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Ein festlicher Tag ist heute der ge­lammten evangelischen Christenheit er­schienen, ein Tag, wie er in seiner Be­deutung von unserer heutigen Genergtion voll empfunden und festlich gewürdigt wird, ein Tag, der in der deutschen Geschichte als ein Merkstein deutschen Sinnes, deut­scher Treue und deutscher Dankbarkeit ver­zeichnet zu werden verdient. Gilt doch die heutige Feier der Erinnerung an jenen Mann, durch dessen gewaltiges, zielbewußtes Auftreten, durch dessen Lehre die Grund­lagen des heutigen evangelischen Christen­thums geschaffen wurden, durch dessen kräftiges, machtvolles Wort ein neues, frisches Leben nicht nur in der christlichen Kirche, sondern auch in dem gesammten Deutschthum einzog. Aber in der Person Luthers, in dem Wirken des Reformators sollen wir am heutigen Tage, wie es dem deutschen Volke durch des deutschen Kaisers Mund an's Herz gelegt, nicht nur durch Gottes Wort bewundern und ehren, son­dern wir sollen auch den Dank dem Höchsten darbringen, durch dessen Gnade dem Re­formator die Kraft geliehen worden, sein großes Werk, gegenüber der mächtigen Feinde Zahl, zu verkünden, zu schützen und zum glücklichen Ende zu führen, durch dessen Gnade sich die zarte Pflanze des evangelischen Christenthums zu einem kräftigen Baume sich entwickelt hat, der feste Wurzeln geschlagen in allen Theilen des deutschen Landes, der vier Jahr­hunderte überdauert hat und der mit Gottes Hilfe bestehen wird bis in fernste Zeiten.

Es war ein gewaltiger, weltbewegender und welterschütternder Moment, cs war eine jener bedeutsamen Stunden, die nach Gottes unerforschlichem Rathschlusse einen Wendepunkt in den Geschicken der Mensch­heit bedeuten, als der kühne, aber noch unbedeutende Mönch seine 95 Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg anschlug, jene Thesen, die zu vertheidigen er mit seinem letztem Athemzuge bereit war. In diesem Augenblicke, wo die Reformation geboren, in diesem Augenblicke begann ein neuer Zeitabschnitt in der Weltgeschichte. In diesem Augenblicke ward des finsteren Aberglaubens Macht gebrochen und ein frischer, belebender reinigender Hauch der allgemeinen Menschenliebe, wie sie der Heiland gepredigt und die im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr zur Menschen- Eigenliebe herabgewürdigt worden, durch­zog die Welt. Der finstere Teufelsglaube und die vom Formelwesen abhängige Frömmigkeit, der Glaube an das durch Gold und Goldes Klang zu erringende Seelenheil, der in des Ablaßkrames ent­würdigendem Treiben seinen Ausdruck fand, die Nebel einer düsteren, grausamen un­menschlichen Zeit verschwanden in das Reich der Finsterniß und an ihre Stelle trat jene wahrhafte, tiefe Frömmmigkeit, die nicht in Kasteiungen, Peitschen und wohlfeilen Bnßüb ungen Gott zu dienen trachtet, sondern in Sittlichkeit, Treue, Duldung und Nächstenliebe, die in dem Ruhm nach Wahrheit ihre Befriedigung findet und nach Gottes Wort, daS unent­stellt durch willkürliche priesterliche Aus­legung, zu leben trachtet. Der Held der

Wahrheit, jener Wahrheit, die aus des Herzens tiefstem Innern dringt und ihre Lehre frei verkündet, weil sie muß, das ist Luther. Und weil Luther dieser Held der Wahrheit ist, deßhalb muß er auf- treten gegen die angemaßte römische Ge­walt, deßhalb bäumt sich sein religiöses und sittliches Gefühl auf gegen die einem Menschen erwiesene göttliche Ehre, deßhalb streitet er in Wort und Schrift gegen den Machthaber in Rom, obschon er weiß, daß er sich den Mächtigsten der Erde, der eben so Gewalt über die Gewisse», wie über die Leiber hat, zum ewigem Feinde macht. Das ist das Große in der ganzen Erscheinung des großen Gottesmannes, daß er mit vollem Bewußtsein, in dem Gefühle treuer Pflichterfüllung, ohne Rück­sicht auf sein persönliches und materielles Wohl, den Kampf gegen den gewaltigsten Feind anfnimmt, daß er nicht ermüdet und ermattet in der Verkündung dessen, was er für Recht erkannt, sein ganzes Leben lang, daß er stets und immer, um­geben von Gefahren für sein Leben und seine Freiheit, seine hohe Lebensaufgabe vor Augen hat und nicht durch Menschen von dem hohen Ziele, zu dessen Erreichung ihn der lebendige Gott bestimmt, abgelenkt werde» kann. Deshalb, um der Wahrheit zum Siege zu verhelfen und daß auch nicht der Schein auf seine Lehre falle, als ob sie nicht von Gott sei, deshalb und nicht in einer Anwandlung frevelhaften Ueber- muthes, im Bewußtsein seines Rechts, offen, frei vor aller Welt verbrennt Luther jene Bannbulle, die Luthers junge Lehre für immer zu vernichten gedroht. Deshalb, im Gefühle seines Rechtes, als Vorkämpfer der Wahrheit, zögert Luther nicht, von des Freiheit-Kämpfers Muth beseelt, vor seinem Kaiser und dem Reichstage zu er­scheinen, nach Worms zu eilenund wenn so viel Teufel darin wären, als Ziegel ans den Dächern." Frei, offen und ohne Beschönigung bekennt er seine Lehre im Angesichte des Kaisers, des Hofes und seiner Feinde, die eben so bereit als mächtig waren, ihn zu zermalmen. Und wäre Luthers Lehre nicht von Gott, wäre sie ein irriger Wahn gewesen, er wäre sicher in jener Stunde zermalmt worden von seinen Feinden, da er als Ketzer in ihren Augen als vogelfrei galt. Aber der lebendige Gott selbst hielt seine schützende Hand über ihn und segnete sein Wirken, daß es tausendfältige Früchte bis in die neuesten Zeiten getragen.

Als ein Mann von Kraft und Muth, voll Gottvertrauen und Ansdauer, steht der Reformator vor uns. Nicht allein an der Bekennung und lauten Verkündung seiner Lehre ließ er sich genügen; sein ge­wissenhafter Sinn mußte auch für die Aus­breitung seines Bekenntnisses, daß es All­gemeingut deutscher Christen werde, thätig sein. So sehen wir ihn denn unermüdlich thätig, in Kirche und Schule, in Haus und Familie, immer nur an seine Mission denkend, alles für seine Lehre, nichts für sich und sein persönliches Wohl erhoffend und erstrebend. Muthig sieht er der über ihn ausgesprochenen Reichsacht entgegen,

obschon ihm der Tod von tausend Seiten droht und er mehr als einmal in Lebens­gefahr steht. In jener Zeit aber, da der treuen Freunde Hut ihn, vor dem drohen­den Verderben und dem drohenden Ver­derben und dem Schicksale eines Hnß be­wahrend, zu einer unfreiwilligen Muße in der jWartbnrg schützende Mauern ver­bannt, da ersteht der von dem Manne der Wissenschaft und der gläubigen Gottes­treue wiedergehobene Schatz, jene Bibel­übersetzung, in welcher Luther dem deutschen Volke die Quelle des Lichtes, der Gottes- begeisterung, der Menschenwürde, den ewig klaren Spiegel aller Tugenden erschloß. Und als es ihn nimmer leidet in den engen Mauern und das von ihm begonnene Werk Gefahr läuft, durch übel angebrachten Eifer und wildes Stürmen, Schaden zu nehmen, da erscheint er wiederum auf dem Plane mit der ganzen ungeschwüchten Kraft seiner Begeisterung für die edle Sache, gewaltig in seiner Persönlichkeit und in seinem Wirken, wie zuvor. Noch hat er die große Freude und Gcnugthuung, die Erfolge seines Wirkens mit eigenen Äugen zu schauen, noch darf er gleich jenen be­geisterten Sehern der Vorzeit einen Blick in die Zukunft thun und verkünden: Wenn ich aber sterbe, so betet, cs wird wahrscheinlich des Betens brauchen und unsere Kinder werden nach den Spießen greifen müssen und wird in Deutschland übel stehen aber der es angefangen, wird es wokil vollenden," dann ging die große, alle Menschen mit gleicher Liebe umfassende Seele des Reformators ein zu Gottes Reich; ruhig und gottesgläubig, wie er gelebt, war sein Tod.

Gewaltig hat sich Luthers Lehre aus­gebreitet auf Erden und Millionen Herzen lassen am heutigen Tage jenes herrliche Lied erschallen, in welchem Luther seinen Glauben poetisch ausgetönt hat:Ein' feste Burg ist unser Gott!" Wir alle aber sollen an dem heutigen Tage vor dem Bilde der Reformators und im Angesichte des lebendigen Gottes das treue Gelübde oblegen, in seinem Sinne zu handeln und zu leben, im Geist und in der Wahrheit, das Rechte suchend und erkennend in Treue gegen Gott und die Menschen. Dann, wenn wir, auf Luthers Lehren bauend und in seinem Sinne wirkend, gerecht gegen uns selbst und gerecht gegen Jeder­mann sind, wenn wir der Wahrheit stets und überall die Ehre geben, dann werden wir uns am 400jährigen Geburtstage Luthers, als Erben seiner Lehre, die wir voll und ganz begriffen haben, der uns zugefalleneu Aufgabe würdig zeigen. Dul­dung und Nächstenliebe, auch gegen die Bekenner anderer Confessioncn, das seien die vornehmsten Principien, in denen dieses Fest heute von der evangelischen Christen­heit begangen wird; wie es Luther fern gelegen hat, jemals Personen und ihre Fehler anzugreifen, und sein heiliger Ernst stets nur der Sache galt, so sei auch das heutige Fest durchweht von jenem Geiste christlicher Menschlichkeit und Nächstenliebe auf dem die Gesittung und das irdische Glück des Menschenthums aufgebaut.

Redaktion, Druck und Verlag von Jak. Meeh in Neuenbürg.