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Peterhof zurückgekehrt. Die Majestäten j sollen über den ihnen diesmal seitens der Bevölkerung Finnlands bereiteten Empfang außerordentlich verstimmt sein, weil derselbe durchgängig sehr kühl war, während bei den früheren Besuchen des Kaiserpaares an der finnischen Küste dasselbe stets mit großer Herzlichkeit ausgenommen wurde. Die seit Jahresfrist unverhüllt hervortretenden Versuche zur vollständigen Russifizier- ung Finnlands lassen diese Kühle der Finländer freilich ganz erklärlich erscheinen.
MisjM'n.
Ein Verbrecher.
Erzählung von Feodor Bern, i Fortsetzung.)
Kein Wort dieses Gesprächs war Heinrich entgangen.
Auch der Fremde mußte genauer zugehört zu haben, als es den Anschein hatte, denn er rührte sich in seiner Ecke.
„Ihr sprecht wohl von dem Mörder des Advokaten Fernau?" fragte er plötzlich.
Die Bauern hatten ihn wohl in der Ecke sitzen sehen, ohne ihn weiter zu beachten. Jetzt richteten sich aller Augen auf ihn.
Er trug eine einfache, halbstädtische und halbländliche Kleidung. Die Mütze hatte er auf dem Kopf behalten, trotzdem war ein wolliges, äußerst Helles Haar darunter sichtbar. Bon derselben auffallend Hellen Farbe waren seine starken, buschigen Augenbrauen, die den kleinen grauen Augen darunter einen eigentümlichen Ausdruck gaben. Seine Farbe war grau, fast bleich. Er wiederholte seine Frage nicht, blickte aber alle Gäste der Reihe nach prüfend an.
„Wir sprechen davon," erwiderte der Schulze endlich
„Und ein Mann hier aus dem Dorfe ist als sein Mörder eingezogen?" fragte der Fremde weiter.
„So ist es," bestätgte der Schulze.
„Er ist aber unschuldig," fügte ein andrer hinzu.
„Wißt Ihr das bestimmt?"
Der Gefragte schwieg.
„Sagt mir nur, ob er so aussieht," fuhr der Fremde fort und beschrieb den Waldhüter genau.
„So sieht Steingruber aus," riefen mehrere zugleich.
Ueber das Gesicht des Fremden zuckle ein Lächeln. „Wie der Mann heißt, weiß ich nicht," fuhr er fort, „aber ich weiß, daß er der Mörder ist."
„Ihr müßt es?" riefen mehrere überrascht.
Mit steigender Spannung hatte Heinrich dem Gespräch zugehört. Er hatte sich nicht gerührt. Jetzt sprang er heftig auf und trat vor den Fremden hin.
„Er lügt," rief er laut. „Er lügt — Steingruber ist unschuldig."
Auch der Fremde sprang auf. Er schien überrascht und hatte einige Zeit zur Sammlung nötig.
Die Bauern mischten sich dazwischen uud forderten Heinrich auf, des Waldhüters Unschuld zu beweisen, wenn er so genau darum wisse.
„Ich habe ja nicht gesagt," fuhr der Fremde mit spöttischem Lächeln fort, „daß der Mann, den ich meine, der Waldhüter sei oder Steingruber heiße— diesen kenne ich nicht, aber ein Mann, wie ich ihn beschrieben habe, hat den Mord begangen, darauf wollte ich schwören."
„Woher wüßt Ihr dies?" fragten mehrere.
„An demselben Tage," erzählte der Fremde, „an welchem der Advokat dort im Walde erschlagen ist, ging ich durch den Wald. Ich halte keine Ahnung davon, daß ein solches Verbrechen in meiner Nähe geschehen werde, oder bereits vollbracht war. Arglos ging ich meinen Weg. Als ich mich der Stelle näherte, wo im Grunde die Quelle entspringt — Ihr kennt sie — ?"
„Jawohl," riefen mehrere Stimmen ungeduldig.
„Als ich mich der Stelle näherte, sah ich hastig einen Mann von der andern Seite kommen und der Quelle zueilen. Er schien es eilig zu haben, denn er bemerkte mich nicht und doch war ich keine zwanzig Schritte von ihm entfernt. Hastig kniete er an der Stelle nieder. Er wusch sich die Hände. Sie waren mit Blut beschmutzt — das sah ich genau. Auch jetzt dachte ich noch nichts Schlimmes. Bis auf wenige Schritte näherte ich mich ihm. Er mochte gehört haben, denn er blickte auf und sah mich erschreckt, starr an. Ich habe sein Gesicht nicht vergessen. Er war bleich, verzerrt. Die Augen waren ihm halb aus dem Kopf getreten. Hastig sprang er auf. Sein Körper schwankte und zitterte. Einen Augenblick schien er unschlüssig, was er thun solle, dann sprang er fort, hastig und lief stolpernd in den Wald hinein. Ueber der Schulter trug er ein Gewehr."
„Das war der Waldhüter!" rief ihn unterbrechend einer der Bauern. — Erst jetzt," fuhr der Fremde fort, „wußte ich, daß der Mann kein gutes Gewissen gehabt hatte. So wie er mich angeblickt
— so — gerade so blickt ein Mörder!"
„Wißt Ihr das genau?" fragte einer
der Gäste.
„Ich weiß es." erwiderte der Fremde mit Bestimmtheit. „Als ich Soldat war, erstach der Tambour einen Unteroffizier, ans den er eiserwchtig war, und wenige Minuten darauf sah ich ihn. Es ist eine ziemliche Reihe von Jahren her, aber solch ein Anblick vergißt sich nicht wieder. Als ich deshalb am folgenden Tage hörte, daß der Advokat Fernau im Walde erschlagen sei, da wußte ich, daß ich seinen Mörder gesehen hatte. Jener Mann war es gewesen!" —
„Der Waldhüter," fügte einer der Gäste hinzu. Fast regungslos hatte Heinrich zugehört. Das Blut war aus seinen Wangen gewichen. Gewaltsam kehrte es jetzt zurück. Mit einem Satz sprang er auf den Fremden und erfaßte ihn an der Schulter.
„Du lügst," rief er aufgeregt. „Steingruber ist es nicht gewesen! Er nicht.
— Ein andrer — der Waldhüter ist unschuldig !"
„Laßt mich in Ruhe!" rief der Mann nicht ohne Bestürzung, indem er sich los zu machen suchte.
„Fang kein Händel an!" riefen die Bauer» drohend. „Wir wissen, weshalb Du ihn in Schutz nimmst."
Heinrich ließ den Fremden fahren und stürzte zum Zimmer hinaus. Er mußte ins Freie, denn er fühlte, daß er nicht Herr der in ihm aufsteigendcn Leidenschaft bleiben werde.
„Der Waldhüter ist der Vater von des Burschen Geliebten." sprach der Schulze erklärend zu dem Fremde», als Heinrich das Zimmer verlassen hatte, „deshalb nimmt er ihn in Schutz. Habt Ihr Euch aber auch nicht getäuscht?"
„Ich bin nicht blind, entgegneie der Mann. „Ob es der Waldhüter gewesen, weiß ich nicht; das habe ich auch nicht gesagt. Der Mann sah aus wie ich ihn beschrieben."
„Dann ist es Steingruber gewesen," bemerkte der Schulze. — Weshalb habt Ihr aber nicht sogleich von dem, was Ihr gesehen, bei dem Gericht Anzeige gemacht?"
„Ich erfuhr noch an demselben Tage, daß der Mörder bereits festgenommcn sei. Da ist dein Zeugnis überflüssig, dachte ich. Dann konnte ich nicht lange in der Stadt bleiben, meine Geschäfte riefen mich Weiler, und offen gestanden, ich hatte auch wenig Lust, mir eine Menge Umständlichkeiten aufznbürden, und ohne die wäre ich nicht weggekommen, hätte ich einmal Anzeige gemacht. Unsereiner hat wenig Zeit, wenn er seinem Geschäfte Nachkommen will. Dann dachte ich auch, das Gericht ist ja einmal dazu da, dergleichen Sachen aufzusuchen — wer es nicht nötig hat, mag sich nicht darein mischen."
„Euer Zeugnis ist aber von der größten Wichtigkeit," fiel der Wirt ein. „Bis jetzt haben sic dem Waldhüter nichts anhaben können. Ihr werdet doch wohl beschwören müssen, was Ihr gesehen habt.
„Nun — gehts nicht anders, so lhue ich es," bemerkte der Mann. „Ich mag niemand ins Verderben stürzen, ich mag aber auch nicht die Unwahrheit sagen, wenn ich gefragt werde. Am Liebsten wäre es mir freilich, mich früge kein Mensch darnach."
„Ihr könnt nicht mehr darum hinweg," sprach der Schulze. „Seid Ihr klug, so meldet Euch dem Untersuchungsrichter selbst, wenn Ihr in die Stadt kommt, denn morgen muß ich doch in die Stadt."
„Thut es — thut cs," sprach der Mann. — „es ist besser so."
„Und wie heißt Ihr?"
„Mein Name ist Jürgens."
„Und wo wohnt Ihr?"
Der Gefragte lachte laut auf. „Eigentlich nirgends. Ich bin ein Handelsmann und das ganze Jahr unterwegs. Es hat noch nicht so viel abgeworfen, daß ich mir einen festen Wohnsitz genommen habe." „Wo seid Ihr aber zu finden?"
„Morgen gehe ich zur Stadt und bleibe wahrscheinlich einige Tage dort. Wollt Ihr zu dem Richter einmal davon sprechen, fo mögt Ihr ihn bitten, mich bald zu vernehmen, damit ich nicht obenein Zeit dadurch verliere."
Der Schulze sagte dies bereitwilligst zu. —
(Fortsetzung folgt.)
Redaktion, Druck und Verlag von Chrn. Meeh in Neuenbürg