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Von vielen Seiten befragt, warum nicht nach alter Gepflogenheit aus der Mitte des Wahlkreises heraus ein Kandidat für den Reichstag aufgestellt werde, halt sich der für die Mahl des Professor Dr. Sieder am 17. April aufgestellte Wahlausschuß für verpflichtet, in Nachstehendem kurz eine sachliche Darstellung der Vorgänge zu geben, die zu den eigen­artigen Verhältnissen geführt haben, durch welche die diesmalige Reichstagswahl hier beherrscht ist.

Seit Wiederaufrichtung des deutschen Reiches ist der Vll. Wahlkreis der einzige Wahlkreis in Württemberg geblieben, der im Reichstag immer in deutschnationalem Sinne vertreten gewesen ist. Diese erfreuliche Thatsache, auf die jeder der nationalen Sache aufrichtig ergebene Kreisangehörige mit Recht stolz ist, ist nur dadurch erreicht worden, daß es bisher immer möglich gewesen ist, sei es von auswärts, sei es aus der Mitte des Wahlkreises selbst, unabhängig denkende Männer zu finden, welchen, weil sie sich nicht auf ein einseitiges Parteiprogramm verpflichtet hatten, das Vertrauen der nationalgesinnten Wähler aller politischen Richtungen entgegengebracht werden konnte und entgegengebracht wurde. Auch für die diesmalige Reichstags­wahl war in der Person des Hrn. Professor Dr. Sieder der Mann gefunden, der nach der Ueberzeugung derjenigen, deren Rat die reichstreue Wählerschaft bisher stets mit Vertrauen gefolgt ist, die Vertretung des VII. Wahlkreises in altgewohnter würdiger Weise zu übernehmen bereit und befähigt gewesen wäre. Eine am 17. April in Calw stattgehabte zahlreich besuchte Versamm­lung von Vertrauensmännern aller nationalpolitischen Richtungen hatte einstimmig beschlossen, dem Herrn Dr. Sieber die Kandidatur anzutragen und einer zu diesem Zwecke gewählten, aus je 3 Vertretern der 4 zum Wahlkreis gehörigen Oberämter zusammengesetzten Deputation hat derselbe seine Bereitwilligkeit zur Uebernahme der Kandidatur erklärt. Wenn wir uns aufrichtig gefreut hatten, unseren Gesinnungsgenossen wieder einen Kandidaten Vorschlägen zu können, mit dem und durch den unser Wahlkreis in althergebrachter Weise der guten Sache wieder gesichert erschien, so hatten wir unsere Rechnung leider ohne die Stuttgarter Parteileitungen gemacht. Obgleich wir in Wahlsachen noch niemals den Rat und den Beistand irgend einer Partei in Anspruch genommen hatten, wurde unser VII. Wahlkreis von den Leitungen der konservativen Partei und der deutschen Partei bei Ausstellung der Kandidaten in den verschiedenen Wahlkreisen des Landes in ihre Combinationen mit ein­bezogen und, ohne uns darum zu befragen, der konservativen Partei zugeteilt. Auf diesem ohne unser Vorwissen gefaßten Beschluß der Parteileitungen fußend, versuchte die konservative Partei uns einen Kandidaten streng konservativer Richtung aufzudrängen.

Es würde zu weit führen, auf die peinlichen Verhandlungen, welche sich an diesen Vorgang knüpften, hier näher ein­zugehen, das Resultat war, daß trotz unserer eindringlichsten Vorstellungen die konservative Partei an ihrer Forderung sesthielt und alle Mittel anwandte, sie durchzusetzen. Zu unserem großen Bedauern sah sich Herr Dr. Sieber, dem Ansturm von jener Seite nachgebend, veranlaßt, von der Kandidatur zurückzutreten, in der Annahme, daß durch seinen Rücktritt einer Spalt­ung der nationalen Wählerschaft vorgebeugt werde. Wir unterlassen zu untersuchen, ob diese Annahme zutreffend war oder nicht, nach unseren Erfahrungen ist die nationale Wählerschaft unseres Wahlkreises in ihrer großen Mehrheit gewöhnt, für das was sie für ihre häuslichen Bedürfnisse selbst als richtig erkannt hat, einzutreten, und wenig geneigt, sich einer Partei- Parole von außen, die zumeist von Leuten ausgeht, welche mit den einschlägigen Verhältnissen gänzlich unvertraut sind, zu fügen. Unsere Bemühungen, nach dem Rücktritt des Herrn Dr. Hieber einen andern für unsere Verhältnisse passenden Kandidaten zu gewinnen, sind an der ablehnenden Haltung des Betreffenden leider gescheitert und somit sind wir seit 27 Jahren zum ersten Mal in der peinlichen Lage, unfern Kreisgenossen keinen Mann zur Wahl Vorschlägen zu könnnen. Möge nun rn diesen unerfreulichen Verhältnissen ein Jeder so handeln wie er es für gut und mit seinem Gewissen vereinbar findet, um seiner Wahlpflicht in nationalem Sinne zu genügen.

Neuenbürg» 13. Juni 1898. Im Auftrag:

Ferdinand Schmidt

Kommerzienrat.