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Miszellen.

Schwester Rose.

(Fortsezung.)

Lomaque machte von der ihm zugestandenen Frei­heit Gebrauch. Er sah Trudaine in einer Ecke der Zelle, die am entferntesten von der Thür war, bei sei­ner Schwester sizen, und er hatte sich wohl nur des­halb so weit zurückgezogen, damit Rose von der Unter­haltung außerhalb nichts hören möchte. Doch der unstäte Blick ihrer Augen und die matte Röthe ihrer Wangen verricthen, daß sie wenigstens obenhin wußte, daß auf dem Korridore sich etwas Ungewöhnliches ereignet habe. Lomaque gab Trudaine einen Wink, zu ihm zu kommen und flüsterte ihm dann zu: »Das Mittel hat Vortreffliche Dienste geleistet. Sie sind für heute ge­rettet. Theilcn Sie Ihrer Schwester die Neuigkeit so vorsichtig als möglich mit. Danvillc«

Er hielt inne und lauschte, bis er aus dem Schall der Tritte des Untergefängnißwärtcrs überzeugt hatte, daß sich derselbe an einem entfernten Ende deS Korridors aufhielt.

»Danville", nahm er wieder das Wort, »ist gestern Abend, nachdem er sich am Nachmittage unter das Volk am äußeren Gitter gemischt und Ihre Namen hatte verlesen hören, auf geheimen Befehl Robespierrcs verhaftet und nach dem Tempclgefängniffe gebracht worden. Welche Anklage gegen ihn vorlicgt, oder wann der Prozeß gegen ihn eröffnet werden wird, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß er verhaftet wor­den ist. Hstl sprechen Sie jezt nicht; mein Freund draußen kommt zurück. Halten Sic sich ruhig hoffen Sie Alles von dem Wechsel der öffentlichen Angelegen­heiten und suchen Sie Trost in dem Gedanken, daß Sie Beide für heute gerettet sind.--

Und morgen?" flüsterte Trudaine.

Denken >Ste nicht an morgen", entgegnete ihm Lomaque, indem er sich rasch der Thüre zuwandte. »Lassen Sie morgen für sich selbst sorgen.«

6 .

An einem Frühlingsmorgen im Jahre >789 stieg von der Diligence, die damals zwischen Chalons- sur-Marne und Paris fuhr, auf der ersten Station jenseits Meaur einer der außen sizenden Passagiere ab- Der Reifende, ein alter Mann, sah sich einige Augen­blicke zweifelhaft um und begab sich dann nach dem kleinen, dem Posthanse gegenüber liegenden Gasthsfe zum Rosse", dessen Besizerin die Wittwe Duval war eine Frau, die in dem Rufe stand, die ärgste Schwä- zerin zu seyn und das beste Fricassee von jungen Hüh­nern in der ganzen Gegend bereiten zu können.

Obgleich der Reisende von den müßigen Dorfbe­wohnern kaum beachtet und von der Wittwe Duval ohne besondere Umstände empfangen wurde, so war er doch keineswegs ein gewöhnlicher und uninteressanter Fremder, für welchen ihn die Landlcute ansahcn. Es hatte eine Zeit gegeben, wo dieser ruhige, alte Herr, der durchaus nicht zudringlich im «Rosse» einige Er­frischungen verlangte, mit den tiefsten Geheimnissen der Schreckensherrschaft vertraut, ja dem es sogar ge­stattet war, zu jeder Zeit zu Maximilian Robespierre zu kommen, um mit ihm zu sprechen. Die Wittwe

Duval und die Müßiggänger vor dem Posthause wür­den in »er Thai nicht wenig überrascht gewesen seyn, wenn irgend eine gut unterrichtete Person aus der Hauptstadt zugegen gewesen wäre, um ihnen zu sagen, daß der überaus bescheidene alte Reisende, mit der etwas schäbigen kleinen Reisetasche einst Haupt-Agent der geheimen Polizei zu Paris gewesen.

Seitdem Lomaque diese Stellung unter der Schre­ckensherrschaft eingenommen hatte, waren zwischen drei und vier Jahre vergangen. Freilich ging er jezt ziem­lich gebückt, auch waren ihm alle Haare, bis auf die Seiten und den Hinterkopf, ausgefallen ; dagegen hatte sich sein äußeres Ansehen in mancher anderen Bezieh­ung, troz seines vorgerückten Alters, eher verbessert als verschlechtert. Er sah sehr wohl aus, seine Ge- sichtszügc verricthen einen hohen Grad von Heiterkeit und seine Augen leuchteten stärker, als cs jemals in den lezten Jahren der Fall gewesen war. Er schritt lebhafter und fester daher, als zur Zeit, wo er als Po­lizeiagent beschäftigt war, und wenn auch sein Anzug gerade nicht dafür sprach, daß er ein Mann von reich­lichen Mitteln sc-, so war er doch sauberer und netter als rer, den er einst zu Paris getragen.

Er saß allein im Gastzimmer und beschäftigte sich während der Zeit, in welcher die Wirthin die von ihm verlangte Flasche Wein herbriholte, damit, »ine alte, bcschmuzte Karte die er aus einer Masse Papiere in seinem Taschcnbuche hervorgesucht hatte, zu prüfen und die auf derselben enthaltenen Zeilen zu lesen. Diese lauteten also:

Wenn Sorge und Angst vorüber sind, so verges­sen Sic Derer nicht, die mit ewiger Dankbarkeit Ihrer gedenken werden. Auf der ersten Station jenseits Meaux, an der Straße nach Paris, fragen Sie nur im Gasthofe nach dem Bürger Maurice, so oft Sie uns zu sehen oder etwas von uns zu hören wünschen."

Bitte", fragte Lomaque, indem er die Karte ein- steckte, die mit dem Weine einirctende Wittwe Duvql, können Sic mir wohl sagen, ob eine Person, Namens Maurice, irgendwo hier in der Nachbarschaft wohnt?"

Ob ich Ihnen das sagen kann?" wiederholte die gcschwäzige Witlwe.Ei freilich kann ich das! Bür­ger Maurice und die Bürgerin, seine liebenswürdige Schwester und die darf nicht übergangen werden, auch wenn Sie. verehrter Herr, ihrer nicht Erwähnung thun wobncn etwa zehn Minuten von meinem Hause entfernt. Ein reizendes Häuschen in einer reizenden Lage, bewohnt von zwei vortrefflichen Leuten, so rhuig, so zurückgezogen und dabei die besten Bezahler, die man sich nur denken kann Ich versehe sie mit Allem mit Geflügcl,,Eiern, Brod, Butter, Gemüse (versteht sich, sie essen nicht von jedem) und Wein (von dem sie lange nicht genug trinken, um sich zu stärken); mit einem Worte, ich ernähre die kleine allerliebste Eremi­tage und liebe das freundliche Ercmitcnpaar von ganzem Herzen. Ach, sie haben ihre Widerwärtigkeiten gehabt, die armen Leute, besonders die Schwester, obgleich sie niemals davon sprechen. Als sie zuerst hierher kamen, um in unserer Nachbarschaft ihre Wohnung aufzuschla­gen

Ich bitte um Verzeihung, Bürgerin, wollten Sie wohl die Güte haben und mir den Weg zeigen"