588

Wenn ich auf wiederholte Bitten der freisinnigen Vertrauensmänner des VII. württembergischen Wahlkreises die Kandidatur zum deutschen Reichstag angenommen habe, so geschah es, weil ich mit ihnen erkenne, daß der Nus der Bürger nach einer volkstümlichen Gesetzgebung und Verwaltung vollberechtigt ist und daß die Forderungen des Programms der deutschen Volkspartei wohl begründet sind; Ehrgeiz lag mir ferne. Worin gefehlt wurde und was vor allem not thut, das liegt für's Volk klar zu Tag.

Man hat in den letzten Jahrzehnten die öffentlichen Lasten gesteigert, mehr als für die Landwirtschaft, für den gewerblichen Mittel­stand, für die Arbeiterschaft und überhaupt für den Volkswohlstand zuträglich war. Man muß endlich dem kleinen und mittleren Mann Ruhe gönnen und ich würde mit aller Entschiedenheit auf der Seite derjenigen stehen, die gegen neue Reichssteuern auftreten und stimmen. Sparen heißt die Losung für den Bürger und den Bauern und darum muß Sparen endlich auch das Losungswort des Reichs werden. So kann es nicht fort« gehen mit der ewigen Steigerung der Militär- und Marineausgaben. Vor allem muß das kostspielige und verkehrte System der Offizierspensionierungen geändert werden; sodann muß man die Unfall-» Kranken-, Alters- und Jnvaliditätsversicherung auf eine ein­fachere und billigere Grundlage setzen, damit nicht die Verwaltungskosten Unsummen verschlingen und nicht ungesund große Kapitalanhäufungen den Privatbetrieb, dem diese Mittel entzogen werden, dauernd schwächen.

Der Grundsatz der Gerechtigkeit und des Rechtsschutzes muß alle Gebiete unseres Staatslebens durchdringen. Darum sollen die unschuldig Verurteilten auf Staatskosten entschädigt werden; darum soll man zur möglichsten Verhinderung der Soldatenmitzhandlunge« ein öffentliches und mündliches Militärstrafverfahren und ein besonderes Beschwerderecht einführen.

Wenn man bereits wieder an der zweijährigen Dienstzeit rütteln will, die das Volk wahrlich teuer genug erkaufen mußte, so halte ich für die richtigste Antwort der Volksvertretung: Die zweijährige Dienstzeit hat sich bei der Infanterie bewährt und darum soll man sie nachgerade auch bei anderen Truppengattungen einführen, was für die an Arbeitskräften Mangel leidende Landwirtschaft eine Wohlthat wäre.

Auf die Erhaltung und Kräftigung des bäuerlichen und gewerblichen Kleinbetriebs und Mittelstands muß ein

Hauptaugenmerk gerichtet werden. Jedes Mittel, das ihre Leistungsfähigkeit erhöht, verdient die wohlwollendste Förderung, die landwirtschaft­lichen Nebenbetriebe müssen begünstigt und nicht wie durch die Branntweinsteuergesetzgebung erschwert werden, die Viehzucht muß planmäßig gehoben werden. Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe sollen unabhängige Organe zur Vertretung ihrer Anliegen erhalten. Dem Gewerbe kann und soll auch durch bessere Ausgestaltung des Submissionswesens und durch thunlichsten Schlitz gegen unehrliche Wettbewerbe der ehrliche Kampf um's Dasein erleichtert werden.

Dabei soll die Richtschnur einer Volksvertretung nicht einseitiges Standes- und Klasseninteresse, sondern das Wohlergehen aller sein. Die staatliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit kann nur verbittern.

Unentbehrlich für die gesunde Entwicklung eines Staats ist freie Meinungsäußerung aller Bürger. Mit politischen Straf- und Polizei­gesetzen, mögen sie sich nun Umsturzgesetz oder Ausnahmegesetz heißen, wird nichts gebessert und darum bin ich ein Gegner derselben. Ich weiß, daß das allgemeine direkte und geheime Wahlrecht viele und mächtige Feinde hat. Dieses gleiche Recht für reich und arm, für hoch und nieder, muß bleiben; ich würde es gegen jeden Angriff verteidigen.

Nur auf solcher Grundlage ist es möglich, daß wir im deutschen Vaterland, dessen unverbrüchliche Einheit mir teuer ist, zu gesunden, konstitutionellen Zuständen gelangen und die bestehende Zerfahrenheit überwinden.

Und noch Eines liegt mir am Herzen: Im Reichsverband soll unser Württemberg die Stellung einnehmen und bewahren, die dem schwä­bischen Volksstamm neben den Bruderftämmen gebührt und die ihm die Selbstverwaltung und Selbständigkeit seiner eigenen Landesangelegenheiten dauernd gewährleistet. Deshalb werde ich auch für die Beibehaltung erprobter Einrichtungen, insbesondere der freiwilligen Gerichtsbarkeit bei den Gemeinden im Reichstag stimmen, ebenso wie ich bei Beratung des bürgerlichen Gesetzbuches dafür eintreten werde, daß ein gut bürgerliches und volksverständliches Rechtsbuch zu stände kommt.

Das ist meine Meinung, die ich ich meinen jungen Jahren in mir getragen habe, die durch die Erfahrungen des Mannesalters bestärkt wurde und die ich als Volksvertreter bethätigen würde. Wer sie teilt, der mag mir seine Stimme geben.

Deufringen, den 30. Oktober P95.

Mandwirk und Müller

Truck und Verlag der A. Oelschläg er'schen Buchdruckere, in Calw. Verantwortlich: Paul Adolfs in Calw.

Hiezu 1 Beilage Wochenblatt.