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Miszellen.
Die trockene Hand.
Als der selige Luther nach der vierten Bitte die Frage stellte: „was heißt denn täglich Brod?" und die Antwort darauf schrieb, dachte er gewiß nicht an den Nadlermeister in P-, sonst hätte er sich in seiner Auslegung weit kürzer fassen können, als er gethan hat.
Tenn der Nadler wohnte in keinem Hause, sondern in einem Thurme der alten Veste, in welchem unten ein Gcisstall und oben eine Stube hineingcbaut war. Und vor dem Thurme war kein Hos, sondern ein Rasenstück, das im Frühling bald grünte und im Sommer bald verwelkte, weil es nicht viel Erde hatte. Au Grund und Boden aber besaß der gute Mann nicht mehr, als was zwei oder drei alte Töpfe umschloßcu, in denen er seinen Goldlack zog. Sein Gesinde bestand in einem einzigen Stiefelknecht unter der Bettlade, und ob seine Nachbarn den Frieden l ebten oder haßten, konnte dem Nadler eins sepn, maßen sein Thurm einsam stund, wie eine Nachthütte in den Kürbisgärten, und wie der Schirm des Jägers im Wald.
Tagegcn zählte der Nadler andere Dinge, woran der selige Luther nicht dachte, zu dem täglichen Brod, z. E. seine Hände; aber nicht darum, weil er siebrauchen konnte, wie jeder seiner Zunstgcnvffen, sondern we l sie von den Fingerspizen b:s zu den Wurzeln Iaht aus Jahr ein, Sommer und Winter trocken waren, wie das Leinwcrk einer'guten Hausfrau mr Schrank. "
Denn an einer Nähnadel haben gar viele Hände zu tbun, bis man sagen kann, sic sei fertig. Die erste Hand schneidet aus dem Eiscndraht Stücke, deren jedes die doppelte Länge der größeren. oder kürzeren Nadelst hat, die man machen will. Die zweite Hand bringt diese Stücke in die Glnth und aus der Gluth unter eine Art eisernes Lineal, mit welchem sie auf einer eingekerbten Fläckc so lange hin und her gewälzt werden, bis sie fast so gerade sind wie Sonnenstrahlen. — Die dritte Hand schleift diese Stücke an den beiden Enden.— Die vierte schneidet mit einer großen Schwere die oben und unten geschliffenen Stücke in der Mitte entzwei. — Die fünfte schlägt die entzwcigcschnittencn Stücke an dem stumpfen Ende breit.— Die sechste bringt sic wieder in eiserne Ringe und läßt sie in der Kohlcngluth weich werden. — Die siebente Hand schlägt sie ein, d. h. zeichnet den Plaz für das zukünftige Oehr vor. — Die achte hackt sie ans, oder schlägt das Loch vollends durch. — Die neunte weist, das ist verdolmetscht, sie zieht die Rinne oder Fadenspur und richtet die Köpfe der Nadeln vollends zurecht. — Weil aber die meisten derselben durch die sieben vorausgehendxn Hände wieder mebr oder weniger verbogen worden find, so werden sie von der zehnten abermals in Ringe gelegt, geglüht und gerüppelt, d. i. gewalzt. — Dann nimmt sie die eilftc, legt sie mit Eierschaalen und andern Dingen in ird»nc Gefäße und sczt sie in das Kohlcnfeuer, worin
sic gehärtet, d. i. gestählt werden. — Die zwölfte wickelt sie. mit feinem Sand in große Ballen und überläßt es einem vom Wasser getriebenen Werke, sie zu poliren. — Die dreizehnte versezt sie auf den Hellen Tisch, wo Oehr zu Oehr und Spize zu Spize gebracht und die kürzeren ausgcschicden werden.— Die vierzehnte brau- nirt sie, und die fünfzehnte endlich zählt sie zu Hundert und Hundert in Kapseln, und verpackt sie zum Hingehen nach allen Himmelsgegenden in Papier und blecherne Büchsen, die luftdicht verlöthct werden, damit nicht ein Gedanke von Feuchtigkeit zu ihnen hindurch dringen kann.
Unter allen diesen fünfzehn Händen verdient die vierzehnte, welche braunirt, d. i. auf einer besonders dazu eingerichteten Schleifmaschine den polirten Nadeln ihre vollkommene Spi^e und entweder ganz oder thcilweise einen bräunlichen Anflug gibt, am meisten, wenigstens do.pelt so viel als eine von den andern.
Aber es kann nicht jeder von den fünfzig oder hundert Heimarbeitern, die ein Nadclverleger hat, zu dem Fabrikanten kommen und sagen: Herr, ich will lieber brauniren als weisen oder Oehrcn boh cn oder Härten oder am Hellen Tische fizen," sondern er muß zuerst seine Hände prüfen und sehen, ob sie auch im Sommer und bei der Arbeit von Schweiß so frei sind wie ein lederner Handschuh oder wie die hölzerne Hand einer Puppe. Erst dawn, wenn er seinen Finger auf ein kaltes Spiegelglas legen kann, ohne daß cs auläust, darf er daran denken, die schwarze Arbeit aufzugeben und sich an die weiße zu machen. Denn wenn an eine Nadel, die über das Meer gehen soll, vor dem Einpacken nur so viel kommt, als der Hauch eines Kanarienvogels ausmacht, so kommt sie in Smyrna"oder Alexandrien verrostet an, und der Kaufmann, der sic auspackt, hat eine schlechte Freude daran.
Der Nadler im Thurm war daher auch Gott dem Herrn dankbar für seine trockene Hand, und gebrauchte sic fleißig wie eine Henne ihre Füfsc, wenn sie mit ihren Küchlein an einen Haufen Holzerde gekommen ist. Aber noch ehe er mit David sagen konnte: „ich bin jung gewesen und bin alt geworden," schlich sich ein Zehrfieber bei ihm ein. Seine Finger fingen an feucht zu werden, und als er eines Morgens sah, daß die Nadeln ange- lausen waren, die er Tags vorher in der Hand gehabt hatte, war cs unnöthig, daß ihm der Herr über Leben und Tod noch einen Boten sendete mit dem Wort: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben."
Er sezte seinen einzigen Sohn, der alle Tugenden des Vaters und seine Hände hatte, auf seinen Stuhl, und lehrte ihn Alles, was die vierzehnte Hand zur Vollendung einer tüchtigen Nähnadel zu thun hat. Dann sagte er zu ihm: „sorge für Mutter und Schwester," und versammelte sich zu seinen Vätern, deren drei in dem Thurme gelebt hatten und gestorben waren.
(Sckluß folgt.)
Rcdigirt, gedruckt und verlegt von C. Meeh in Neuenbürg.