Der Snltan «. die Resormbestrebnngen i« der Türkei.
In Bezug auf die Unruhen im Orient ist meistens nur von den Hebelgriffen Griechenlands und der verzweifelten Lage Kretas die Rede. Da aber Kreta eine türkische Provinz ist, so must doch auch die wichtigste aller orientalischen Fragen in der gegenwärtigen gefahrvollen Krisis unter- sucht werden, nämlich die Hauptfrage, ob die Türkei tatsächlich bereits ein mit Riesenschritten dem Untergang geweihtes morsches Staalswesen mit gänzlich verrotteten Einrichtungen geworden ist, oder ob gewisse Anzeichen dafür vorhanden sind, daß eS dem Sultan Abdul Ham d und seinen Staatsmännern eine ernste Sache ist, zeit gemäße Reformen einzuführen und den immer noch bedeutenden Rest des türkischen Reiches vor dem Untergange zu retten. Erinnern wir uns zunächst an die Thatsache, daß, als vor nun zwanzig Jahren der jetzige Sultan Abdul Hamid den Thron bestieg, sich die Türkei in zerrütteten Verhältnissen befand, denn unter der schlechten Regierung der früheren Sultane und ihrer schlimmen Günstlinge waren das Heer, die Ber waltung und die Finanzen der Türkei in döse Unordnung geraten, auch lagen Landwirtschaft und Gewerbe, Handel und Verkehr schwer dar- nieder. Bald nach dem Regierungsantritt des Sultans Abdul Hamid brach dann der große Krieg der Türket mit Rußland, Rumänien, Serbien und Montenegro aus, welche vier Staaten alle die Zeit für gekommen erachteten, von der Türkei Länder zu erobern. Durch diesen bekanntlich für die Türkei sehr unglücklichen Krieg gelangte das türkische Reich direkt an den Abgrund. Wenn sich nun auch das christliche Europa niemals für die türkischen Zustände erwärmen kann, so müssen wir gerechter Weise doch zugeben, daß der Sultan Abdul Hamid und seine Ratgeber sich 1878 einer verzweifelt schweren Rcsormausgabe gegenüber befanden. Es wrrd indessen von glaubwürdiger Seite berichtet, daß es der Thatkraft, dem ungebeugten Mute, der Einsicht und Ausdauer des Sultans Abdul Hamid dennoch gelungen ist, einige Ordnung in die verworrenen Zustände seines Reiches zu bringen und mehrere Reformen durchzuführen. Zunächst wird gerühmt, daß die Türkei zwar langsam, aber doch pflichtgetreu ihren Zahlungsverpflichtungen nachgekommen ist, und daß die gegenwärtige große Geldnot nur durch die Aufstände in Armenien, Kreta und Macedonien verursacht worden ist. indem wegen dieser Aufstände und Unruhen die Türkei einen großen Teil ihres Heeres auf dem Kriegsfuß erhalten muß, wodurch Unsummen verloren gehen. Thatsache ist ferner, daß die türkische Regierung nach europäischem Muster die Verwaltung, die Finanzen, die Rechtspflege, die Volksbildung, die Land- Wirtschaft und den Handel zu reformieren begonnen hat. Auch wird behauptet, daß die Türkei ein mit Mausergewehren und Krupp'schen Kanonen ausgerüstetes Heer in der Stärke von 400 000 Mann noch ins F> ld stellen könne Ferner ist die Schuldenlast der Türkei gar nicht so sehr hoch, nämlich nur 2 Milliarden Francs, während z. B. Spanien 5 Milliarden Schulden hat. Er- wägt man dabel die schlechte Finanzlage und den geringen Kulturzustand in Griechenland, so muß es thalsächlich als eine große Frechheit oder als der Ausbruch politischen Glößenwahns be- zeichnet werden, wenn Griechenland, welches erst 1878 von der Türkei Thessalien und Epirus erhielt, jetzt ohne Werteres auch noch Kreta weg nehmen will und dabei verlangt, daß die Türkei und die Großmächte ruhig dirsem Bruche des Völkerrechtes zusehen sollen. Nur durch eine Beruhigung der leidenschaftlichen Orientalen kann in der Türkei das angefangene Reformwerk gedeihen.
Unterhaltender Heil.
Eine teure Festrede.
Humoreske aus früherer Zeit von A. Breyer.
(Fortsetzung.)
Es war ihm doch nicht ganz geheuer zu Mute. Gerade der Aberglaube und die damit engverbundenr Gespensterfurcht war seine schwache Seite.
Die vernommene Spukgeschichte hatte in seinem Innern ein Gefühl des Grauens erweckt, das er seiner Tochter gegenüber zwar trefflich zu maskieren wußte, daS aber jetzt da er allein war. recht beklemmend auf seinen Herzschlag einwirkte!
Eine Weile saß er schweigend da, während sein Blick so zufällig nach den dunklen Ecken des Gemachs hinüberschweifle, woselbst, wie's ihm schien, die Poltergeister lauerten.
Endlich stand er auf und trat an den Tisch, auf dem daS Abendessen poch unberührt sich vorfand.
Spangeudors verspürte heule keinen Appetit, stürzte aber dafür ein Glas Wein auf einen Zug hinunter. Das gab seinem Innern die gewohnte Festigkeit wieder, und seine Gespenstcr- furcht belächelnd, nahm er am ArhcitStijche Platz.
Zufällig streifte jetzt sein Blick die vor ihm stehende Stutzuhr. und unwillkürlich überlief rin kalter Schauer seinen Körper; Der Zeiger wies auf fünf Minuten nach elf — die Mitternachtsstunde war also angebrochen.
„Und ich bleibe, allen Gespenstern zum Trotz!" murmelte er entschlossen und begann seine Rede mit lauter Stimme aus dem Gedächtnis herzusagen.
Es ging anfangs ganz glatt, wie „ge- schmiert", bis zu dem Passus. bei dem er schon wiederholt stecken geblieben war, dort nämlich, wo er die Empfindungen der Menge zusammenzufassen hatte in dem Jubelruf. „der", schrie er mit erhobener Stimme, „wie ein Chor von Pauken und Trommeln —"
„Posaunen und Trompeten!" ließ sich in diesem Augenblick korrigierend eine hohle Grabesstimme vernehmen, die aus dem Fußboden zu dringen schien.
Das Blut Spangendors's drohte zu erstarren. sekundenlang setzte sein Pulsjchlag aus.
„Posaunen und Trompeten deS heiligen Sion!" tönte abermals dir geisterhafte Stimme an's Ohr des Entsetzten, und gleichzeitig begann es paukenartig zu bullern und zu rasseln und ein Schlag, von dem der Fußboden erzitterte, bildete den Schluß dieser höllischen Kundgebung, zugleich aber das Fluchtsignal für Spangendorf, dessen Händen die Lampe, die er ergriffen hatte, entfallen war, und der nun, in Angstschweiß gebadet, aus dem Zimmer stürzte, und im Hinstürmen Alles um- und fortreißend, was ihm im Wege stand. —
Einige Minuten später huschten, an den Wänden hintappend, zwei dunkle Gestalten durch den finstern Corridor nach der in den Garten führenden Hausthür, diese wurde geöffnet und ein junger Mann trat hinaus in die Nacht.
„Schlaf wohl, mein herziges Susettchen!"
„Schlaf wohl, mein Edgar, und gute Nachtj!"
„Gute Nacht! Auf Wiedersehen morgen!"
So flüsterte es hüben und drüben, dann ließ sich noch ein verdächtiger Laut vernehmen, der von zwei schnalzenden Lippcnpaaren herzurühren schien, und der junge Mann verschwand in der Dunkelheit.
Die Hausthür ward geräuschlos geschloffen.
m.
In der zehnten Mittagsstunde des folgenden Tages schritten der Rentmeister von Siebenlinden und Baron von Pilz vor dem SchulhauS auf und ab.
Beide trugen Cylinderhüte und Fracks, und war ihre Leibwäsche, einschließlich der Handschuhe von tadellosem Weiß.
Böse Zungen behaupteten zwar, daß die Manschetten und „Vatermörder" der „Zukunfts- Exzellenz" einem Papierladen entstammten, und daß seinen Frack mit den unverhältnismäßig kurzen Schößen vor ihm irgend ein Zählkellner getragen hatte und es später wieder thun werde; allein wann ist die Spott- und Ber- leumdungsjucht skrupulös gewesen in der Wahl ihrer Opfer?
Run doch schon der Dichter im Unmut aus:
„Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen.
Und das Erhad'ne in den Staub zu zieh'n I"
Die beiden Herren unterhielten sich recht lebhaft über den nahe bevorstehenden Empfang
des Fürsten, wie ganz natürlich und selbstverständlich.
„Ich werde also heute meine Jungfernrede Hallen", sagte, den Schritt hemmend, Herr Spangendorf, „und wenn ich es Ihnen offen bekennen soll, sehe ich mit gewissem Bangen dem großen Moment entgegen, da mein Cicero die Feuerprobe zu bestehen haben wird."
„Bah, die Sache erscheint, per Distanzr betrachtet, weit gefährlicher, als sie in Wirklichkeit ist. Was mich betrifft, so habe ich schon stundenlange Reden ohne jede Vorbereitung ge- halten. Freilich ist das Extemporieren nicht Jedermanns Sache, und nur —"
I» diesem Augenblick erdröhnten Böllerschuss.- und die Glocken auf dem Airchtum schlugen zusammen.
„Ah, der fürstliche Zug ist in Sicht!" hauchle der Rentmeister und das auffallende Erbleichen seiner Wangen zeigte an, daß etwas wie „Kanonenfirber" ihm ln die Glieder gefahren <war. „Nicht wahr, Herr Baron, Sie werden soufflieren?" sagte er, während jetzt Beide in raschem Tempo zum Dorfe hinaus, nach der nahen EwpfangSstältc eilten.
Herr von Pilz sagte seinen kräftigen Beistand zu.
Eine frohbewegte, festlich gekleidete Menschenschaar hatte sich bei der mit Fahnen und Fähnchen geschmückten Ehrenpforte eingefunden, um hier dem durchreisenden Landesfürsten den ersten Huldigungsgruß zu entbieten.
Die beiden Schulklassen waren in Reih und Glied aufmarschiert und hatten an geeigneter Stelle Posto gefaßt, und dort, an der Spitze der Schülerkolonne, stand zwischen den beiden Lehrern, Buchholz und Freimund, Susettchen, deS Rentmeisters holdes Töchterlein, schneeweiß» wie ein Engel, und einen prächtigen Blumenstrauß in den zarten Händen.
Da der junge Magister gleichfalls in Frack. Lravatte und weißen Handschuhen sich präsentierte, so hatte der festliche Anlaß hier das Bild eines Brautpaares geschaffen, daS im Begriff zu stehen schien, den Gang zum Trau- aliar anzutreten, und waren über diese unbeabsichtigte Illusion der Herr Rentmeister und dessen Schwiegersohn iu 8pe vermutlich sehr wenig erbaut.
Letzterer verabsäumte denn auch keineswegs, seinen grenzenlosen Ingrimm gegen den tödlich gehaßten Rivalen durch eine Menge giftiger Blicke zu verschießen.
Näher und näher kam der fürstliche Wagen, der von berittener Land-Gendarmerie eskortiert wurde, heran, und hielt endlich.
Nachdem das brausende Hoch- und Hurrahrufen verhallt, die geschwenkten Hüte und Tücher zur Ruhe gelangt waren, traten Lehrer Freimund und Fräulein Susette Spangendorf an die offene Kutsche heran, und während Susette dem ihr freundlich zulächelnden Fürsten den Blumenstrauß überreichte, begann jener die Begrüßungsrede:
„Allerdurchlauchtigster Fürst, allergnädigster Herr und großmächtiger Gebieter!
Mit jauchzendem Frohlo cken begrüßten wir das Erwachen des heutigen Tages, an dem uns, nach dem weißen Ratschluß des Ewigen, daS unendliche Glück zu Teil werden sollte, unfern theuren, inniggeliedten, all- und hochverehrten Fürsten von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Und jetzt ist der große, heißersehnte Augenblick da! O. daß ich tausend Zungen hätte, und eine Stimme wie Donnerrollen rc.
„Der Mensch spricht ja Ihre Rede", raunte jetzt der Baron dem Rentmeister zu, der wie geistesabwesend dastand.
„Jawohl, meine Rede ist's, Satz für Satz, Element!"
„Wort für Wort sogar!"
„Ich bin verloren, bin ruiniert, unsterblich blamiert!" Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, auf der dicke Schweißtropfen perlten. „Da, jetzt kommen die Posaunen und Trompeten", ächzte er. „Alles stimmt, kein Pünktchen fehlt, und es geht ihm wie geschmiert. O, ich armer, geschlagener Mann!"
(Schluß folgt.)
Redaktion, Druck und Verlag von L. Reeh in Neuenbürg.