg. Bebel (Soz.): Was der Abg. Richter zur Rechtfertigung seiner Haltung vorgebracht habe, seien nur faule Ausreden. Die freisinnige Bolkspartei habe von der Kom­mission an nur auf das Zustandebringen der Tarifvorlage hingearbeitet. (Protestrufe der frei­sinnigen Abgeordneten. Zuruf:Unwahre Be­hauptung!") Der Vizepräsident Graf Stolberg erklärt diesen Ausdruck für unzulässig. Abg. Bebel erörtert in heftigen Worten das Verhalten der anderen Parteien. Mit dem Präsidenten Grafen Ballestrem, der den ungeheuerlichen An­trag Kardorff nicht von vornherein als unzulässig abgewiesen habe, werde die Minderheit Geschäfte nicht weiter treiben. Vizepräsident Büsing for­dert den Redner auf, sich jeder Kritik eines Präsidenten zu enthalten. Abg. Bebel (Soz.) nennt schließlich den Antrag ein Denkmal von unserer Zeiten Schande und wird zur Ordnung gerufen. Abg. Dr. Sattler (natl.): Er habe im Oktober geäußert, es sei mit der Autorität der Regierung unvereinbar, einen Tarif weiter zu beraten, dem es an der Vorbedingung des Zu­standekommens fehle, nämlich an der mit den verbündeten Regierung einigen großen Mehrheit. Diese Vorbedingung sei jetzt geschaffen; darum habe man den Kampf gegen die Obstruktion aufnehmen können. Redner und seine Freunde hätten sich nur schwer entschlossen, den unerfreu­lichen und unerwünschten Antrag Kardorff zu unterzeichnen, seien aber durch das Vorgehen der Obstruktionsparteien dazu genötigt worden. Der Antrag sei nach der strikten Auslegung der Geschäftsordnung zulässig. Abg. Thiele (Soz.): Wenn der Antrag angenommen werde, sei der Präsident der Hehler und die Mehrheit der Stehler. Präsident Graf Ballestrem ruft den Redner zur Ordnung und ersucht dringend, den Präsidenten, der sich doch nicht in die Diskussion einlassen könne, aus dem Spiel zu lassen. Die Weiterberatung wird um 6^4 Uhr auf morgen 1 Uhr vertagt.

Stärkung der Disziplinargewalt des Reichstags-Präsidenten. Die Vorgänge der allerletzten Tage im Reichstage haben, wie in Reichstagskreisen als bestimmt verlautet, nicht nur die Zusammenschließung der jetzigen Mehrheit gefestigt, sondern bei diesen auch weitere Entschlüsse gezeitigt. Bezüglich der Aenderungen an der Geschäftsordnung, die von der Mehrheit erwogen werden mögen, sind in erster Linie die Bestreb­ungen zu beachten, die sich dahin richten, die Befugnisse des Präsidenten so zu vermehren und auszugestalten, daß er aus eigener Machtvoll­kommenheit in die Lage versetzt wird, unter allen Umständen als Herr des Hauses aufzutreten.

Außerdem sind unter den Mehrheitsparteien Gedanken erwacht, deren Bedeutung, weit über die gegenwärtigen Verhältnisse hinausreichend, sich bei den nächsten Wahlen und länger für den Besitzstand der Parteien förderlich erweisen soll.

Rhabarber im Reichstage. Der Früh­ling mit seinen wohlschmeckenden Rhabarberspeisen ist längst vorüber. Dafür tritt der Rhabarber jetzt leider in ganz ungenießbarer Zubereit­ung im Reichstage auf. DieFreisinnige Zeitung" schreibt:Die Redefreiheit im Reichs­tage wird seitens der Sozialdemokratie gegen­wärtig in brutalster Weise vergewaltigt. Ab­sichtlich wird Störung organisiert, insbesondere durch unausgesetztes Aussprechen des Wortes Rhabarber". Es ist das der Meininger Ko­mödie entnommen, die auf diese Weise im Theater mit wenigen Statisten eine große aufrührerische Volksmenge hinter den Kulissen für das Publi­kum fingiert. Wenn die Freisinnige Volkspartei und die anderen Parteien auch nur entfernt sich durch dieses Benehmen erregen lassen wollten, so würde überhaupt schon gar keine Verhandlung mehr möglich sein. In der Freisinnigen Volks- Partei ist man nicht länger gewillt, sich das Pöbelhafte Benehmen der Sozialdemokratie in unmittelbarer Nachbarschaft gefallen zu lassen. Es ist ganz unglaublich, welche gemeinen Schimpf­worte fortgesetzt in diesen Reihen laut ausgerufen werden gegen alle Redner, die das Mißfallen irgend welches Sozialdemokraten Hervorrufen: Lump",Räuber",Henker",Spitzbuben", Verräter", das sind Ausdrücke, die dutzendweise in jeder Sitzung gerufen werden. Die in un­mittelbarer Nachbarschaft sitzenden Bundesrats­mitglieder sind Zeugen dessen."

Die Zustimmung der verbündeten Regierungen zur Aufhebung des ß 2 des Jesuitengesetzes soll jetzt, wie gerüchtweise ver­lautet, mit Sicherheit zu erwarten stehen. Noch vor der Verabschiedung des gegenwärtigen Reichstages würde demselben, wie es weiter heißt, ein bezüglicher Antrag zugehen. Immer­hin wird wohl eine Bestätigung dieser Nachricht abzuwarten sein, da sich die verbündeten Re­gierungen gegen die vom Zentrum schon wieder­holt geforderte Beseitigung des tz 2 des Jesuiten­gesetzes bislang noch immer ablehnend ver­halten haben.

Die in ihrem Wortlaut etwas verspätet be­kannt gewordene Kaiserrede von Görlitz stellt sich als eine gewichtige Mahnung des Kaisers an die jetzige Generation des deutschen Volkes dar, die technischen Aufgaben der Gegen­wart besser begreifen und würdigen zu lernen. Zugleich forderte Kaiser Wilhelm unbedingte und freudige Unterordnung des einzelnen Deut­sche unter das Ganze zum Wohle des Ganzen, des Volkes und des Vaterlandes, betonend, wie der Herrscher und seine Organe ein ganzes Land nicht dauernd vorwärts bringen könnten, wenn nicht von allen Ständen dazu geholfen werde. Die Mahnworte des kaiserlichen Herrn klangen in der fast programmatisch formulierten Forderung der Freiheit für Denken, Religion und wissenschaftliche Forschung im deutschen Vaterlands aus, während er ironisch meinte, die Freiheit, sich nach Belieben schlecht regieren zu lassen, wünsche er dem deutschen Volk nicht.

In Sachen des deutsch-venezoela Ni­schen Konfliktes war kürzlich gemeldet worden, Präsident Castro habe sich zur Nach­giebigkeit entschlossen und mit dem New-T)orker Bankhaus I. W. Seligmann Verhandlungen angeknüpft, um durch dessen Vermittelung die finanziellen Forderungen Deutschlands und weiter auch diejenigen Englands zu begleichen. An den amtlichen Berliner Stellen ist man indessen, wie versichert wird, von einem solchen angeb­lichen Entschlüsse des venezoelanischen Staats­oberhauptes noch nicht unterrichtet. Was die mehrseitig gemeldete Entsendung eines besonderen dentschen Kreuzergeschwaders ausNiobe", Amazone" undAriadne" bestehend, von Kiel nach Venezuela anbelangt, so scheint der Ab­gang dieses Geschwaders noch nicht positiv festzustehen.

Fortsetzung in -er Beilage.

Redaktion, Druck und Verlag von C. M-eh in Neuenbüi