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„Wie alt war sie?"
„Achtzehn Jahre!"
„Damals, als sie hieher kam?
„Nein, jetzt! Sie weilt schon seit zwei Jahren hier, seit ihre Erziehung in einer Genfer Pension vollendet ist."
„In welchem Verhältnis stand sie zu den übrigen Bewohnern des Schlosses?"
„In welchem Verhältnis? Ich meine, daß, nachdem ich sie als meine Nichte anerkannt, diese Frage sich von selbst beantwortet."
„Pardon, Herr Graf! Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß die Anerkennung seitens des Hauptes der Familie die gesellschaftliche Stellung der jungen Dame begründete, allein welcher Art waren die persönlichen Beziehungen derselben zu den Mitgliedern Ihrer Familie, zu den Gästen des Hauses? Sie wissen, Herr Graf, daß es nicht müßige Neugier ist, die mich zu dieser Frage veranlaßt, sondern der Ruf nieiner Pflicht, die mir den Versuch gebietet, den Schleier des Geheimnisses zu lüften."
Die duuklen, buschigen Augenbraunen des Grafen zogen sich zusammen, und eine Falte legte sich auf seine Stirn.
„Ich will Ihnen auch die Frage noch beantworten, Herr Staatsanwalt!" begann er nach einer kurzen Pause.
„Erika genoß hier mit ihrem heitern, sorglosen Wesen allgemeine Liebe und Zuneigung; nur meine vor Jahresfrist verstorbene Gattin und meine älteste Tochter Clotilde standen ihr ferner, hauptsächlich Wohl deshalb, weil Erika einen in religiöser Beziehung etwas frei zu nennenden Bildungsgang durchgemacht hatte und zu ehrlich war, nach dieser Richtung hin zu heucheln, die sie nicht empfand. Derjenige kleinere Teil der auf Hohenwellmitz verkehrenden Gäste, welcher mit — meiner Gattin sympathisierte, mochte, Wohl in Bezug auf Erika, ähnlichen Gedanken nachhängeu, wie diese, hütete sich aber natürlich, dies anders als im vertrautesten Kreise, aus dem es nicht bis zu mir dringen konnte, laut werden zu lassen. Das ist alles, was ich Ihnen nach dieser Richtung hin mitteileu kann."
„Noch eine Frage wollen mir Herr Graf gestatten, die vielleicht unzart klingt, aber zur Lösung des Rätsels, vor dem wir stehen, unerläßlich ist. Hatte Baroneste Erika ein Herzensverhältnis ?"
Das düstere Antlitz des Grafen färbte sich dunkler, wie von aufsteigendem Zorn. „Mir ist nie bekannt worden, daß meine Nichte" — der Graf accentuierte diese Worte nachdrücklich — „zu einem der Gäste des Schlosses in Beziehung getreten sei, welche über den Rayon der allgemeinen gesellschaftlichen Höflichkeit herausgingen. Und nun ist mein Verhör Wohl beendet, Herr Staatsanwalt?"
„Ich hatte nicht die Absicht, Sie einem Verhör zu unterziehen, Herr Graf", entgegnete dieser kühl, „aber ich meinte, daß Ihnen selbst daran gelegen sein müsse, den zu ermitteln helfen, der ein so junges, blühendes Menschenleben jäh vernichtet!"
(Fortsetzung folgt.)
Die Kaiserreise nach Jerusalem.
XXV.
25. Der Tabor.
Der Tabor ist mit einzelstehenden iEichen schwach bewaltet, zwei Klöster, ein griechisches und ein lateinisches, krönen ihn, ist er doch nach der Tratition der Berg der Verklärung, auf den Christus seine Jünger Petrus, Jakobus und Johannes führte, wo er vor ihnen verklärt ward, „daß sein Antlitz leuchtete wie die Sonne und seine Kleider weiß wurden als ein Licht," und neben ihm erschien Moses und Elias, die redeten mit ihm, Petrus aber sprach zu Jesu: Herr, hier ist gut sein; willst du, so bauen wir hier drei Hütten, dir eine, Mosi eine und Elias eine." Nicht der Tabor ist der Verklärungsberg, sondern nach den Evangelien ein Berg bei Cäsarea Philippi.
Der Tabor hat immer die Phantasie des jüdischen Volkes sehr erfüllt, ist er doch wieder Hohentwiel in weiter Ebene ein aus der Ebene emporragender Kegel, der besonders die Schöpfer- Majestät Gottes zu preisen scheint, wie David
im Psalm sagt: „Tabor und Hermon jauchzen in deinem Namen." Psalm 89, 13. Zu allen Zeiten war der Berg eine natürliche Feste, deren sich die Kriegführenden gern bemächtigten. Auf ihm sammelte Deborah das Heer, welches sie unter Baraks Führung stellte, ihn befestigte Josephus, als er Galiläa gegen Vespasian halten sollte, ebenso Malek-Adel, Saladins-Nachsolger. Jean de Brienne, König von Jerusalem, pflückte oben einige von den wenigen Lorbeeren, die ihm zu pflücken vergönnt waren. Der junge General Bonaparte hielt den Berg Tabor mit Kleber gegen die syrische Armee, die zum Entsätze von St. Jean dÄcre heranzog.
Heute hat der Berg sein kriegerisches Aussehen verloren, eine weite wohlbebaute Ebene trennt ihn südlich von dem sogenannten Kleinen Hermon, an dessen Fuße Na in liegt, ein Dörfchen mit einer Kirche, wo einst Christus den Sohn der Witwe erweckte und ihn seiner Mutter wiedergab. Als wir am frühen Morgen uns aus unfern Zelten erhoben, gingen wir an der Mauer des Klosters entlang zum nordöstlichen Allssichtsgipfel. Tief unter uns . im Umkreis liegt in der Morgensonne die Ebene Jesreel, das galiläische Meer, der Berg der Seelig- preisungen, auf welchem Christus die Bergpredigt gehalten haben soll, schneebedeckt der Hermon und Libanon, westlich der Karmel, und in der Ferne erglänzte das Meer im Morgengold. Zu Fuß kletterten wir dann den voni Abend zuvor bekannten Pfad hinab, fanden bald eine gute Straße, und im scharfen Trabe ritten wir landeinwärts, bis Plötzlich mehrere hundert Meter- unter uns Liberias sichtbar wurde und der liebliche See Genezareth, bläulich umsäumt und durch Gestalt und Farbe mehr einem Alpen- See vergleichbar, wie das Tote Meer.
Jenseits des Thalraudes, in einer Hochebene, auf welche mau hinuntersteigt, und welche ihrerseits Liberias soviel überragt, daß man die Stadt nicht sieht, ist das Schlachtfeld von Hattin, auf welchem Jerusalem und die andern Eroberungen des ersten Kreuzzuges beinahe sämtlich verloren gingen und dem Königreiche Jerusalem eine Wunde geschlagen wurde, die sich nicht mehr schloß, und an der es hundert Jahre später verblutete.
Wir ritten am Karn Hattin hinauf und rasteten auf dem Abhange, der Christus und seinen Jüngern auf ihren Wanderungen von Nazareth nach Magdala, Genezareth, Kaperuaum und Bethsaida so oft Ruhe und Aussicht gewährte. Manche wollen in dem Kegel von Hattin den Ort der Bergpredigt erblicken, niemand wird je darüber Gewißheit verschaffen, doch warum sollte es nicht gewesen sein? Einen schönern Versammlungsort konnte die Menge, die Christus hören wollte, und er keine bessere Stätte für eine Predigt unter freiem Himmel finden. Und welche Gedanken weckt die Erinnerung an die Todeswunde, welche das christliche Königreich Jerusalem hier erhalten, an derselben Stelle, wo Christus eine andere Norm als das Schwert für die Verbreitung seines Reiches gepredigt, da er sprach: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen!" Wir blickten auf die malerische Schlucht des Wadi-Hammam herunter, dessen steile Wände mit den hochliegenden, beinahe unerreichbaren Höhlen noch von den wilden Räuber- Kolonien sprechen, die Herodes der Große ausgerottet, indem er seine Krieger in Körben au Seilen herunterließ, uni den Kanrpf auf Leben und Tod mit den Unnahbaren zu versuchen. Dort auf jener Spitze der gelben Felsenwände stand der ehrgeizige Fürst, welcher es auf einen Thron abgesehen, und machte es möglich, daß ein Menschenalter später der Menschen Sohn mit seinen Jüngern frei hin und herwandelte, und daß die nach dem Worte Gottes dürstenden Mengen ungefährdet an den Räuber-Höhlen vorüberziehen konnten.
Wien, 30. Okt. Von einem neunhundertjährigen Jubiläum schreibt das „Neue Wiener Tagblatt": Eines der sinnigsten Feste der katholischen Kirche, der Totengedenktag Allerseelen, begeht in diesem Jahre ein stilles Jubiläum: Er ist 900 Jahre alt geworden. Vom Abte
Odilo im Kloster Clugny 993 gestiftet, wurde dieser Tag vom Papst Sylvester II. 998 zur allgemeinen Begehung empfohlen. Seitdem Hai der Brauch, am Allerseelentage die Gräber dahingegangener Lieben zu schmücken, sich über die ganze Christenheit verbreitet und ist vornehmlich in den Alpenländern zu einer Feier geworden, die aus dem Innersten der Volksseele schöpft. (Gleichfalls in den November fällt der Totengedenktag der rein protestantischen Länder. Es ist der letzte Sonntag im Kirchenjahre, acht Tage vor dem 1. Adventssonntage, ungefähr 4'/s Wochen vor dem Weihnachtsfeste. Auch dieser Gedenktag wird in Protestantischen Gegenden in gleicher Weihe begangen, während in überwiegend katholischen auch die Protestanten sich den: katholischen Brauche anzuschließen Pflegen.)
sHumorvoll.s Fabrikbesitzer (der bereits verschiedene Leute des Namens Meier im Geschäft hat, zum jungen Mann, der sich um eine Stelle bewirbt): „Sie heißen auch Meier? — Na, nächstens können wir statt Fabrik „Meierei" schreiben."
Telegramme.
Hamburg, 1. Nov. Bei der Einschiffung der Zwischendecksreisenden für den vom Hamburg nach New-Uork gehenden Postdampfer Pretoria wurde heute eine große Anzahl österreichischer Passagiere, welche auf ihrer Reise Wien berührt hatten, infolge einer Verfügung des amerikanischen Konsuls von der Einschiffung ausgeschlossen, da nach einer von Washington eingelanfene» Instruktion die amerikanische Regierung wegen der in Wien vorgekommenen Pestsälle eine Quarantaine von 14 Tagen für alle von und durch Wien kommenden Zwischendecksreisenden forderte.
Jerusalem, 1. Nov. Die Einweihung der Erlöserkirche verlief bei herrlichem Wetter. Kaiser Wilhelm hatte die Uniform der Garde du Corps angelegt. Türkische Infanterie u. deutsche Matrosen bildeten Spalier. Nach Beendigung des Festgottesdienstes trat der Kaiser ,m dm Altar vor und verlas eine Ansprache. Alsdann wurden den kaiserlichen Majestäten die Vertreter der evangelischen deutschen und außerdeutschen Kircheuregierungeu vorgestellt. Hierauf verlas der Präsident des preußischen Oberkirchenrates Dr. Barkhausen die. aus Anlaß der Einweihung der Erlöser-Kirche hinterlegte Urkunde. Der Kaiser vollzog hierauf die Einweihung der Kirche. Zu dem nachmittags stattgefundenen Diner- Waren die Geistlichen und die Johanniter vom Kaiser geladen. In der Gemeinde sowohl, wie unter den Eingeborenen herrscht eine begeisterte Stimmung. Die voni Kaiserpaar aufgegebenen Touren sind die nach Jericho und dem Toten Meer. — Der Kaiser begab sich heute früh nach dem Berge Zion und wohnte dort der Hissung der -türkischen Flagge auf dem Grundstücke dicht neben der Abendmahlstätte bei, welches der Kaiser vom Sultan erworben und den deutschen Katholiken überlassen hat. Der Kaiser zeigte dies dem Fürstbischof Dr. Kopp durch Telegramm an.
Jerusalem, 1. Nov. Nach dem Gottesdienst in der evangel. Erlöserkirche begaben sich die Majestäten in die Muriftan-Kapelle, woselbst die Vorstellung der Vertreter der deutschen Kirchenregierungen, der außerdeutschen Kirchengemeinschaften, der anwesenden Johanniter-Ritter, sowie die Unterzeichnung der über die Einweihungsfeier vollzogenen Festurkunde stattfand.
Paris, 2. Nov. Eine Note der „Agence Havas" besagt: Die neuen Minister hielten gestern Nachmittag bei Dupuy eine H/fltündige Beratung, erörterten alle Fragen der inneren und äußeren Politik in ihrer Gesamtheit, einige auch in den Einzelheiten. Die neuen Minister stellen sich morgen dem Präsidenten Faure vor. Man kam überein, daß in der ministeriellen Erklärung gesagt werden soll, die Regierung wolle eine weitere Etappe in der Richtung der völligen Einigung der republikanischen Partei sein. Das Kabinet werde für die Gesetze über Unterstützungsund Alterversorgungskasseu re. eintreten und werde bezüglich der Dreyfusaffaire sich beugen vor der Entscheidung des KassationsHofes._^
Redaktion, Druck und Beklag von L. Meeh k« Neuenbürg.