Donnerstag

Beilage ;u Ur. 111

19. September 1895.

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Onkel Gerhard.

Erzählung von Marie Widdern.

(Fortsetzung.)

Auch die frohen Stunden dieses Christabends waren dahingegangen. Die Tage reihten sich aneinander, schnell, merkwürdig schnell, wie unsere Bekannten in Kronberg meinten. Ehe man es sich versah, war der Frühling da mit Blütcnduft und Vogelfang. Gerhard Bornstedt überraschte seine Damen mit dem Projekt,.ge­meinsam eine Reise in ein Seebad zu machen, ihnen die Wahl des Ortes überlassend. Da Clemence vor kurzer Zeit eine allerliebste Novelle gelesen, die ihren Schauplatz in dem Badeort Z. hatte, bat sie, nach dort reisen zu wollen. Die Rätin und Mrs. Smith schlossen sich dem Wunsche des holden Kindes an.

Die nötigen Reisevorbereitungen wurden denn auch sofort getroffen. Die Modistin bekam reichlich dabei zu thun, denn auf Barnstedts ausdrücklichen Wunsch sollten die Damen seinem Reichtum entsprechend ihre Ausstattung für die Reise wählen. Zu Ende des Monats Mai verließ man Kronberg. Noch am letzten Tage vor der Abfahrt war es Clemence gelungen, Hermine Lutter das Versprechen ab­zunehmen, den Freundinnen alsbald nach Z. zu folgen, freilich zum höchsten Er­staunen des alten Gutsbesitzers, der sich schließlich mit seinem gemütlichen »und alles Übrige folgt" der Bestimmung der Tochter fügte.

ES war ein herrlicher Vormittag, an dem unsere Reisenden in Z. ihren Einzug hielten. Unter dem Hellen Sonnengold präsentierte sich ihnen der niedliche Badeort wahrhaft bezaubernd. Clemence hätte sich am liebsten gleich im Kurgarten etabliert, aber Tante Rätin drang darauf, daß man sich erst in den hübschen Räumen, welche Bornstedt für den Aufenthalt an der See gemietet, einrichten müsse.

Kaum waren die Garderobestücke der Damen in Kommoden und Schränken geordnet und das Mittagessen im Wohnzimmer eingenommen, als Clemence schmeichelnd wieder darum bat, jetzt unverzüglich ins Freie zu eilen.

In eleganter Sommertoilette wanderten die Damen dann, von Gerhard be­gleitet nach dem Kurgarten. Dort konnte Clemence gar nicht Worte genug für den feinen Geschmack in den Anlagen finden. Förmlich berauscht aber fühlte sie sich beim Anblick des Meeres, welcher sich ihr von einem erhöhten Platze aus bot.

Unsere kleine Gesellschaft verbrachte so einen angenehmen Nachmittag, bis gegen Abend die Badekapelle ihre munteren Weisen ertönen ließ. Clemence war eine so aufmerksame Zuhörerin, daß sie es nicht bemerkte, wie schon vor einigen Minuten ein junger stattlicher Mann in der Uniform der Militärärzte, aus dem Kurhause getreten war. Sein Auge war musternd über das Auditorium geglitten und blieb zuletzt betroffen an unserer kleinen Gesellschaft hangen. Lange ruhte sein Blick auf dem zarten Gesicht des jungen Mädchens. Einen Moment schien es, als wollte er sich wenden, um wieder zurück in die Vorhalle des Kurhauses zu treten. Dann aber besann er sich eines andern, und mit wenig Schritten befand er sich jetzt an dem Tische der Kronberger.

»Gehorsamer Diener, meine Verehrtest«»," klang es nun von seinen Lippen.

Vier Paar Augen blickten in grenzenlosem Staunen zu ihm auf. .Guido," rief die Rätin dann,Guido, Du und in Uniform? Wie kommst Du hierher?"

»Das sollst Du gleich erfahren Tantchen," erwiderte der Doktor, indem er die Hand der alten Dame an die Lippen zog. »Zuerst gestatte mir jedoch, daß ich die übrigen Herrschaften begrüße." Damit verbeugte er sich vor Bornstedt und Clemence sowie Mrs. Smith und erkundigte sich mit artigen Worten nach aller Ergehen.

Dann saß auch er in dem kleinen Kreise und berichtete auf die wiederholte Frage der Tante, daß er für die militärischen Übungen nach dem benachbarten D. einberufen worden, wo er nahezu 4 Wochen bleiben müsse. »Ich benutzte die freie Zeit, um gleichzeitig meine angegriffenen Nerven in der Seeluft zu stärken, auch denke ich später zu baden," setzte er lächelnd hinzu.

»So werden wir also die Freude haben, Sie alle Tage hier zu sehen?" fragte Clemence jetzt und ihre Augen blickten freundlich zu ihm auf.

Er verbeugte sich und sprach dann lebhaft über die Schönheit der Gegend, den gewaltigen Eindruck, den das Meer immer wieder auf ihn mache. Nach den Kronberger Verhältnissen fragte er nicht. Und da er seiner Braut mit keiner Silbe erwähnte nannte auch niemand aus der Gesellschaft Hermines Namen vor ihm. Und doch brannten die Damen vor Begierde, in Erfahrung zu bringen, ob der Doktor wisse, daß seine Braut ebenfalls Z. besuchen würde, ja, daß man sie schon in den nächsten Tagen hier erwarte.

In der angenehmsten Weise verbrachte man nun den Nachmittag. Gegen sieben Uhr empfahl der Doktor sich der Gesellschaft wieder. Er hatte noch am Abend dienstliche Pflichten zu erfüllen und mußte deshalb nach D. zurück. »Über­dies," setzte er hinzu,will ich heute noch an Hermine schreiben. Sie hat schon fett Wochen keinen Brief von mir erhalten und weiß deshalb auch nicht, daß ich in D. bin."

Die Damen wechselten einen raschen Blick. Schon öffnete die Rätin die Lippen, um dem Neffen zu sagen, daß er Gelegenheit haben würde, seine Braut zu begrüßen, als Bornstedt ihr zuvorkommend meinte: »Wir erwarten in diesen Tagen eine Nachricht vom Nosenhof. Vielleicht warten Sie mit Ihrem Schreiben, bis diese eingetroffen. ES könnte ja sein, daß der Brief neue« für Sie enthielte, Über das Sie mit ihrer Braut zu korrespondieren hätten."

Guido neigte gleichgültig den Kopf. »Sei es drum!" erwiderte er. »Auf einige Tage länger wird eS wohl nicht ankommen. Nun gestatten Sie, meine Herr­schaften, daß ich mich entferne," setzte er hinzu, »der Achtuhrzug geht sonst ohne mich ab. Ich käme aber in die peinlichste Verlegenheit, wenn ich um neun Uhr nicht im Kasernement meines Regiments wäre." Nun noch eine kurze Besprechung für das Wiedersehen am nächsten Tage, und Guido hatte sich entfernt.

Kaum aber war er außer Hör- und Sehweite, als Clemence die kleine Hand auf den Arm ihres Vormundes legte und staunend fragte: »Aber Onkel, weshalb sollte Tante Barner dem Doktor nicht Mitteilen, daß Hermine uns schon in wenigen Tagen hier besuchen würde?"

»Und das errät mein kleines Mündel nicht?" lächelte Bornstedt. Aber als Clemence das dunkle Köpfchen schüttelte, auf welchem gar kokett ein weißes, rssen- geschmücktes Spitzenhütchen ruhte, setzte er hinzu: »Hätten wir den Doktor über die Neffepläne seiner Braut unterrichtet, so würde er sich sicherlich für die Stunde deS Wiedersehens mit allen Vorurteilen gewappnet haben, die er gegen das Mädchen hegt. Nun aber muß Hermines veränderte Erscheinung unvorbereitet, wie sie sich ihm gegenüberstellen wird, überwältigend auf ihn wirken und sich vielleicht noch alles zum besten wenden, wenn Fräulein Lutter nicht zuletzt selbst noch einen Strich durch unsere Rechnung macht."

Trotz seines Versprechens, sich in den Nachmittagsstunden des nächsten Tages wieder im Kurgarten einzufinden, hatte Guido nur ein kurzes Billet gesandt, mit der Bitte, ihn freundlichst entschuldigen zu wollen, da er durch einen schwer erkrankte« Soldaten behindert sei, an Ort und Stelle zu erscheinen.

Wie wenig wahrheitsgemäß diese Ablehnung gehalten war, ahnte vielleicht nur die Rätin. Weder Gerhard noch Clemence konnten wissen, daß Guido Schmieden nach Ausflüchten suchte, um ein allzu häufiges Beisammensein mit dem jungen Mädchen zu vermeiden. Anders war es für ihn, zu Hause, wo er den gewohnten Beschäftigungen nachging, Clemence nahe zu sein, als hier, wo die Ungebundenheit des Badelebens ihn gar zu leicht verführen konnte, wieder dem gefährlichen Zauber ihres Wesens zu versagen, allzutief in ihre leuchtenden Augen zu blicken. Und er wollte der Verlobten unbedingt als Ehrenmann treu sein; je weniger er sie liebte, desto fester sollte sie auf seine Rechtschaffenheit vertrauen dürfen. So war er zu dein Entschluß gekommen, möglichst selten nach dem Badeort herüberzufahren.

Daß sich der Doktor unter diesen Umständen in der schlechtesten Stimmung befand, ist begreiflich. Ja, wenn seine Zeit nur genügend in Anspruch genommm gewesen wäre wie daheim, wo er, außer den Sprechstunden im eigenen Hause, den ganzen Tag unterwegs war, um seine ärztlichen Besuche zu machen! So aber, kaum für die Hälfte des Tages beschäftigt, blieb ihm gar zu viel Zeit zu trüben Gedanken über die Zukunft.

So waren mehrere Tage vergangen, als Schmieden eines Mittags, aus dem Dienst kommend, seinem Quartier zuschlenderte. Demselben bereits ziemlich nahe, siel sein Blick plötzlich auf eine sonderbare Gruppe. Er sah auf der Schwelle eine« alten Hauses ein totdlaffes Weib hocken, in dessen Antlitz Hunger und Not ver­räterische Züge geschrieben. Vor dieser Unglücklichen stand eine hohe, in ei» ele­gantes Neisekostüm gekleidete Frauengestalt. Dieselbe war jedenfalls aus der mit Koffern beladenen Droschke gestiegen, welche ganz in der Nähe hielt. Teilnehmend beugte sie sich nun zu dem armen Weibe hinab, dessen Anblick sie ohne Zweifel ver­anlaßt hatte, den Wagen zu verlassen. Doktor Guido sah nur die Gestalt der Fremden und das prachtvolle Blondhaar, welches, modisch geordnet, nur wenig von dem grauen Reffehütchen bedeckt wurde. Dennoch frappierte ihn die Erschein­ung der Dame in einer Weise, daß er seine Schritte hemmte und aufmerksam nach der Guippe hinübersah. Lauschend hörte er jetzt, wie die Fremde zu dem Weibe sagte:

»Ich werde sofort Erkundigungen Über Sie einziehen. Bewahrheiten sich Ihre Aussagen, so will ich Sorge tragen, daß Ihrer Not dauernd abgeholfen wird. Natürlich dürfen Sie inzwischen nicht auf der Straße bleiben. Ich sehe da drüben ein kleines Gasthaus, gehen Sie für ein paar Stunden dorthin. Hier sind die nötigen Mittel dazu," fuhr sie fort, aus ihrem Portemonnaie ein Geldstück greifend. »Im Laufs des Nachmittags bin ich wieder bei Ihnen, um daS Weitere zu veranlassen. Denn hoffentlich habe ich inzwischen die Gewißheit erhallen, daß Sie der Teilnahme ehrlicher Menschen wert sind."

»O, gnädiges Fräulein," rief das Weib wie außer sich und wollte der Samariterin zu Füßen fallen. Diese aber wehrte ihr erschrocken:

»Um Gottes willen, keine Scene auf offener Straße!" rief sie und hob di« Hände. »Machen Sie, daß Sie unter Dach und Fach kommen und ein warme« Mittagessen nehmen!"

Engel!" flüsterte daS Weib. »Sie kommen später wirklich?' setzte «S stehend hinzu,um"

»Ihnen die Nachricht zu bringen, daß ich eine Wohnung für Sie gemietet habe. Ja, ja, liebe Frau! Und wie gesagt, ich werde mehr für Sie thun, fall« sich Ihr Bericht bewahrheitet. Doch nun Gott befohlen I*

Damit nickte die Fremde dem armen Weibe freundlich zu und wandte sich nach dem Mietswagen zurück. Noch aber hatte sie denselben nicht bestiegen, al» sie ihren Arm berührt fühlte, und eine männliche Stimme neben sich sagen hörte:

»Ist es denn möglich sind Sie eS wirklich, Hermine?'

Die hohe Gestalt der Dame zuckte bettoffen zusammen, ihr Kopf wandte sich, und eine heiß«, verräterische Glut flog über ihr Gesicht, als sie in da« Auge de«» jenigen sah, der sie so unerwartet angeredet. (Fortsetzung folgt.)