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Den Realgymnasien, die weder Fleisch noch Fisch seien, sprach er die Lebensberechtigung ab, scharf geißelte er die Ueberbürdung der Schüler an den Gymnasien, denen mit lateinischen Aussätzen, Gramatikalregeln, schwierigen Kompositionen u.s.w. der Kopf so vollgepropft werde, daß die Erziehung derselben zu Männern, zu deutschen Pa­trioten und zu ausgeprägten Charakteren geradezu notleide. Er wartete mit einem reichen statistischen Material auf, beklagte die Ueberproduktion an gelehrten Prole­tariern, streifte auch eine wunde Seite in unserer Journalistik.

Was Tausenden von Anhängern einer Reform unseres gelehrten Schulwesens in Jahrzehnten nicht gelungen wäre, das hat unser Kaiser durch seine jüngste Programm­rede ohne Zweifel erreicht. Freilich ist der Erfolg seiner dominierenden Stellung zu verdanken, aber des Kaisers Verdienst um diese Sache wird dadurch nicht kleiner; denn um sein schweres Gewicht in die Wag­schale zu werfen, mußte er sich vor allem in die vorliegende Materie vollständig ein- arbeiten und der Kaiser selbst ist der letzte, der sich seiner vollen Verantwortung aller Folgen seines Vorgehens nicht durchaus bewußt wäre.

Der Kaiser will nicht blos herrschen, sondern regieren. Das Vorrecht seiner Geburt faßt er im Sinn des Dichters auf:

Was du ererbt von deinen Vätern hast,

Erwirb es, um es zu besitzen."

So zeigt sich auch in dieser, schon seit Jahren brennend gewordenen Frage unser Kaiser als ein Mann, der nicht blos mit der neuen Zeit fortschreiten, sondern an die Spitze der Aufgaben und Fortschritte unserer Zeit treten will. Wir haben in ihm, was wir brauchen, einen intelligenten und thatkräftigen Monarchen, und heute schon verdient er den Namen, den ihm einst die Geschichte geben wird: Wilhelm II., der Reformkaiser!

Berlin, 6. Dez. In der vorgestrigen Besprechung der nach Berlin berufenen Corpsgeneralärzte über das Koch'sche Heil­verfahren wurden jVorträge von General­stabsarzt Dr. Coler, Professor v. Berg­mann und Stabsarzt Dr. Pfuhl gehalten. An der Spitze vieler Generäle wohnte auch Moltke der Besprechung bei.

Für den Bau der Wißmann-Dampfer hat der Kaiser 3000 anweisen lassen.

Major v. Wißmann und Freiherr v. Soden haben dem Sultan von Sansibar einen Besuch gemacht. Dann hat Wiß­mann seine Reise zur Inspizierung der Küstenplätze angetreten.

Berlin, 5. Dez. Eine von 2000 Kellnern besuchte Versammlung im Winter­garten beschloß, Protest gegen den Beschluß der Arbeiterschutzkommission zu erheben, erheben, nach welchem der gesamte Kellner­stand der Gesindeordnung unterworfen werden soll.

In Spandau ist in der vorigen Woche eine kaum glaubliche Wette zum Austrag gebracht worden. Unter einer Anzahl Gäste in einer Restauration kam, dem Anz. f. d. Havell. zufolge, an einem der vergangenen sehr kalten Tage abends das Gespräch daraus, ob es wohl Jemand wagen würde, bei der herrschenden Tem­

peratur in der Havel zu baden. Ein Herr behauptete, dazu würde sich wohl Niemand bereit finden, und er setzte den Betrag von 10 <,16 aus für den, der das Wage­stück doch unternehmen würde. Wider alles Erwarten nahm ein anderer Gast, ein Bäcker, die Wette auf. Derselbe er­klärte, er würde das Bassin der Badean­stalt beim Schafstall in der ganzen Aus­dehnung durchschwimmen. Da sich der tollkühne junge Mann durch nichts von seinem Entschluß abbringen ließ, so wurde die Wette fest abgeschlossen, und alsbald begaben sich die Kontrahenten in Beglei­tung von Zeugen zum Havelufer. Hier angekommen, entkleidete sich der Bäcker sofort; seinem Beispiel folgte zu gleicher Zeit ein Tischler, welcher auch das Wag­stück ausführen wollte. Beide stürzten sich, (das Thermometer zeigte an dem mond­hellen Winterabend 8 Grad Räaumur unter Null) ohne Zögern in das Wasser, schwammen das Bassin im Kreise ab und kamen wohlbehalten, allerdings vor Frost zitternd, ans Land. Vom Trocknen des Körpers an Ort und Stelle mußten sie Abstand nehmen, denn es bildete sich als­bald auf der Haut eine Eiskruste. Die beiden Wettschwimmer kleideten sich viel­mehr so schnell als möglich an und liefen zurück nach dem betreffenden Lokal, wo der gewonnene Betrag in Grog und Bier verzehrt wurde. Welche Folgen der Leicht­sinn gehabt, ist bisher nicht bekannt ge­worden , au jenem Abend schienen die beiden jungen Männer an ihrer Gesundheit durch das Bad keinen Schaden erlitten zu haben.

Wie man der Allg. Z. aus Dresden meldet, hat der Landtagsabgeordnete Kaufmann Franz Müller dem Stadtrote von Freiberg 15000 ^ übergeben, damit dieser das Koch'sche Heilverfahren unbemittelten Kranken, insbesondere Ar­beitern der Weißenborner Papierfabrik zugängig mache.

Zwei brücken, 27. Nov. DieZw. Ztg." erzählt nachstehendes Beispiel seltener

Unver.frorenheit. Eine Dame ließ

sich in einem hiesigen Geschäfte eine Reihe von Schirmen zur Auswahl vorlegen, musterte dieselbe mit Kennerblick und legte sie dann mit nachsinnender Mienezu den übrigen" mit den Worten: So, danke sehr, nun können Sie die Schirme wieder weg­legen. Ich habe mir einen von auswärts kommen lassen und wollte nur sehen, ob man mich nicht übervorteilt hat." Sprachs und verschwand ehe man Zeit hatte, siehinauszubegleiten."

Württemberg.

Für den gesteigerten Postpäckerei- Verkehr vor Weihnachten sind wie in früheren Jahren die erforderlichen Vor­kehrungen durch Vermehrung der Beförder­ungsgelegenheiten und der Arbeitskräfte rc. getroffen worden. Im Zusammenhang damit muß den Aufgebern von Postpacketen, wenn sie auf die rechtzeitige und unver­sehrte Ankunft der letzteren rechnen wollen, dringend empfohlen werden, die Einliefer­ung nicht erst in den letzten Tagen, sondern möglichst frühzeitig^ bewirken, auch die Sendungen möglichst fest und dauerhaft zu verpacken und mit einer deutlichen, voll­

ständigen und haltbar befestigten Aufschrift zu versehen.

Fellbach, 4. Dez. Heute hielten die Offiziere vom 7. Jnf.-Reg. Nr. 125 auf hiesigem Jagdgebiet eine Feldjagd, wobei 82 Stück Hasen erlegt wurden.

Ulm, 5. Dez. Ein Rekrut des Feld­artillerie-Regiments Nr. 13, Thierer von Beimerstetten, der einzige Sohn sehr ver- möglicher Eltern, schnitt sich mit einem eigens hiezu gekauften Rasiermesser ein Ohr ab, um vom Militär wegzukommen, und warf das Ohr in den Kasernenhof. Das­selbe soll geholt und wieder angenäht wor­den sein.

Aus Ehingen melden die Blätter: Fabrikant Trunz von hier, welcher kürz­lich das Gerücht verbreiten ließ, er habe an der Spielbank von Monaco 200000 Franken gewonnen, ist mit der Frau eines Geschäftsfreundes aus Breslau nach Amerika durchgegangen. Er hinterläßt Frau und

3 Kinder sowie viele Schulden."

Ebingen, 4. Dez. Gestern abend bald nach dem Anzünden des Lichtes wollte der Fabrikschlosser eines hiesigen größeren Etablissements ein älteres Gewehr unter­suchen; er hielt dasselbe gegen eine Gas­flamme, kam derselben aber mit dem Zün­der zu nahe, Plötzlich krachte ein Schuß und in den Mund getroffen, stürzte der Un­glückliche nieder. Fast augenblicklich machte der Tod dem Leben des erst 32 Jahre alten Mannes ein Ende. Derselbe hinter­läßt eine Witwe und 5 Kinder. Der Tote scheint keine Ahnung davon gehabt zu haben, daß das Gewehr geladen war.

Nagold, 4. Dez. Ein Jagdglück von größter Seltenheit wurde dieser Tage 2 Weidmännern von Wildberg, Sattler­meister Maier und Restaurateur Weiland zum Rosenhügel, zu Teil. Sie erlegten binnen einer halben Stunde in einem Bau

4 Fischottern, 2 männlichen und 2 weib­lichen Geschlechts, letztere je mit der Frucht von 2 Jungen. Das Gesamtgewicht be­trug 27 Kilo. Für jedes Stück wird seitens der K. Zentralstelle 5 Prämie bezahlt.

Ausland.

Der französische Marineminister ordnete die deutsche Sprachprüfung bei Aufnahme in die Marineschule als obli­gatorisch an. DerProgres Militaire" zieht unter Anerkennung des beschleunigten und vermehrten Offizierersatzes der deut­schen Armee Schlußfolgerungen auf gleiche wünschenswerte Einrichtungen in der franz. Armee.

Toulon. 1. Dezbr. Als heute früh der Zug aus Nizza hier eintraf , wurde im Damenwagen eine Frau von 33 Jahren, namens Zoe Mauquet, vorgefunden, die mit einer ungezeichneten Serviette ge­knebelt, mit einem Riemen an den Füßen und mit einer Kravatte an den Handge­lenken gebunden war. Sie wachte auf und erklärte, sie wisse nicht, wie sie in diese Lage gekommen sei. Sie sei nachts 12 Uhr von Monte Carlo abgereist, um sich in Marseille einzuschiffen und zu ihrem Gatten, einem Apotheker in Algerien zurück­zukehren. 7000 Fr., die sie bei sich ge­habt haben will, wurden nicht vorgefunden. Bis Cannes hatte sie Briefe und eine Zeitung gelesen.

Redaktion, Druck und Verlag von Chrn. Me eh in Neuenbürg.