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gebracht, denn wenn beide Züge mit voller Geschwindigkeit zusammengekommen wären, würde ein weit größeres Unglück geschehen sein. Es dürfte der Vorfall doch wieder eine Mahnung sein, die Bedienung einer wichtigen Weiche nicht einer einzelnen Person zu überlassen.
Stuttgart, 21.Juni. Amlll.d.M. nachm. 2V- Uhr fiel ein 15 Monate altes Kind in Heslach zum Fenster im 3. Stock hinaus und in den Hof hinunter. Dasselbe erhielt nach Aussage eines herbeigerufenen Arztes nur eine leichte Hautschärfung an der Stirne. Sonstige äußere Verletzungen waren an ihm nicht sichtbar. Das Kind lag in einem am Fenster stehenden Bettlädchen; es stand in vorübergehender Abwesenheit der Mutter im Bettchen auf, öffnete das Fenster und stürzte hinaus.
Ausland.
Wien, 21. Juni. Kaiser Franz Joseph hat heute den erkrankten Grafen Kalnoky besucht. Graf Kalnoky kehrt während der Delegationstagung nicht mehr nach Pest zurück; er wird dort durch den Sektionschef Grafen v. Szögyenyi vertreten.
Valencia, r--1. Juni. In Puebla de Montichelvo sind einige neue Cholerafälle, in Montichelvo 2 Todesfälle vorgekommen. Die Gemeinde Valencia errichtet ein Hospital außerhalb der Stadt.
Miszellen.
Der Schwanenritter.
Roman von E. von Martine;.
(Nachdruck verboten.)
(Fortsetzung.)
Nach einer kurzen Weile betrat sie das Zimmer ihres Vaters. „Ich habe mit Dir zu reden." sagte sie, „hast Du Zeit für mich?"
Er sah überrascht auf.
„Ist etwas vorgefallen?"
Ein Lächeln, das er nicht gewohnt war auf dem ernsten Gesicht seiner Tochter zu sehen, machte ihn noch mehr staunen.
„Vater!" hob sie an, „ich bin Willens mich zu verheiraten."
„Gott sei Dank," rief der alte Mann hocherfreut, „endlich also geht mein Wunsch doch in Erfüllung."
„Ja, aber der Mann, den ich wähle, ist unter meinem Rang — es ist Dein Buchhalter Alsenhorn!"
„Was! was!" schrie Herr Anger aufspringend , „träume ich? — Konstantin Alsenhorn."
„Ja, mein Vater, ich habe ihn seit langem beobachtet und ihn fleißig, tüchtig und geschickt gefunden, — und dann — mich von seiner treuen Liebe zu mir überzeugt — ich, — ich bin ihm gut, und wenn Du Deinen Segen dazu gibst, werde ich ihn heiraten."
Herr Anger starrte seine Tochter immer noch an. War das seine Annette, — sein stolzes Kind, das sich in diesen kleinen, unscheinbaren Buchhalter verlieben konnte, der sonst keiner der angesehensten Bewerber gut genug war.
„Mädl! Mädl!" sprach er endlich „ich fasse es kaum, geh hinaus und laß mich allein."
Gehorsam verließ sie das Gemach. Mit einem tiefen Seufzer sank er auf einen Stuhl zurück, vergrub sein Haupt in beide Hände und sann nach. Er kannte seine Tochter und wie fest und beharrlich sie war. Sollte er Widerstand leisten, — sie würde sich dann nie vermählen. Sein blühendes Geschäft, sein großes Vermögen ging an fremde Verwandte über. War es nicht seit Jahren sein heißester Wunsch, daß sie sich verheiratete. — Ja, aber diesen obskuren Menschen ohne Namen, ohne Vermögen, einen einfachen Buchhalter. Er sprang auf und schlug sich an die Stirn, rannte einigemal im Gemache umher, riß das Fenster auf, als ob es ihm plötzlich zu heiß würde und versank wieder in Gedanken.
Diesen Abend kam er nicht in das gemeinsame Speisezimmer; Fräulein Annette erhob sich vom Tische, ohne den Buchhalter auch nur mit einem Blicke gestreift zu haben.
Am nächsten Morgen kam Herr Anger zu seiner Tochter.
„Ich habe es mir überlegt," sprach er ernst, „und ich willige ein. Du hättest besser wählen können, allein der Mensch liegt, wie er sich bettet. Alsenhorn ist fleißig und tüchtig im Geschäft, ob er für Dich paßt ist Deine Sache. Stolz bin ich nicht auf diese Heirat, darum soll sie so rasch als möglich vor sich gehen."
Und so wurde Annette schon nach einigen Wochen die Frau Alsenhorns, der zum Kompagnon des Herrn Angers vorgerückt war. Es dauerte nicht lange, da trennte Herr Alsenhorn sein Geschäft von dem seines Schwiegervaters; er gründete selbst eine Fabrik und stand bald fest und stolz auf den eigenen Füßen. Mit seiner Frau lebte er die ersten Jahre ruhig und zufrieden, und Herr Anger schied aus dieser Welt mit dem Glauben, daß seine Tochter gut gewählt habe. Anders waren dazumal schon die Gedanken Annettens, die sich jedoch hütete ihren Vatter einen Blick in ihr Inneres werfen zu lassen. Sie hatte sich in ihrem Gatten bitter getäuscht, sie wußte es, als sie am Krankenbett ihres Vaters weilte, daß sie mit ihm den einzigen Menschen verlieren werde, der sie wirklich liebte. Nach dem Tode ihres Vaters trennte sich Alsenhorn mehr und mehr von seinem Weibe, ja er suchte sogar nicht immer auch nur den äußersten Schein der Treue zu wahren, was sie auf das Empfindlichste kränkte, denn sie wußte, daß so manche Frau sie bemitleide, und dies war für ihren Stolz unerträglich. Aber so sehr sie auch litt, sie schwieg beharrlich, niemand hatte je eine Klage aus ihrem Munde gehört. Mit großer Sorgfalt wachte sie über ihr einziges Kind, Elsbeth, damit es die Achtung vor dem Vater nicht verliere, und deshalb entschloß sie sich ihre Tochter in ein Institut zu geben.
In letzter Zeit hatte sie mehrere anonyme Briefe erhalten, in denen ihr mitgeteilt wurde, daß ihr Mann ein ernstes Verhältnis unterhalte mit einem ganz jungen Mädchen, das die Freundin ihrer Tochter und mit ihr in demselben Institut sei. Mit verächtlichem Zucken ihrer Achseln legte sie all diese Briefe weg, nun aber
war ein Brief von der Jnstitutsvorsteherin gekommen, welche schrieb, sie halte es für ihre Pflicht, sie in Kenntnis zu setzen, daß Herr Alsenhorn sich ihr gegenüber ausgesprochen habe, ihre Schülerin, die Tochter des Major Steinecker zu heiraten.
Bisher hatte Annette alles geduldig ertragen; nun schien ihr das Maß voll und ihre Qual unerträglich geworden zu sein. Den Gedanken an eine Scheidung verwarf sie mit Verachtung. Sie war an den Mann gebunden, und sie mußte es bleiben. Selbst sein Geständnis, daß er sich nach seiner Freiheit zurück sehne, hatte für sie keine Bedeutung, aber sie fühlte in sich ein etwas regen, das sie früher nie kannte, einen Haß, eine Sehnsucht nach Rache.
Der älteste der Familie, Herr Adam Anger, kam eines Tages plötzlich zu Annette, die über den unerwarteten Besuch auf das Höchste überrascht war.
„Du bist erstaunt mich zu sehen," fing der alte Mann an, „denn Du weißt, daß für mich das Reisen eine schwere Sache ist, allein wenn es die Ehre eines Gliedes unserer Familie betrifft, kann mich nichts halten."
„Sprich, Onkel," sagte sie, „Du meinst mich, meine Ehe."
„Allerdings, und da Du so gefaßt bist und Dein Unglück so würdig trägst, erleichterst Du mir meine traurige Aufgabe. Wir Anger haben Deinetwegen großen Familienrat gehalten u. einstimmig erkannt, daß die Bande, in denen Du schmachtest, Deiner unwürdig sind. Dein Mann pflegt eine Aufführung, von der man allgemein spricht, er will Dich dadurch zur Scheidung zwingen."
Ihre Lippen bebten, aber sie schwieg.
„Du weißt, daß wir die letzten sind, die für eine rasche Lösung stimmen, allein wie die Sachen jetzt stehen, haben wir beschlossen, daß Du Dich von diesem Menschen trennen mußt, wir fordern Dich im Namen Deines Vaters auf, dem Familienrate zu gehorchen."
„So lange ich es ertragen kann, werde ich halten, was ich vor dem Altäre Gottes geschworen; ich werde die Bande nicht lösen, die mein eigener Wille geknüpft."
„Du würdest so lange leiden und schweigen, bis die Erde Dich deckt, wir erlauben dies nicht, denn der Mensch beschimpft Dich öffentlich. Ich sage Dir, es ist eine Schande und Schmach, wenn ein sittliches Weib noch weiter mit ihm unter einem Dache weilen will. Du wirst uns folgen oder — wir stoßen Dich aus unserer Familie. Wer eine Anger zur Frau hat, der soll sie hoch hatten."
Sie beugte ihr Haupt und küßte seine Hand.
„Bis in einigen Wochen sollst Du meine Antwort haben."
„Wie?" fragte sie staunend, als sie sah, daß der alte Mann sich erhob, „Du willst gehen? Bleibst Du denn nicht bei mir?"
„Unter dem Dache Alsenhorns bleibt kein Anger. Lebe wohl und gehorche.
(Fortsetzung folgt.)
Auflösung des Rätsels in Nr. 97. Diamant.
Für die Redaktion verantwortlich: Chrn. Meeh; Druck und Verlag von Jak. Meeh in Neuenbürg.