Samstag.

Beilage zu Uv. 144. 8. Dezember 1894.

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Dcrs Lote Kd US.

Roman von Carl Görlitz.

(Fortsetzung.)

XVII.

Seit dem Verschwinden der jugendlichen Tochter des Barons Paul von Bartenstein waren bereits mehrere Wochen vergangen.

Der .Delphin" und mehrere andere Kriegsschiffe, die während des Frühjahrs in der Nähe des Hafens manöverirt hatten, sollten jetzt eine größere Fahrt antreten, um auf dem offenen Meere Sprengversuche mit Torpedos anzustellen und dann nach ferneren Küsten zu dampfen.

Am Vorabend des TageS, an welchem die Flotte den Hafen verlassen sollte, saß Gerhard im Kabinet des Sanitätsrats. Er machte seinen Abschiedsbesuch.

Das Gespräch zwischen dem SanitätSrat und Gerhard drehte sich wie immer nur um die Verschwundene, Unvergessene. Die beiden Herren wurden in ihrer Un­terhaltung durch den Eintritt eines Dieners unterbrochen. Derselbe meldete einen Besuch.

.Wer ist es?" fragte der SanitätSrat, der nach der Uhr sah, welche einige Minuten vor Sieben zeigte.

.Er hat seinen Namen nicht genannt," erwiderte der Diener, ,eS ist ein Mann vom Lande, der Sie gern zu sprechen wünschte."

.Entschuldigen Sie mich für einige Minuten," sagte der Arzt zu seinem Gaste.Ein Arzt ist eben Tag und Nacht nicht Herr seiner Zeit. Der Rest des Abends gehört Ihnen dann aber ausschließlich."

Gerhard, der an diesem Tage die Uniform trug, stand auf und verneigte sich. Der SanitätSrat ging hinaus, um im Nebenzimmer dem Hilfesuchenden seinen ärztlichen Rat zu erteilen.

Der Marineoffizier setzte sich wieder hin und versank in jene tiefe Schwer­mut, der er sich jetzt stets überließ, wenn ihn nicht seine Beschäftigung an Bord während der Dienststunden von seinem Kummer um die Verlorene abzog. Au» dieser Versunkenheit entriß ihn ein Ausruf im Nebenzimmer.

Er richtete sich auf und horchte unwillkürlich. Sollte der SanitätSrat irgend eine Operation vollziehen?

In demselben Augenblick wurde die Thür aufgerisien. Der SanitätSrat, ein Mann von sonst gleichmäßiger Ruhe in Sprache und Bewegungen, jetzt aber augen­scheinlich sehr erregt und totenbleich im Gesicht, winkte ihm, in das Nebenzimmer zu kommen.

Gerhard sah ihn überrascht an.

Verstehe ich recht." fragte er, sich der Thür nähernd,ich soll-"

Der Sanitätkrat ließ ihn nicht vollenden, sondern streckte ihm beide Hände entgegen, erfaßte Gerhards Arm und zog ihn hastig durch die Thür zu sich in seinen Empfangssalon, wo Gerhard sich einem graubärtigen Manne gegenüber fand, der einen dunkelblauen Friesanzug trug und einen wasserdichten schwarzen Lackhut, einen sogenannten Südwester, in den Händen hielt.

Der Mann enthüllte ein Geheimniß, welches auch dem Kapitän einen Schrei erpreßte, aber einen Freudenschrei.

* *

*

Vier Stunden darauf lag zwar nächtliche Ruhe, aber nicht nächtliche Dun­kelheit über der Stadt. Die Sternenbilder des Himmels waren heute nicht zu sehen, denn sie verschwanden vor der Pracht des Vollmonds, der mit seinem glänzenden Licht daS Firmament in dieser Sommernacht ganz hell erscheinen ließ. Aber cs war trotz aller Klarheit doch nicht die Helle des TageS, sondern jene magische, schleierhafte Beleuchtung, welche alle Gegenstände verklärt, jene Beleuchtung, welche Schwärmer und Liebende entzückt.

Die eine Hälfte des .Hauptwegs" lag im tiefen Schatten, während die gegen­überliegende Häuserreihe vom Mondlicht grell beleuchtet war. In der Mitte der Straße zeichneten sich die wunderbaren Giebel, unter ihnen der des .toten Hauses," wie pechschwarze Silhouetten auf dem im Mondschein weiß erscheinenden Stein­pflaster scharf begrenzt ab. Im Dreßler'schen Hause wachte Niemand mehr als Jordan. Er saß am Pult und rechnete.

Die Person, welche seinen Plänen im Wege gestanden, war beseitigt und doch mußte er sich nicht ganz sicher fühlen, denn er sah bald nach rechts, bald nach links, ja, er wandte sich sogar einmal zögernd und scheu nach rückwärts um; ihm war mitunter, als ob Jemand neben hinter ihm stände.

Er rechnete weiter, aber mitten im Schreiben einer Zahlenreihe hielt er wieder an und sah seitwärts.

Hockte da nicht eine Gestalt, ein formloses Etwa» auf der Schwelle, die in sein Schlafzimmer führte?

Nein, er hatte es sich nur eingebildet, aber daß er sich einbilden konnte, war gräßlich. Ihn fröstelte, trotzdem eS mitten im Sommer war und die Hitze des ver­gangenen Tage» eine drückende Sa wüle in seinem Zimmer hinter lassen hatte. Sprach da nicht Jemand? Er lauschte, nein, es war Alles still.

Plötzlich seufzte er tief auf und die Feder entsank seinen Händen, er stützte den Kopf in dis Hand. Es hatte doch Jemand gesprochen, sein Gewissen.

Er schüttelte den Kopf, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, ergriff die Feder und begann abermals zu rechnen.

Da hörte er wirklich ein Geräusch.

Es klopfte draußen, leise aber vernehmlich, an das Hausthor, als wenn Jemand Einlaß begehrte. Jordan erbebte. Wenn es nur ordentlich stark und laut geklopft hätte, so wäre anzunehmen gewesen, daß ein vorbeigehender Trunkener oder übermütige Burschen sich einen Scherz machten, aber es tönte so leise, so furchtsam, so geisterhaft, daß Jordan selbst nicht wußte, ob er sich nicht wieder nur einbildete, etwas zu hören, was gar nicht existirte.

Nein, es war keine Täuschung, das Pochen erscholl lauter. Es war also wirklich Jemand draußen vor der Thür.

Jordan ging an da» Fenster, öffnete den Laden ein wenig und strengte sich an, hinauSruschauen. Aber er sah Niemand. Der Klopfende mußte dicht an der Thür stehen, zu deren beiden Seiten die Mauerwand des Hauses etwas vorsprang, so daß die Thür wie in einer Nische lag. Da das Klopfen nicht aufhörte, ergriff Jordan den Schlüffe! und ging murrend hinaus. Seine ursprüngliche Furcht hatte sich in Aerger verwandelt.

Wer ist da?" fragte er, bevor er öffnet«.

Keine Antwort, aber das Klopfen wiederholte sich. Jetzt war Jordan über­zeugt, daß sich Jemand eine Neckerei mit ihm erlaubte. Da« sollte dem Draußen­stehenden schlecht bekommen. Mit einem derben Fluch zog er Riegel und Kette zu­rück, steckte den Schlüffe! in das Loch und drehte ihn um. Der Thorflügel öff­nete sich.

Jordan sah eine kleine Gestalt vor sich; der tiefe Schatten, welcher sie umgab, ließ ihre Umriffe verschwommen erscheinen, und die grelle Beleuchtung der gegen­überliegenden Häuserreihe blendet« außerdem Jordans Augen. Er konnte die GesichtSzüge dieser rätselhaften, zu nächtlicher Welle wie aus dem Boden getauchten Gestalt nicht gleich erkennen. Deshalb beugte er sich vor und faßte sie schärfer ins Auge, aber plötzlich zuckte er zurück, als ob ein Blitzstrahl vor ihm niederschlüze und den Boden zu seinen Füßen spaltete.

Vor ihm stand Angelika.

Gleichzeitig lösten sich auf der anderen Seit« der Thür von der Wand de» Hauses mehrere Personen ab, die der finstere Schatten mit der Mauer eins hatte erscheinen lassen.

.Mörder!" hallte eS in Jordans Ohr, er wurde von mehreren kräftigen Fäusten gepackt. Gerhard, der SanüätSrat, mehrere Polizribeamte umstanden ihn.

.Gnade. Gnade!" stammelte er und sank halb bewußtlos zusammen. Als er wieder zu sich kam, waren ihm die Hände auf den Rücken gefeffelt und er befand sich vollständig in der Gewalt der Polizei.

Angelika schmiegte sich an Gerhard; neben ihnen stand eine ältere Frau und jener Mann, der am Abend in die Wohnung de» SanitätsratS gekommen war. Aus seinen Mitteilungen hatte der Arzt und Gerhard vernommen, welch' ein Schicksal Angelika gedroht hatte und wie sie gerettet worden war.

Der fremde Mann war ein Fischer aus einem Dorfe auf der Wiesen-Niederung beim Wall. In jener Mordnacht hatte er, in seinem Kahn sitzend, am Fuß des Walles Aalreusen gelegt. Dicht vor ihm war Angelika in das Wasser gestürzt, aber die langen, aus Weidenruthen geflochtenen Reusen hatten ihren Fall abge­schwächt und den Körper des besinnungslosen Mädchens aufgefangen. Mit geringer Mühe hatte der erschrockene Fischer die Aermste in seinen Kahn gezogen, aber sie blieb von tiefer Ohnmacht befangen. Er glaubte, daß ein versuchter Selbstmord vorläge, und ihm blieb nichts übrig, als die Besinnungslose mit nach Hause in sein Dorf zu nehmen. Auch dort unter der Pflege des Fischers und seiner menschen­freundlichen Frau kam sie nicht wieder zu sich, sondern fiel in Folge des gehabten Schreckes und des Sturzes in das Wasser in ein hitziges Nervenfieber und schwebt« längere Zeit zwischen Leben und Tod. Die braven Fischersleute hielten den Ge­danken an einen Selbstmordversuch ihres Pfleglings fest und unterließen deshalb jede Nachfrage bei den Behörden der Stadt. Sie hatten aus den Kleidern und der ganzen Persönlichkeit der Kranken entnommen, daß sie vornehmer Leute Kind sein müsse, wenn sich auch kein Brief oder sonstiges Schriftstück bei ihr gefunden hatte, das ihren Namen verraten konnte. Sie wollten dem jungen Mädchen sowie der Familie desselben den Schmerz und die Demütigung ersparen, daß dieser ver­meintliche Selbstmordversuch öffentlich bekannt würde, was bei einer Anzeige des Falles nicht verhindert werden konnte. Sie warteten deshalb Angel,ka's Genesung ab und hofften, dieselbe dann ohne Aufsehen ihrer Familie wieder zuführen zu können. Wie aber erschrocken sie, als diese Genesung und mit derselben das Be­wußtsein Angelika'« wieder eintrat und sie nun vernahmen, welchem schändlichen Verbrechen das Mädchen beinahe zum Opfer gefallen wäre. Angelika kannte die Verhältnisse imtoten Hause" jetzt zu genau, um es nicht vorzuziehen, ihren Lebens­retter zu dem ihr wohlgeneigten Sanitätsrat zu schicken. Sowie Letzterer und Gerhard die zugleich erschütternde und doch freudige Nachricht von Angelika's Schick­salen erfahren hatten, waren sie nach heimlicher Anzeige dcs beabsichtigten Morde« nach dem Fischerdorfs hinübergesegelt und hatten Angelika von dort abgeholt. Unter dem väterlichen Schutze des SanitätsrateS, unter liebender Sorge Gerhards war sie beim Einbruch der Dunkelheit in dre Stadt zurückgckehrt.

(Schluß folgt.)