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Miszellen.
Der Word bei Marville.
Kriminal-Roman von Paul Labarritzre.
Deutsch von Emil Neumann.
(Fortsetzung.,
Unter dieser Rede verließ Madame Daupin höchst würdevoll den Salon, zuversichtlich hoffend, daß man sie zurückhalten und gebührend um Entschuldigung bitten werde; aber die Gräfin so wenig als Jean Trescou rührten sich von der Stelle. Sie blieben einander gegenüber sitzen, in peinlichem Schweigen, das Muster des Fußteppichs betrachtend. — Als Jean endlich den Kopf erhob, sah er, wie der schönen Frau die Thränen über die Wangen rannen. Er ergriff ihre Hand und sagte:
„Muß ich Ihnen Ihre eigenen Worte wiederholen, die Sie vorhin sagten? Sie können Hektar nicht verdammen, ohne die Gründe seiner Handlungsweise zu kennen!"
Da brach sie in lautes Weinen aus, und rief :
„Ich fürchte, er liebt mich nicht mehr! Sonst hätte er einschen müssen . . ."
Die Thränen erstickten ihre Stimme; sie vermochte nicht weiter zu sprechen, und bat Jean durch eine Handbewegung, sie allein zu lassen. —
„Millionen Donnerwetter!" tobte Jean, als er sich auf der Straße befand. — „Daß er den Tod des Grafen nicht beweint, finde ich erklärlich, ... daß er aber dessen Mörder verteidigt, ist doch zu stark! Er muß, meiner Treu, von Sinnen sein; und die gute Madame Daupin hat so unrecht nicht, wenn sie aufgebracht gegen ihn ist!"
Bei ruhigerer Ueberlegung kam er jedoch zu der Ansicht, das sonderbare Verfahren seines Freundes, dessen Zartgefühl ihm nicht unbekannt war, müsse einen geheimen Grund haben, über den die Zukunft ohne Zweifel Aufklärung geben werde.
Inzwischen war er an seinem Wohn- hause aagelangt und begab sich sogleich in das Atelier, um zu zeichnen; die Arbeit gieng ihm jedoch nicht von der Hand, denn seine Augen waren nicht so klar wie sonst: — die Thränen, welche den Augen Marthas entrannen, schienen seine Blicke verfinstert zu haben!
Am nächsten Tage schon fand sich Madame Daupin wieder in dem Hause des Boulevard Malesherbcs ein, dessen Schwelle sie nicht mehr überschreiten wollte. Eine neue Empörung hatte sich ihrer bemächtigt, und dadurch war der ärgerliche Auftritt des vorhergegangenen Tages glücklicher Weise in Vergessenheit gekommen. Diesmal handelte es sich um eine Vorladung als Zeugin zu der bevorstehenden Assisen-S'tzung in Marville.
„Diese Menschen müssen von Sinnen sein !" rief Madame Daupin in verzweifelnder Slimmung, nachdem die Gräfin ihr imtgeteiit, daß auch sie eine ebensolche Vorladung erhalten habe. „Was sollen wir dort? Was können wir aussagen? Was wissen wir überhaupt von der ganzen Sache? ... Es ist eine unverzeihliche Rücksichtslosigkeit. uns wie ganz
gewöhnliche Zeugen vorzuladen; der Unbequemlichkeiten gar nicht zu gedenken, die man uns zumutet. — Ich habe nicht übel Lust, an den Präsidenten des Gerichtshofs zu schreiben, und ihm, indem ich unser Ausbleiben rechtfertige, gleichzeitig eine kleine Lektion in der Höflichkeitslehre, besonders über die den Damen schuldige Achtung zu erteilen! Doch halt! ... da fällt mir ein, daß meine Modistin mir für die nächsten Tage einen neuen Hut versprach, der ein Muster feinsten Geschmacks sein soll! Jener Assisen-Sitzung werden ohne Zweifel auch Madame d'Orchäre und Mademoiselle d'Ambleuse, die Tochter des Generals, sowie alle die anderen Damen aus den adeligen Familien beiwohnen; das wäre ja die allerbeste Gelegenheit, den neuen Hut, dieses Meister werk der größten Pariser Modekünstlerin, einzuweihen! Ja, wirklich, dieses Vergnügen kann ich mir nicht versagen. — Die Damen von Marville werden staunen und vor Neid vergehen! Also abgemacht, Martha, wir reisen!"
Mit diesen Worten umarmte Madame Daupin ihre Nichte, und als sie deren Niedergeschlagenheit bemerkte, sagte sie, indem sie einen mütterlichen Kuß auf deren Stirn drückte, teilnehmend:
„Ich begreife Dein Widerstreben, Dich dorthin zu begeben und Dich in öffentlicher Gerichtssitzung den Blicken so vieler Neugierigen auszusetzen! Was bleibt uns aber übrig? Das Gesetz will es einmal so, und wir müssen uns fügen, da man in der Jetztzeit leider gar keine Rücksichten und keine Standesunterschiede mehr kennt!"
6 .
Am 6. November, dem Tage der Entscheidung über den Mörder des Grafen von Vidione, war der Sitzungssaal der Assisen in Marville überfüllt. In den Znhörerräumen war Alles versammelt, was die Stadt an angesehenen Leuten besaß, und auch die Damenwelt war sehr zahlreich vertreten, wie Madame Daupin dies sehr richtig vorausgesehen hatte. Mademoiselle d'Ambleuse, Madame d'Or- chore und viele andere vornehme Damen saßen auf einer besonderen Tribüne, die sich dem Gerichtshof gegenüber befand.
In den vorderen Reihen des mit einem leichten Gitter umgebenen unteren Raumes saßen die in diesem Prozeß nicht beschäftigten Rechtsgelehrten von Marville; unter anderen ein halbes Dutzend älterer wie jüngerer Advokaten, die gekommen waren, um die voraussichtlich glänzende Verteidigungsrede ihres Kollegen Lauzisre mit anzuhören, den alle willig als ihren Meister anerkannten. Ferner war dort ein alter Sachwalter in Gesellschaft eines jungen Rechlspraklikanten, der erst vor Kurzem in Marville eingetroffen war und deshalb bei weitem mehr Aufmerksamkeit auf die im Saale anwesenden hübschen jungen Damen als auf die Gerichtsverhandlung verwendete.
Die Sitzung hatte soeben begonnen.
Der Präsident und die beisitzenden Richter saßen auf der erhöhten Esirade am Ende des Saales an dem großen Tische, ihnen zur Seite, rechts und links, der Gerichtsschreiber und der Prokurator der Re
publik, während die Geschworenen an der einen Breitseite ihre Plätze hatten, dem Angeklagten gegenüber, in dessen Nähe dessen Verteidiger saß.
„Es ist auffallend, wie teilnamslos Herr Lauzivre dasitzt!" flüsterte der junge Praktikant seinem Nachbar, dem alten Sachwalter z».
„Warten Sie es nur ab; „Sie werden später „des Löwen Erwachen" sehen!"
Diese Redewendung, auf deren Erfindung sich der gute Mann nicht wenig einbildete, teilte er später noch allen seinen Kollegen mit.
Nachdem der Präsident dem Angeklagten Gauliot die üblichen Fragen vorgelegt und dieser mit seiner gewöhnlichen gleichgitigen Miene seinen Platz auf der Anklagebank zwischen den beiden ihn bewachenden Gendarmen wieder eingenommen hatte, begann das Zeugen-Verhör.
Als erster Zeuge erschien der Doktor Räquy, dessen Eintritt eine gewisse Bewegung im Saale hervorrief.
Der Doktor entwickelte in recht geschickter Weise sein ärztliches Gutachten und die von ihm aus dem Befund gezogenen Schlüsse, wobei er seine Rede mit einer Menge technischer und wissenschaftlicher Einzelheiten ausschmückte, aber auch nicht unterließ, weniger gelehrte Erläuterungen für die Geschworenen, die ihm mit offenem Munde zuhörten, hinzuzufügen.
Der Präsident schüttelte einigemale, den überflüssigen Wortschwall mißbilligend, den Kopf, die beiden Beisitzer lächelten heimlich über die Beredsamkeit des Doktors; die Damen hingegen waren entzückt von der Leichtigkeit des Vortrags und der edlen Haltung ihres Lieblingsarztes.
Aufgefordert durch den Prokurator der Republik Herrn von Saint-Estove, erklärte der Doktor nochmals die Verschiedenheit der von der rechten und der linken Hand herrührenden Eindrücke am Halse des Ermordeten und den daraus gezogenen Schlußbewcis, daß die That durch einen sogenannten „Linkshändigen" vollbracht sei.
Nach dieser Erklärung, die der Doktor in einem Tone abgegeben hatte, die jeden etwaigen Widerspruch unmöglich machen sollte, wartete er, sich in selbstgefälliger Stellung auf die Gitterbrüstung lehnend, auf weitere Fragen des Präsidenten.
Dieser sagte jedoch, ohne von dem Aktenstück, das vor ihm ausgebreitet lag, aufzublicken:
„Hat der Herr Verteidiger vielleicht noch eine Frage an den Zeugen zu richten?"
Alle anwesenden Advokaten und sonstigen Rechtsverständigen reckten die Hälse und blickten mit Spannung auf Hektar Lauziöre, der mit ausdrucksloser Stimme erwiderte:
„Wenn der Herr Doktor seiner Sache sicher genug zu sein glaubt, um die volle Verantwortung für die von ihm abgegebene Erklärung übernehmen zu können, dann habe ich nichts dagegen einzuwenden."
Nach einer absichtlich gemachten Pause, während welcher der Doktor einen mitleidig lächelnden Blick mit dem Prokurator wechselte, fügte Heklor mit Nachdruck hinzu:
„— dann habe ich für jetzt nichts ein- zuwenden!" (Fortsetzung folgt.,
Redaktion, Druck und Verlag von Jak. Meeh in Neuenbürg.