Kosend fuhr er ihr mit der Hand über die Wange, drückte ihr erblassendes Gesicht au seine Brust und hauchte einen Kuß auf ihre reine Stirn.
Der Eindruck, den dieser Auftritt unter der Trauergemeinde hervorgerufen hatte, war ganz verschieden. Einige empfanden Mitleid mit dem jungen Mädchen, Andere wichen scheu vor ihm zurück, als sei es eine Mitschuldige an dem furchtbaren Verbrechen. Niemand zweifelte ja mehr an der Schuld des jungen Mannes, trotzdem er vor den Richtern feierlich beteuert hatte: „Ich bin unschuldig!" Bewiesen war es, überzeugend, unwiderleglich, Jeder mußte ihn schuldig sprechen, die Richter hatten ihn verdammt, aus- gestoßen aus dem Bunde der Menschheit!
Eine schlanke Frauengestalt, wie der Schatten des Todes anzusehen in ihrem schwarzen Gewände, das Antlitz dicht verschleiert, trat zu dem Totengräber, neigte seiner Tochter das Haupt zu und wie das Zischen einer Schlange kam es von ihren Lippen:
„Wahnsinnige! Du hast es gewagt, die heilige Handlung zu stören?"
Marie zuckte zusammen und blickte auf. Ein Paar düstere Augen glühten sie durch den Schleier an. Eine entsetzliche Ahnuna stieg in ihrem Herzen auf wie eine grelle Erkenntnis von oben.
„Vater, sie ist's, sie ist's!" hauchte sie und zitterte wie ein Opfer, das wehrlos dem Tode preisgegeben ist, das den unbarmherzigen Mörder vor sich sieht. Wie Schutz suchend schmiegte sie sich inniger an den Vater.
Die verschleierte Gestalt fuhr unwillkürlich zurück; sie hatte die Worte, so leise sie auch gesprochen worden waren, verstanden. In ihrem Innern wallte es heiß auf und nur mit Mühe unterdrückte sie einen Wutschrei, indem sie das weiße, seidene Tuch, das sie in der Hand hielt, an die Lippen preßte.
„Hüte Dich!" raunte sie dem Mädchen zu und ihre Augen trafen es mit einem bösen stechenden Blick. Darauf trat sie wieder unter die Menge, welche ihr achtungsvoll Platz machte. Sie mußte einen hohen Rang in der Gesellschaft einnehmen. Was sie mit dem Mädchen gesprochen, hatte außer dem Totengräber niemand gehört. Man nahm an, es seien beschwichtigende Worte gewesen.
Der Alte strich seiner Tochter mit der welken Hand über das blonde Haupt. 'h ^
„Kind, wie Du bebst!" flüsterte er ihr zu. „Beruhige Dich!"
„Sie ist's, Vater! Sie ist's!" sagte sie wieder ganz leise und sah ihn mit großen Augen an, in denen das Feuer inneren Entsetzens loderte, „und ich sollte nicht zittern?"
„Sie ist's!" Wie soll ich das deuten?"
Er sah mit fragender Spannung in ihr Antlitz.
Sie flüsterte zurück:
„Fürstin Feodora ist die Mörderin der Gräfin Amalia von Bärenfeld."
Erschrocken über diese unerwartete Erklärung legte er ihr die Hand auf den Mund:
„Still, still! Willst Du die Rache der Fürstin herausfordern? Es könnte Dein Leben kosten. Du weißt, wie hart und grausam steift!"
Sie zog seine Hand von ihrem Munde und sagte ihm ins Ohr:
„Eben darum ist sie es."
„Hast Du Beweise?"
„Nein! Gott selbst hat den Verdacht in mir wachgerufen und er wird mir auch die Mittel in die Hand geben, einen Unschuldigen zu retten!"
Der Alte schüttelte traurig das graue Haupt.
Mittlerweise war das Summen und Flüstern verstummt und die Stimme des Geistlichen klang wieder durch den geweihten Raum.
„Die Worte des Mädchens haben ein Herz enthüllt, das in lichter Liebe zu dem Unglücklichen flammt, einer Liebe, die selbst den Tod überwindet. Es ist jene ewige, reine Liebe, die nur ein unverdorbenes Herz zu fühlen vermag, die alles verzeiht, die keine Schuld kennt. Ö, es erschüttert mich tief, daß die Liebe dieses reinen Mädchens sich dem Gesunkenen zugewandt hat! Hoffen wir, daß Gott, der Allbarmherzige,
dem Verbrecher um der Liöbe dieses unschuldigen Mädchens willen die furchtbare, Wider die Natur um Rache schreiende That vergeben möge!"
Das Mädchen weinte still vor sich hin, während der Geistliche in seiner Rede sortfuhr, den Segen über die Leiche sprach und die feierliche Handlung mit einem Gebet für den Frieden des Toten schloß.
(Fortsetzung folgt.)
Vermischtes
Heilbronn, 19. Juli. Ein schlechter Scherz oder die That eines Geisteskranken? Dieser Tage gieng dem hiesigen Wasserwerk aus Jagst- feld ein Telegramm zu des Inhalts, daß die ganze hiesige Wasserleitung vergiftet sei. Unter- zeichnet war es „Becker, Staatsanwalt." Recherchen ergaben als Absender den Buchbinder Becker, gegen den sofort Untersuchung eingeleitet wurde, da noch nicht feststeht, ob B. vielleicht geistig nicht ganz normal ist.
Triberg (Schwarzwald), 15. Juli. Jahresuhren, d. h. solche, die 400 Tage gehen, ehe sie wieder aufgezogen zu werden brauchen, werden neuerdings, wie wir in der „Breisg. Ztg." lesen, hier hergestellt. Sie besitzen nur ein Gehwerk und an Stelle eines schwingenden ein drehendes Pendel. Die Zugfeder ist nicht größer als bei einem gewöhnlichen Pendulewerk; das Werk besitzt nur ein Rad mehr. Die lange Gehzeit wird jedoch nicht hierdurch, sondern durch die langsamen Schwingungen des Drehpendels, das an einer sehr langen und dünnen Feder hängt, bedingt. Die Pendelfeder trägt oben eine Gabel, die von dem Anker vermittelst eines auf der Ankerachse sitzenden Stifts die Antriebe erhält. Diese Antriebe wirken auf die Verdrehung der Feder bezw. der Pendelscheibe und sind nötig zum Jnganghalten des Dreh- Pendels. Das Regulieren geschieht mittels zweier, auf der Pendelscheibe sitzenden Gewichte. Schraubt man diese mehr nach außen, so dreht sich das Pendel langsamer, die Uhr geht nach und umgekehrt. Diese Jahresuhrenfabrik wird als die einzige nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt bezeichnet.
Die Gartenbaugesellschaft in London hat bei Gelegenheit einer großen, zur Feier der Krönung veranstalteten Ausstellung auch eine Rosenschau ausgeschrieben, die sehr zahlreich beschickt worden ist und manches Neue enthält. Großes Aufsehen erregte, wie der „Köln. Ztg." geschrieben wird, die von einem amerikanischen Züchter ausgestellte blaue Rose, die mit ungewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln vor den Gefahren der Seeluft und des Salzwasfers über den Ozean gebracht worden, aber auch in vollkommen frischem und kräftigem Zustande in London angekommen war. Man hatte sie in einem besonders gebauten, schön gearbeiteten kleinen Gewächshause über das große Wasser gebracht. Von wissenschaftlicher Bedeutung war ein während der Ausstellung gehaltener Vortrag über die Züchtung neuer Rosenarten. Der Vortragende, ein sehr erfahrener Züchter, äußerte die Ansicht, daß Form und Farbe, Gestalt und Geruch, die man durch Kreuzung erziele, immer zufällig seien, sodaß der Züchter sich niemals eines bestimmten Ergebnisses versichert halten könnte.
(Der Nährwerj von Obst und Beerenfrüchten.) Im allgemeinen besteht die Meinung, daß Obst und Beerenfrüchte zwar als wohlschmeckende Abwechslung der Ernährung und als Anregung eine wertvolle Ergänzung geben, aber selbst nicht viel Nährwert haben. Diese Ansicht ist nach den neuen wissenschaftlichen Untersuchungen nur für einen kleinen Teil der bekanntesten Früchte zutreffend. Die meisten enthalten eine Menge teils fett-, teils stickstoffhaltiger Stoffe. Es versteht sich außerdem von selbst, daß sie mehr oder weniger Zucker haben, der als Nährstoff ersten Ranges heutzutage immer mehr anerkannt wird. Orangen, Aepfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Granatäpfel, Aprikosen, Pfirsiche, Quitten, Himbeeren, Johannisbeeren, Erdbeeren, Mispeln, Oliven, Bananen, Datteln, Feigen, endlich Walnüsse, Hasselnüsse und Mandeln enthalten in reifem Zustande 72—92 v. H.
Wasser. Werden sie für den Versand oder zur Aufbewahrung getrocknet, so können sie ihr Wasser bis auf 10 v. H. verlieren, jedoch wird ein so geringer Wassergehalt nur von Nüssen und Mandeln erreicht. Stickstoffhaltige Verbindungen sind in der Regel nur wenig vertreten: zu v. H. in Birnen, zu 1,45 v. H in Bananen und zu 15—20 v. H. in Mandem und Nüssen. In diesen Früchten und ferner in den Oliven erreichen die Fettstoffe zusammen mit öligen und harzigen Bestandteilen 58—68 v. H. Säuren sind in den Himbeeren und Johannisbeeren am stärksten vertreten, nämlich bis z» 1,25 v. H. Den meisten Zucker enthalten die fleischigen Früchte: Bananen, Datteln und Feigen deren Genuß daher als hervorragend gesund zu bezeichnen ist. Ueberhaupt ist der Schluß berechtigt, daß Obst, Nüsse und Beerenfrüchte nicht nur mit ihrem Geruch, Geschmack und an- genehmen Säuregehalt unserm Gaumen schmeicheln sondern auch einen wirklichen und zuweilen so.' gar erheblichen Nährwert haben.
Aus dem bekannten Büchle „So sem'm« Leut!", Schwarzwaldgedichte in der Mundart des oberen Murgthals von Otto Gittinger (Ver. lag von Greiner u. Pfeiffer-Stuttgart):
Ansproch.
Der Hansjörg goht Sonntich z' Mittag
Dur d' Wiesa na ond raucht Tuwack,
Ond führt am Strick sein' alte Kuah.
Der Hansjakob kommt au derzua:
„Was thuascht bau, Hansjörg?" sait er, — „i?
I gang spaziara fürs Pläsie."
„Was thuat die Kuah derbei, die alt?"
„Die Kuah, des ischt mein Onterhalt;
I kan doch net alleinich gaun.
Der Mensch will au sein Anspruch haun!"
(Unterschied s „Hat Ihre Frau auch Sprach, talent?" — „Das weniger, aber großes Sprechtalent!"
sVerschnappt.s A.: „Wenn ich mal nachts lange kneipe, bin ich am nächsten morgen ganz zerschlagen!" — B.: „So? Sind Sie auch verheiratet?"
Mutmaßliches Wetter am 22. und 23. Juli.
(Nachdruck verboten.)
Bei nur noch ganz vereinzelter Gewitterneigung ist für Dienstag und Mittwoch trockenes und größtenteils heiteres Wetter bei ziemlich warmer Temperatur zu erwarten.
Neueste NchrWru«. Telegramme.
Hamburg, 21. Juli. Der Dampfer „Primus" mit 185 Passagieren, meist Mitglieder des Eilbecker Gesangvereins an Bord, wurde nachts */s1 Uhr bei Blankenese durch den See- schlepper „Hansa" überrannt und durchschnitten, Er ist sofort gesunken. Von den 185 Passagieren sind nur etwa 30 gerettet.
Kiel, 20. Juli. Das unter dem Befehl des Prinzen Heinrich stehende erste Geschwader ist heute nachmittag von seiner Uebungsreise in der Nordsee durch den Kaiser Wilhelm-Kanal zurückgekehrt.
Indianapolis, 20. Juli. Der Nationalkonvent der Vereinigten Kohlengrubenarbeiter nahm den Vorschlag des Verbandspräsidenten Mitchell an, nach dem alle Mitglieder der Vereinigung wöchentlich einen Dollar zu Zwecken des Vereins beisteuern sollen. Der Konvent vertagte sich dann auf unbestimmte Zeit. Di! Bergwerkarbeiter waren nämlich selbst zu der Ueberzeugung gekommen, daß der allgemein: AuSstand eine Unklugheit wäre.
Sansibar, 20. Juli. Heute ist hier « Geschwader von 7 englischen Kriegsschiffen angekommen.
Briefkasten. I'. L. Sie fragen, ob Grün jetzt Mode ist? — Aniw.: „Grün" in allen Tonarten oder „rot" in den verschiedenen Spielarten, besonders kirschrot, ponceaurot, neurot, bordeauxrot, erdrot, ziegelrot, gar in Verbindung mit „grün" sind jetzt hochmodern. Uebrigens ist heutzutage Alles Mode. Eine richtige Zusammenstellung ist lediglich Geschmacksache und „Os gu8tib,i8 uv» ost äisputauckum", d. h. „lieber den Geschmack darf man nicht streiten"! bleibt ein altes Wort. Ob der Maler seine Töne in „äur" oder „molk" zu streichen beliebt, ist seine Sache. Polizeiwidrig ist dies nicht.
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.