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MalüenblLÜ.
Dienstag
Keilage ;rr Nr. 152.
24. - Dezember 1895.
Iseuicteton.
INachdruck »erbstm-I
Der verlorene ^>ohn.
Eine Weihnachtsgeschichte.
Von Th. Schmidt.
(Fortsetzung.)
»Wenn sich Ihre Angaben bestätigen, so haben Sie höchstens eine geringe Ordnungsstrafe zu gewärtigen," sagte er. »Jetzt kommen Sie aber endlich mit, damit Sie ein Obdach bekommen; Sie sind ja ganz entkräftet."
»Bitte, einen Moment noch, Herr Schutzmann," mischte sich jetzt der Mann ein, welcher Maring zuerst ergriff, als dieser sich in den Fluß stürzen wollte. »Freunde, Mitbürger," rief der Mann — er schien dem Handwerkerstande anzugehören — in die umstehende Menge, »wer ein gutes Wer! thun will, der gebe diesem jungen Herrn ein Scherflein, damit er seinen Hunger stillen kann. Sie haben soeben gehört, daß er schon seit Monaten keine Stelle finden konnte. Ich weiß aus Erfahrung, was das bedeutet in einem Winter, wie dem jetzigen. Hier" — er zog seinen Hut und warf eine Mark in denselben — »wer giebt noch etwas dazu?"
In diesem Augenblicks drängte sich ein Herr in einem dicken Reisepelz vor. »Lasten Sie das, mein lieber Freund," wandte jener sich an den braven Handwerker. »Ich werde allein für den jungen Herrn sorgen, den ich bin sozusagen sei« Schuldner. Herr Maring, mein Gott, was geht hier vor?" redete der Ankommende den halb ohnmächtig im Arme des Schutzmanns liegenden Arrestanten an.
Dieser hob beim Klange der ihm bekannten Stimme mit einem aus tiefster Brust kommenden und wie der Aufschrei eines Erlösten klingenden Seufzer das todtenblaste Haupt.
»Ich bin wegen BettelnS arretirt, Herr Rose. Ich konnte nicht anders. Seit drei Tagen habe ich schon gehungert."
»Ach — Sie sind's, Herr Rose," rief jetzt der Schutzmann. »Kennen Sie diesen jungen Mann?'
»Ja, ich kenne diesen jungen Herrn," antwortete der soeben von der Reise heimkehrende und auf dem Wege vom Bahnhof nach feiner Wohnung sich befindende Buchhändler im ernsten Tone. Er war gerade in dem Augenblicke, als der Schutzmann den Arrestanten nach seinem Namen fragte, vorübergegangen und hatte Maring sofort wieder erkannt. »Ich bedaure es tief, daß es soweit mit Herrn Maring gekommen ist," fuhr der Buchhändler gegen den Schutzmann gewendet fort, »denn ich bin gewissermaßen Schuld daran. Wenn ich vor zwei Tagen nicht plötz- hätte verreisen müssen, so würde ich mit Herrn Maring ein Geschäft abgeschlossen haben, bei dem er soviel Geld ausgezahlt erhalten hätte, daß er nicht zu betteln brauchte. Ich büte Sie, mir jetzt den jungen Herrn zu überlasten. Sie kennen mich ja, ich übernehme jede Garantie für ihn. Hat Herr Maring wirklich eine Strafe wegen solchen geringfügigen und gewiß nur in der höchsten Not vollführten Vergehens zu gewärtigen und kann die Strafe mit einer Geldbuße getilgt werden so bin ich gern bereit, für ihn zu zahlen."
Der Schutzmann blickte bei den warmen Worten, mit welchen sich der Buchhändler des Delinquenten annahm, überrascht auf. Herr Rose, welcher in der Nähe in seinem Polizeirevier wohnte, war ihm als Ehrenmann bekannt; dessen Fürsprache bewirkte sogar, daß er Maring jetzt auch ein wenig mit dem Auge des Christen und Nächsten und nicht allein mit demjenigen des Polizisten ansah.
Er nickte befriedigt. »Wenn Sie sich eben mit zur Polizeiwache bemühen und das eben Gesagte dort wiederholen wollen, Herr Rose, dann wird gegen die Freilassung des jungen Henn wohl nichts einzuwenden sein. Ich muß mich streng an meine Dienstvorschrift halten," sagte er gennffermaßen als Entschuldigung für sein Vorgehen gegen Maring.
»Einverstanden — gehen wir," nickte der Buchhändler, dem eS daran gelegen war, Maring schnell den Blicken der Neugierigen zu entziehen.
Unter lautem »Bravo!' der Menge traten der Buchhändler, Maring, sowie der Schutzmann den Weg zur nahegelegenen Polizeiwache an. Während die Menge sich zerstreute, schob Herr Rose seinen Arm unter denjenigen seines jungen Schützling», denn dieser konnte sich infolge hochgradiger Schwäche nur langsam vorwärts bewegen, und stützte ihn. dabei redete er freundlich zu Maring i
»Sie Ärmster, hätte ich nur ahnen können, daß Sie ganz ohne Subsistenzmittel waren, al» Sie mir vorgestern in meinem Laden Ihr Briefmarken-Album zur Prüfung übergaben, dann hätte ich Ihnen gern einen Vorschuß von mehreren hundert Mark gezahlt. Sie wissen wohl garnicht, daß Ihre kleine Sammlung sehr wertvolle Marken enthält?"
Aut den Augen Marings traf den edlen Menschenfreund ein heißer DankcS- blick. »Nein, Herr Rose, ich habe keine Ahnung von dem Werte der Briefmarken. Haben Sie Dank, daß Sie mich aus einer schrecklichen Lage befreien wollen. Dies« Stunde und Ihr Eintreten für einen Ihnen fast noch Unbekannten werdr ich nie vergessen."
HanS war durch da» plötzliche Erscheinen des Buchhändlers und durch dessen Worte, welche er zu seiner Errettung au» den Händen der Polizei gesprochen, sowie auch durch di« Andeutung betreffs de» hohen Werte« seiner Briefmarken, aufs Höchst« Überrascht. War'» denn Möglich, daß ihm die Sonne de» Glück» jetzt endlich wieder
leuchten sollte, nachdem ihn rin unerbittliches Schicksal auf die tiefste Stufe des Menschenelends herabgedrückt hatte? fragte er sich. Er wähnte zu träumen. Stumm folgte er den beiden Männern, von denen sich besonder» der Buchhändler alle Mühe gab, seinem Schützling Trost und Mut zuzusprechen.
Bald war die Polizeiwache erreicht. Der Schutzmann erstattete über Maring vor dem dienstthuenden Polizei-Leutenant kurzen Rapport, dann nahm Herr Rose das Wort und schilderte mit warmen Worten, wie der Arretirte lediglich durch seme plötzliche Abreise in Not und Verzweifelung geraten sei, und daß es ferner für daS Fortkommen desselben aus leicht begreiflichen Gründen von großer Wichtigkeit wäre, daß derselbe nicht schon einmal auf der Polizeiwache genächtigt habe. Ganz abgesehen von der tiefen seelischen Depression, welche eine Jnhaftirung bei dem Arrestanten hinterlassen müsse, würde derselbe später auch nirgends wieder eine Stellung finden, wenn in dem überall geforderten Polizeiattest zu lesen wäre, daß er schon einmal wegen Bettelns und Obdachlosigkeit bestraft worden sei.
Der Polizei-Lieutenant war ein freundlicher, edeldenkender Mann. Er notirte sich den Vorfall, dann entließ er HanS und gab ihm dabei noch einige Ratschläge wie man sich im Falle gänzlicher Mittellosigkeit in Berlin zu verhalte» habe, mit auf den Weg. Maring dankte dem Beamten und folgte seinem über den guten Ausgang erfreuten Retter nach dessen Wohnung, wo Herr Rose zunächst seinen Schützling mit Speise und Trank erquickte. Der Buchhändler hatte offenbar in Breslau ein gutes Geschäft gemacht, denn er zeigte sich sehr aufgeräumt. Um seinen Gast, der die aufregende Scene an der Brücke nicht vergessen konnte und der ernst und bescheiben-zurückhaltend an dem Mahle teilnahm, welches die liebenswürdige Gattin des Buchhändlers für beide Männer schnell hergerichtet hatte, aufzuheitern, erzählte er einige kleine scherzhafte Erlebnisse aus seinem Leben und daß er bei einem solchen auch einmal beinahe als Fechtbruder arretirt worden wäre. Zuletzt kam er auch wieder auf Marings Briefmarken-Album zu sprechen.
»Erinnern Sie sich noch, Herr Maring, der kurzen Unterredung mit dem Commerzienrat Pflüger in meinem Laden? Es war, wenn ich mich nicht irre, heute vor drei Tagen, um diese Zeit. Der Herr trug mir auf, ihm eine seltene Bahama- Briefmarke bis zum Christfeste zu beschaffe«. Denken Sie sich: als ich am nächsten Morgen Ihr Album flüchtig durchblättere, finde ich zu meiner großen Freude in demselben die lange gesuchte Briefmark«, und zwar em sauberes, schönes und, was die Hauptsache ist, auch wirklich echter, mit einem Poststempel entwertetes Exemplar. Sind Sie bereit, diese Briefmarke für den Preis von zweihundert Mark zu verkaufen?"
HanS hatte aufmerksam zugehört. Zweihundert Mark!' staunte er. »Sie wollen sich wohl einen Scherz mit mir erlauben?' fragte er, aufs Höchste überrascht, daß sein, in den letzten Jahren wenig beachtetes Album einen solchen wertvollen Schatz enthalten sollte.
»Durchaus nicht, mein junger FreundI" antwortete Rose. »ES sind sogar noch teurere Marken in Ihrem Album, und rate ich Ihnen, dieses recht sorgsam zu hüten."
In MaringS Augen spiegelte sich Überraschung und Freude. »Wenn ich Ihnen mit dem Verkauf der Briefmarke eine Gefälligkeit erweisen kann, so nehmen Sre nur, büte, waS Sie aus dem Album gebrauchen können, den Wert zu bestimmen, überlaffe ich Ihnen, ich habe keine Idee von der Höhe der Preise."
Der Buchhändler lächelte. »Ja, daS haben Viele nicht, und daher kommt e» denn auch, daß oft alte BriescouvertS und Briefe in den Ofen wandern, aus denen die Besitzer kleine Kapitalien machen könnten."
Herr Rose ging hienach in sein Comtoir und Höfte Marings Briefmarken- Album herbei. »Waren Sie nicht früher in einem Bankhaus« thätig?' fragt» rr HanS nachdenklich.
»Jawohl!"
»Schön l" der Buchhändler setzte sich an seine» Schreibtisch und schrieb einig« Zeilen auf eine Geschäftskarte, couvertirte dieselbe und übergab Maring den Brief mit den Worten: »M« ist da eben em guter Einfall gekommen. Gehen Sie selbst mit dem Briefmarken-Album zu dem Commerzienrat Pflüger, der Herr wohnt hier in der Nähe, vielleicht giebt er Ihnen noch mehr für tue Bahama-Marke. Dieser Brief diene Ihnen als Empfehlung." Der Buchhändler hatte offenbar mit der persönlichen Überreichung des AlbumS bei dem Commerzienrat seiten« MaringS noch einen anderen Zweck, als den Verkauf der Briefmarke cm Auge. Doch davon sagte er HanS nichts.
Maring erhob sich, dankte der Dame des Hauses für di« freundliche Aufnahm» und versprach dem Buchhändler, der ihn zum Mittagessen am nächsten Tage rinlud, morgen wieder zu kommen, dann verließ er in ungleich freudigerer Stimmung al» gestern daS Haus seines edlen Gönner«.
VI.
Nachdem HanS Maring durch mehrere kleine Straßen gegangen war, stand er bald vor dem palastartigen Hause des LommerzienratS Pflüger, welcher em al» gut und solid bekannte» Bankgeschäft besaß. Nicht ohne einige Befangenheit zog er, da da« Bankgeschäft bereit» geschlossen hatte, die Hausglocke. Nach so vielen Enttäuschungen mochte er noch nicht daran glauben, daß er schon in der nächsten Stunde mühelos in den Besitz einer ansehnlichen Geldsumme gelangen sollte, mit welcher er momentan alle seine Wünsche befriedigen und, waS für ihn das Wichtigste war, auch die teure Mutter endlich wieder unterstützen konnte.
(Fortsetzung folgt.)