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Landwirtschaft sprechen (Rufe rechts: „kann?") aber «in allgemeiner Notstand besteht nicht. Zur Widerlegung des Vorwurfs, daß die Negierung nur Worte spreche, verweise ich auf die bereits gemachten Vorlagen. Der Notstand vieler Landwirte ist in erster Reihe durch deren Verschuldung herbeigeführt. (Widerspruch rechts.) Die Verträge haben die üble Lage der Landwirtschaft nicht verschuldet. Glauben Sie, wir hätten jetzt höhere Getreiveprcise, wenn die Handelsverträge nicht abgeschlossen worden wären? Alles kommt auf die Konjunktur an. Was war das Resultat der Zollcrhöhung in Frankreich? Der Kurszettel zeigt es Ihnen. Wir haben in Köln höhere Getreidepreise als in Paris. In ähnlicher Lage wie die Landwirtschaft ' haben auch der Handel, und das Gewerbe, namentlich das Kleingewerbe sich befunden. Die preußische Negierung hat nie den Handelskammern gegenüber einen Wunsch nach günstigen Berichten über die Handelsverträge kundgegeben. Die Handelskammern würden einem solchen Wunsche auch nicht willfahren. Er bestreitet ferner, daß die Handelsverträge die Notlage verschuldet haben. Der Antrag sei sozialpolitisch völlig unmöglich und taktisch undurchführbar. Er unterliege sozial-politisch den schwersten Bedenken. Der Antrag verlange nicht eine Revision sondern eine Negation der Handelsverträge. Die nötigen Kontroleinrichtungen würden gerade dem Bauernstände verhaßt sein. Das Reich könne ebensowenig normale Getreidepreise gewährleisten, wie Normallöhne. Die Regierung schreite überall ein, wo es geboten sei. Dies Programm habe weniger werbende Kraft als das sogenannte „große Mittel" der Agrarier, aber desto sichereren Erfolg. (Lebhafter Beifall lmks und im Zentrum, Zischen rechts.) Abg. Graf Galen (Zentrum) lehnt die völlig ablehnende Haltung des Zentrums dar und erklärte das Zentrum würde auch die Kommissionsberatung ablehnen. Im weiteren Verlauf der Debatte nimmt Graf Herbert Bismarck unter allgemeiner Aufmerksamkeit des dichtgefüllten Hauses das Wort. Er bezeichnet den Antrag Kanitz als Notbehelf gleich einem Schutzzoll. Die sogenannten „kleinen Mittel" nützen nicht viel, die Tendenz gehe im allgemeinen nach Schutzzöllen, auch in England, wo man beabsichtige, das südafrikanische Schutzgebiet zu einem Wirtschaftgebiet zusammenzufaffen und zusammen mit den anderen Kolonien ein Schutzgebiet zu bilden gegen die ganze Welt. Redner ist erfreut über den ruhigen Verlauf der Debatte und schließt: Die feste Wurzel
der Monarchie liegt in der seßhaften Bevölkerung. Diese muß erhalten werden. Graf Bernstorff (Welfe) spricht sich gegen den Antrag Kanitz aus. Die weitere Beratung wird auf morgen vertagt.
Tagesneuigkeiten.
Stuttgart, 15. Jan. Die Deputation des Infanterie-Regiments Kaiser Wilhelm, König von Preußen Nr. 120, welche zur Erinnerungsfeier der Kaiserproklamation nach Berlin kommandiert ist, besteht aus dem Regimentskommandeur Oberst v. Fragstein und Niemsdorff, Prcmierlieutenant Benignus, Sergeanten Schadegg und Betz. Letztere drei fuhren gestern von Weingarten ab und trafen heute vormittag in Berlin ein. Der Regimentskommandeur, welcher nach Altona beurlaubt war, begab sich von dort direkt nach Berlin. Die von auswärts kommandierten Fahnen und Standarten werden am 17. d. M. mittags 12 Uhr, vom Potsdamer Bahnhof, und zwar erste« durch die Leibkompagnie des 1. Garde- Regiments zu Fuß, letztere durch eine Eskadron des Garde - Kürassier - Regiments zu Pferde, nach dem Palais Kaiser Wilhelm I. gebracht, wo zu ihrem Empfang der Kommandant des Kais. Hauptquartiers und der Kommandant von Berlin anwesend sein werden.
Stuttgart, 15. Jan. In der Nacht vom 13. auf 14. Januar ist ein Metzger von Gültlingen, Nagold, auf dem hiesigen Güter-Bahnhof beim Ausladen von Schweinen dadurch verunglückt, daß er in dem betreffenden Viehtransportwagen auf einer nassen Stelle ausrutschte, zu Boden fiel und den rechten Unterfuß oberhalb des Knöchels brach. Der Verletzte wurde ins Katharinenhospital verbracht.
Sulz, 16. Jan. In dem benachbarten Böhringen hat sich gestern beim Holzfällen ein bedauerlicher Unfall crreignet. Ein junger 18jähriger Mann war auf einer hohen Tanne mit Abhauen von Aesten beschäftigt, wobei er herabfiel und beide Arme brach, auch sonst, besonders am Kopf, erheblich verletzt wurde; indessen sollen die Verletzungen nicht lebensgefährlich sein.
Oetisheim, OA. Maulbronn, 13. Jan. In dem Weiler Corres hat die leidige Sitte des Neujahr- anschießens nunmehr noch ein zweites Opfer gefordert. In der Sylvesternacht feuerte ein junger Bursche eine Schlüsselbüchse ab. Diese zersprang und es drangen hiebei dem Schützen einige Splitter in die Hand. Den unbedeutenden Verletzungen wurde anfänglich
keine Beachtung geschenkt. Später trat Blutvergiftung hinzu, welcher der junge Mann jetzt erlegen ist.
Heilbronn, 15. Jan. Gestern Nachmittag um 3 Uhr hat sich der Schlachthausverwalter Kaiser hier in den Neckar gestürzt und da der Neckar ziemlich mit Eis bedeckt ist, so geriet er sofort unter dasselbe. Er konnte bis jetzt noch nicht aufgefunden werden. Kaiser hatte gestern seinen Wegzug zu bewerkstelligen. Nachdem alles geladen war und um 3 Uhr die Amtsübergabe an seinen Nachfolger stattfinden sollte, ver- ab.schiedete er sich von seiner Frau, sowie anderen Personen und verschwand. Nach einer zurückgelassenen Notiz hat er die Schlachthausverwaltung in keiner Weise geschädigt. Weil er aber von der fixen Idee beherrscht war, daß hiesige Metzger ihn in den Tod getrieben hätten, hat er auS Rache dafür sämmtliche Bücher und wichtige Akten verbrannt. Es ist dies eine unschöne Handlung, zumal ihm die Metzzerinnung noch den Gehalt bis zum 15. Mai bezahlt hätte.
Brötzingen, 13. Jan. Ein Mädchen, welches hier in Diensten steht, erhielt vor einigen Tagen vom ihrer Mutter aus Eßlingen die Nachricht, daß ihr von einem Onkel, der in Nordamerika verstorben, eirr Erbe von 20 000 ^ zufalle. Das Mädchen soll beabsichtigen, vorläufig weiter im Dienst zu bleiben.
Paris, 16. Jan. In den Schieferbrüchen von Angers wurde gestern durch einen herabstürzenden Felsblock eine Brücke zerstört unter welcher sich eine Anzahl Arbeiter befand. Zwei derselben wurden getötet.
Standesamt Kakrv.
Geborene-
11. Jan. Eugen, Sohn des Friedrich Schnierle, Spinners hier.
14. „ Pauline, Tochter des Markus Ri egg er,
Hausmeisters hier.
Gestorbene:
14. Jan. Karl Bozenhardt, jun., Rotgerbereibesitzer hier, 48 Jahre alt.
17. „ Georg Ludwig Bozenhardt, Zimmer
manns Witwe hier Luise Karoline geb, Essig, 60 Jahre alt.
Gottesdienste
am 2. Sonntag nach dem Erscheinungsfest, 19. Januar^ Vom Turm: 590. Der Kirchenchor singt: „Herr zu Dir will ich mich retten" v. Mendelssohn. Predigtlied : 233.
S>/- Uhr Vorm.-Predigt.- Herr Dekan Braun^ 1 Uhr Christenlehre mit den Töchtern. 5 Uhr Bibelstunde im Vereinshaus: Hr. Stadtpfarrer Schmid. Mittwoch, 22. Januar.
10 Uhr, Betstunde im VereinshauS.
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Der verlorene Sohn.
Eine Weihnachtsgeschichte.
Von Th. Schmidt.
(Schluß.)
Mit hochroten Wangen, den Kopf tief gesenkt stand Hedwig stumm vor dem im überquellenden Taumel des Glücks, ihr das Geständnis seiner Liebe ablegenden jungen Manne. Sie hatte solchen Ausgang deS Christabends nicht erwartet, heute am allerwenigsten, und das Alles gar in Gegenwart seiner Mutter, welche, wie eS schien, schon längst gewußt hatte, wie es mit seinem Herzen stand. War es denn auch Wirklichkeit, was ihr Auge sah und ihr Ohr hotte, oder war alles nur ein Traum? Sie hob ein wenig den Kopf und schaute um sich. Nein, es war Wirklichkeit, waS sie um sich sah. Dort der strahlende Tannenbaum, und hinter demselben das freundlich lächelnde müde Antlitz der Tarte und vor ihr auf den Knieen der blosse, um Liebe flehende Mann, welcher ihre beiden, von harter Arbeit in den letzten Monaten rauh und unschön gewordenen Hände mt Küssen bedeckte, lind jetzt hob er den Blick zu ihr auf. Das war nicht der kranke, müde Blick, m t dem er ihr vorhin auf dem Bahnhose entgegentrat, das war der feste ernste Blick eines Mannes» der sein Schicksal ermattet, und der gewillt ist, das zu thun und zu erfüllen, was Pflicht und Ehre gebieten.
Sie blickte verwirrt zur Seite. „Ich bin D r immer gut gewesen, Hans. Du und Deine Mutter, ihr Beiden wäret mir alles auf dieser Welt. Ich habe auf ein Glück, wie Du es mir in di.scr Feierstunde in Aussicht stellst, nicht mehr gehofft. Das Leben hat mir viele Enttäuschungen gebracht und mich gelehrt, zu entsagen und dem Glück zu mißtrauen. Ich darf auf die Liebe eines Mannes keinen Anspruch erheben, denn ich bin arm, eine Waffe. die in unserer materiellen Zeit froh sein kann, wenn sie in irgend einer Familie geduldet wird. Du täuschest Dich gewiß in Deinem Gefühl und wähnst vielleicht, zu lieben, während nur Mtleid und Dankbarkeit Dein Herz in dieser Stunde üderströmen läßt. Du bst ein Mann, besten fester Wlle gepaart mit guten Kenntnissen «inst ein schönes Ziel erreichen wird. Bin rch zwar nichts, als eine arme Walle, so würde ich doch nie einen Plan» nehmen, der wich aus Mitleid zu seiner Lebensgefährtin me-chen w ll. Ich — ich bitte Dich, p:üfe Dch erst, ich — ich möchte Deinem späteren Fortkommen nicht im Wege stehen."
Zögernd, mit klopfendem Herzen aber doch äußerlich ruhig, hatte sie di«
Worte über ihre Lippen gebracht. Seine Werbung schien ihr in der Thal ein wenig übereilt, so urteilte wenigstens ihr praktischer Sinn, ihr Herz freilich, das jubelte ihm längst entgegen.
Hans erhob sich und zog die sich sanft Sträubende schnell an sich. „Nach diesen Motten bist Du mein, denn nicht Mitleid und Dankbarkeit, sondern die heiligste, uneigennützigste Liebe hat mir soeben das Geständnis entlockt, und drppckt lieb bist Du mir jetzt, nun ich erfahren, daß Du ein Mädchen bist, welches seinen Wert kennt."
Er beugte sich zu Hedwig nieder und küßte sie innig. Seinen Arm um die willenles ihm Folgende schlingend, trat er mit der schönen Braut vor die hocherfreute Mutter. „Hier, mein liebes Mütterchen, bringe ich Dir die gewünschte Tochter", rief er beglückt. „Du hast mich einst in die Fremde gehen heißen, damit ich mich prüfe, ob der Zauber, den dieses reizende Wesen auf mich aus übte, auch während der Trennung anhalten werde. Nun, Du hast das Resultat soeben gesehen. Segne unfern Bund, Mutter."
Noch ehe die Leidende ein Wort sagen konnte, lag Hedwig an ihrer Brust;' und während die Tarte in Worten des DankeS gegen Gott, daß er doch noch ihren liebsten Wunsch hier auf Erden erfüllte, Ausdruck gab, rann aus HedwigS schönen Augen manch Helle Freudenthräne. „Ich kann Dir Hute nichts weiter schenken," schloß die Mutter, „als ihn, dessen Bild Du schon lange im Herzen getragen hast.,, Hedwig. Nimm ihn denn aus meinen Händen, es ist das Tbeuerste, was ich zu vergeben habe." Sie legte derber Hände in einander. Seid glücklich, geliebte Kinder! Und Du, HanS, zeige Dich stets einer solchen Perle unter den Mädchen, wie Hedwig eS ist, würdig. Sie hat den Himmel allein um Deine Mutier verdient, hat sie sich doch meinetwegen die größten Entbehrungen auferlegt und, wo andere jungen Mädchen wahrscheinlich davongelaufen wären, mutig bei mir auSgeharrt, ja noch mehr, sie allein hat den Glauben an Deine Redlichkeit nicht verloren, als ich längst daran verzweifelte. Ihr gebührt unser aller heißer Dank."
Stumm schloß d:r beglückte junge Mann daS ihm heute zum ersten Male im seligen Entzücken zulächelnde liebe Mädchen in seine Arme; und während die Uhr die achte Stunde aushob und von unten aus den verschiedenen kleinen Wohnungen der Mietskaserne der Chrfftgisang der Kinder erscholl: .O. du fröhliche, o, du selige gnadenbringende Weihnachtszeit!' flüsterte Hans seinem herzigen Bräut- chen die Worte ins Ohr: „Mögen auch viele M-llionen Menschen sich in dieser Stunde über die Gaben des ChristkmdchenS freuen, das schönste Geschenk von allen halte doch ich in meinen Armen und werde cs nimmer lassen, bis der Tod unk ^ trennt."
(End e.)