E« luier WolHeilblall.
Samstag
Keilage zu Kr. 80.
7. Juli 1S00.
V!» Nachdruck »erboten.
Die Piverteir.
Sreroman von Clark Rüssel.
(Fortsetzung.)
„Gott sei Dank! Und wie redet sie — ich meine, wie ist ihre AuSdrucks- weise?"
„Wie die einer Dame."
„Haben Sie ihr Fragen g-stellt?"
„Wöllte ich mir nicht erlauben, glaubte es Ihnen überlassen zu müssen."
„Ist sie bereits kräftig genug zu einer kurzen Unterhaltung? Wie? Meinen Sie?"
„Versuchen könnte man'» ja," sagte der Steuermann zögernd, wie jemand, der seiner Sache nicht sicher ist.
„Sie werden doch nichts dawider haben, wenn ich mich ihr vorstelle?" meinte der Kommandant mit einer schüchternen Bescheidenheit, die ihm gut zu Gesicht« stand.
„Ach, die Aermste! Was bleibt ihr übrig? Das ist doch nicht zu umgehen," entgegnete Hardy. „Freilich würde ihr anders zu Mute sein, wenn sie ihr Haar in Ordnung gebracht und auch etwas Rechtes anzuziehen gehabt hätte. Wir müssen überhaupt ernstlich daran denken, wie wir sie auftakeln, wenn sie unS erhalten bleiben sollte.
„Welcher Art war der Anzug, in dem sie an Bord kam?" forscht« Boldock.
„Das war nicht viel; ein Schlafrock, der noch ganz brauchbar sein wird, wenn er trocken ist, und so ein Ding von Flanell, das sie einen Unterrock nennen."
„Kenne ich," sagte der Kommandant mit weiser Miene, „ist ein gutes und nützliches Kleidungsstück für Frauensleute. Sie muß sehen, wie sie sich behilft. Wollen hoffen, daß wir einem Fahrzeug begegnen, das Weiber an Bord hat, die uni aushelfen können. Jetzt will ich gehen und ihre Bekanntschaft machen."
Er nahm seinen Mut zusammen und ging die Treppe hinab. Unten an- gelangt, wurde ihm doch ein wenig bange umS Herz. Er war ein Hagestolz, hatte seines Lebens größten Teil auf de« See zugebracht, kannte von Frauen und ihren Eigenschaften nur wenig und fühlte sich stet» nervös und beklommen in ihrer Gesellschaft. Zögernd nähert« er sich jetzt der Thür der Kammer, in welcher sein Schützling lag, und fast erschrocken fuhr er zurück, als er dem Blick von einem Paar großer, schwarzer Augen begegnete. Die junge Dame hatte sich bereit» so weit erholt, daß sie, wenn auch noch bleich, so doch schon wieder lebensfrisch aussah. Sie war ganz in Decken gehüllt, so daß nur ihr Kopf sichtbar blieb. Der Steuermann hatte ihr Haar zu trocknen versucht, jedoch ohne sonderlichen Erfolg; noch immer lag es wie Schlangengeringel auf Pfühl und Schultern. Der Kommandant verneigte sich; die junge Dame erwiderte den Gruß mit einem Lächeln.
„Ich bin der Befehlshaber dieser Brigg, Madam," sagte er; „mein Name ist Boldock, von der Königlichen Marine. Ich bitte um die Erlaubnis, mich nach Ihrem Befinden erkundigen zu dürfen."
„Ich danke Ihnen," antwortete das Mädchen. „Ich fühle mich besser und werde gewiß morgen schon wieder ganz gesund sein."
„Das freut mich," versetzte er, „noch mehr freut eS mich aber, daß eS uns vergönnt war, eine Landsmännin zu retten, war ich an ihrer Sprach« erkenne. Sie sind durch ein reines Wunder dem Leben erhalten worden!"
Er setzte sich nieder.
„Mir ist eS wie ein Traum," sagte das Mädchen leise.
„Können Eie sich erinnern, wie alles zugegangen ist?"
„Ja," antwortete sie, „ganz genau — ganz genau." Ein Ausdruck tiefen Grauens zeigte sich auf ihrem Antlitz. „O Gott, cS war schrecklich! So unbarmherzig, so teuflisch, teuflisch grausam! — Soll ich Ihnen erzählen?"
„Wmn ich bitten darf — das heißt, nur wenn Sie sich kräftig genug fühlen," sagte der Kommandant.
„Zunächst möchte ich gern erfahren, welche Art von Schiff die» ist und in welchem Teil des Ozeans wir uns befinden."
„Sie sind hier an Bord eines Vermessungsfahrzeuges, der Brigg .WelleS- ley'; dieselbe gehört nach Sydney und ist Eigentum der Regierung. Ich bin ihr Kommandant. Wir befinden uns gegenwärtig auf einer Expedition im Großen Ozean, um die Lage einiger Untiefen, Klippen und Korallenriffe festzustellen, die neuerdings einer Anzahl von Schiffen verderblich geworden sind, weil sie in den Karten nicht verzeichnet stehen. Sydney liegt etwa vierzehn Tagereisen entfernt."
Sie hörte aufmerksam zu; ihre schönen dunklen Augen verrieten volles Verständnis.
„Mein Name ist Margaret Mansel," begann sie nunmehr. Boldock macht«
eine Verbeugung. „Ich bin von Beraf Gouvernante," fuhr sie fort, „und kam als solche vor zwei Jahren «ach Australien, in der Hoffnung, dort ein bessere» Fortkommen zu finden, als daheim. Ich wurde jedoch enttäuscht, mußte trübe Erfahrungen machen und begab mich daher vor etwa zwei Wochen wieder auf die Heimreise und zwar an Bord eines Schiffes, genannt ,Queen'.
„Kenne ich," nickte Boldock; „eine Bark. Der Schiffer heißt Benson. Kenne alle beide."
„Unter den Passagieren," erzählte Miß Mansel weiter, „waren zehn Herren; sie bildeten den überwiegende» Teil der Kajütspaffagiere. Vom ersten Augenblick an erschienen sie mir auffällig, unheimlich; ich konnte mir keine Rechenschaft geben, weswegen, aber sie kamen mir verdächtig vor, und so mußte ich sie unwillkürlich beobachten, ich mochte wollen oder nicht. Der Gedanke, daß sie mit einem bestimmten, unlauteren Plan an Bord gekommen seien, wollte mir nicht aus dem Kopf. Ich bemerkte bald, daß auch der Kapitän diese Leute beargwöhnt«, er fand jedoch keine Handhabe gegen sie. Einer von ihnen, ein orientalisch auSsehender, brutaler Mensch, war mir besonders wiederwärtig; er nannte sich Dike Caldwell."
„Ha l" rief der Kommandant mit einer Stimme, die au» den Tiefen seiner Seele zu kommen schien.
„Was ist's?" fragte die Miß, ihren Kopf aufrichtend.
„Bitte, fahren Sie fort," sagte Boldock.
„Ein anderer hieß Mark Davenire, «in großer, ungeschlachter, gefährlicher Man». Für den Anführer dieser zehn Männer habe ich immer den Hauptmann Trollop halten zu müssen geglaubt, obgleich dies« Annahme eigentlich durch nicht» bestätigt wurde. Die Leute waren sehr vorsichtig, sie schienen einander anfänglich ganz fremd zu sein, und ihre Unterhaltung bei Tisch drehte sich immer um die gleichgültigsten Dinge. In einer Nacht wurde die Waffenkiste erbrochen und ihr gesamter Inhalt gestohlen."
„Oho!" schnaufte der Kommandant, di« Augen weit aufreibend.
„Ja", sagte Miß Mansel. „Sie können sich denken, welchen Schrecken die Nachricht unter uns allen hervorrief. Kapitän Benson ließ die Kammern untersuchen, es fand sich jedoch nicht». Haben Sie schon jemals so etwa» gehört?"
„Noch niemals!" versetzte Boldock. „Das scheint mir die außerordentlichst« Geschichte zu werden, die sich je auf See zugetragen hat!"
Ein mattes Lächeln der Erschöpfung spielte auf den Zügen der jungen Dame.
„Erholen Sie sich ein wenig, Miß," sagte der Kommandant, sich von seinem Sitz erhebend. „Ich bin sogleich wieder da."
Mit sorglicher Hast ging er in seine Kajüte, holte eine Flasche Madeira aus einem Kasten, füllte ein GlaS voll, kehrte damit zurück und präsentierte eS der jungen Dame, die jedoch au» erklärlichen Gründen nicht imstande war, ihre Arme frei zu machen. Boldock stand, die Situation schnell erkennend, ratlos und verlegen vor ihr, da» Glas, den Schiffsbewegungen entsprechend, in der erhobenen Faust balancierend. Die Miß aber biß sich tief errötend auf die Lippen und wußte in ihrer Verwirrung nicht, wo sie mit den Augen bleiben sollte.
„Da giebt'S nur einen Ausweg," rief der wackere Seemann endlich kurz resolviert. „Gestatten Sie mir. Miß."
Damit kniete er nieder, schob den linken Arm zart unter den Kopf und führte ihr so das Gla» an die Lippen. Der Trunk erquickte sie sichtlich. Zufrieden mit seinem Werk setzte er sich wieder auf seine Kiste, und Miß Margaret fuhr in ihrer Erzählung fort:
„ES muß gestern abend gewesen sein — ich bin mir allerding» nicht ganz klar darüber. Haben Sie eine Idee davon, wie lang« ich wohl im Wasser ge« wesen sein kann al» Sie mich erretteten?"
„Meiner und meiner Leute Ansicht nach nicht sehr lange: nur wenige Stunden."
„Dann wird eS also gestern Abend gegen zehn Uhr gewesen sein." Sie berichtete nun, wa» dem Leser bereits bekannt ist, wie sie sich, um Kühlung zu finden, am Fuße des Großmastes niedersetzte und wie sie dadurch in dir Lage kam Patrick Weston und Dike Calwell zu belauschen und so das Geheimnis der Zehn zu erfahren. „Ich war auf da» höchste erschrocken," fuhr sie fort. „Mut und Besonnenheit waren nie meine starke Seite. Ich meinte, daß dies« Raubgesellen mich auf der Stelle umbringen würden, sowie sie erführen, daß ihr Plan mir bekannt geworden war. Ich fragte mich, ob ich zu Kapitän Benson gehen und ihm sogleich alles Mitteilen sollte. Aber wie, wenn er mir nicht glaubte? Oder wenn er die Nacht verstreichen ließ, ohne etwa» zu thun? Oder wenn, trotz meines Zeugnisse», den Schelmen nicht brizukommen war und diese sich doch de» Schiffes bemächtigten? Dann war ich erst recht verloren. Ich suchte meine Kammer auf, um Ordnung in meine ganz verwirrten Gedanken zu bringen und den Morgen abzuwarten. War da» richtig, Kapitän Boldock? Oder hätte ich ander» handeln sollen?"
(Fortsetzung folgt.)