Beilage zum „Callver Wochenblatt
Nro. 8ö.
JeuiLketon.
- Nachdruck verboten.
Karokd Hharltons geheime Wege.
Aus dem Amerikanischen von Sophie Freiin v. Zech.
(Fortsetzung.)
„Ach, redet doch nicht davon, Herr," erwiderte der Matrose, indem er sich mit der Handfläche über die Augen fuhr, um die Thränen abzuwischen. „Hab' ich doch Eure liebe Mutter gekannt und war bei ihrer Trauung in der Dorfkirche der einzige Zeuge. Als ich aus Südamerika zurückkam, war Euer Vater schon mehrere Jahre tot und Eure gute M. tt-r wurde von der hochmütigen Sippe nicht als rechtmäßige Lady anerkannt. Alles mußte zusammen helfen, der schulische Advokat, der den Trauschein unterschlug, und der Brand in der kleinen Dorfkirche. Eure Mutter lebte mit Euch zwei wilden Jungen still und zurückgezogen in Oporto in dem Hause, das Sir Bernard gekauft. Sie sparte es sich am Munde ab, um Euch die besten Lehrer bezahlen zu können. Ich bot ihr an, beim Gericht in England zu beschwören, daß ich bei der Trauung gegenwärtig war, aber sie memte, ohne den Trauschein würde cs nichts helfen, man würde mir nicht glauben, mich wohl gar als Betrüger einsperren. Sie mag schon recht gehabt haben, die gute Frau, gegen die vornehmen, reichen Leute kann ein armer Matrose nicht aufkommen.
„Die Mutter hat uns, als wir heranwuchsen, Alles erzählt", sagte Harold. „Ich faßte schon als vierzehnjähriger Junge den Entschluß, nach England zu gehen und auszuforschen, ob ich das Trauzeugnis nicht finden könne; mir lag nichts an dem Reichtum, aber ich wollte die Ehre meiner Mutter wieder hergestellt sehen. Ich haßte die unbekannte vornehme Verwandtschaft meines Vaters von Grund meines Herzens als wir fünfzehn Jahre alt waren, starb unsere gute Mutter. Unser Onkel mütterlicherseits nahm uns beide zu sich, er verkaufte das Haus und verwaltete unser Erbteil. Felix ließ sich mit achtzehn Jahren als Matrose anwerben —"
„Und kam zufällig auf das nämliche Schiff wie ich", unterbrach Anselmo die Erzählung. „Wir segelten lustig in allen Ländern umher und Herr Felix holte kich, als wir einmal wieder im schönen Heimatlands anlangten, seine Braut. Er war damals Hochbootsmann."
„Du warst eS, Anselmo, der ihn zum Schmuggeln verführte," sagte Harold. „Doch ich will Dir keinen Vorwurf machen, das ist jetzt vorüber. Mein Schicksal war nicht so abenteuerlich. Ich blieb bis zu meinem achtzehnten Jahre in Portugal im Hause meines Oheims, dann aber segelte ich nach England; mein Onkel gab mir mein Erbteil heraus und ich studierte in England Rechtswissenschaft, ich wollte die englischen Gesetze kennen lernen. Als ich meine Studien vollendet hatte, meldete ich mich auf das Bureau von Mr. Baylis nach Westringham, sobald ich hörte, daß dort die Stelle eines ersten Clerks frei sei. Es trieb mich an den Ort, an welchem «an meine Rechte verleugnete; ich hegte die Hoffnung, im Bureau des Nachfolgers des schurkischen Mr. Scott den Beweis meiner legitimen Abkunft zu finden. Ach ! Ich glaube, diese Hoffnung ist trügerisch. Ich habe mich vergeblich zu dem trocknen Studium der Rechtswissenschaft gezwungen, während doch die Malerei das Einzige ist. zu dem es mich hinzieht."
„Na, lassen Sie es gut sein, Herr Harold," tröstete Anselmo, „Sie finden Ihr Auskommen auch ohne glänzenden Namen und Ihr Schätzchen, die schöne Tochter des Squire Mostyn, liebt Sie gewiß als Mr. Charlton ebenso, als wenn Sie Lord Brackenburg wären."
„Ja gewiß, Alter," sagte Harold, unwillkürlich lächelnd.
Während dieses Gespräches waren die beiden Männer an Harolds Wohnung angelangt, wo Anselmo sich verabschiedete.
Im Hausflur begegnete Harold dem Hausmädchen, welches den Kaffee in das Zimmer ihrer Herrschaft trug.
„Ei, da sind Sie endlich, Mr. Charlton," rief Mary aus. „Wir haben uns so sehr um Sie geängstigt, wir dachten, es sei Ihnen ein Unglück zugestoßen, es ist ja noch gar nicht vorgekommen, daß Sie die Nacht außer dem Hause zubrachten. Überdies ist auch eine telegraphische Depesche an Sie gekommen, ich habe sie in Ihr Zimmer gelegt."
„Eine telegraphische Depesche an mich?" dachte Harold verwundert und trat rasch in sein Zimmer.
Richtig, da lag die Depesche auf dem runden, mit einem etwas verblaßten Teppich bedeckten Tisch. Hastig griff Harold danach, öffnete dieselbe und las folgend» Worte:
„Reisen Sie unverzüglich nach Wien und gehen Sie dort in die Walfisch- straßr Nr. 10. Ein Sterbender erwartet Sie. Sie erhalten das Trauzeugnis Ihrer Ettern. Anna Strang."
„WaS soll ich davon denken?" sagte Harold zu sich selbst. „Wäre es möglich, daß ich so unverhofft zu meinem Rechte komme? Oder ist das Ganze nur eine Mystifikation?"
Unschlüssig drehte er das Papier in der Hand hin und her.
„Ich habe nicht viel Zeit, mich zu besinnen." Er blickte nach der Uhr auf dem Kaminsims. „Schon sieben Uhr", murmelte er, „um acht Uhr geht der Kourier- zug von hier ab, der nach dem Kontinent fährt. So sei es denn, ich will dem Geschick vertrauen und alle bösen Ahnungen aus meinem Herzen verbannen. Ich resse sofort nach Wien."
Harold schloß ein Kästchen auf und entnahm demselben einen Teil seiner Ersparnisse, und nachdem er in einem kleinen Handkoffer das Nötigste eingepackt, klingelte er und befahl der eintretenden Mary, ihm rasch eine Tasse Kaffee zu bereiten, er müsse in einer Stunde am Bahnhof sein, da er auf fünf bis sechs Tage verreise, zugleich gab er ihr den Auftrag, ihn bei Mr. Baylis zu entschuldigen.
Mary sah chn «staunt und neugierig an, da aber Harold, wie eS schien,
nicht Lust hatte, dem Mädchen weitere Aufschlüsse über das Ziel seiner Reise zu geben, so verließ sie das Zimmer, um den Kaffee zu besorgen.
Eine Stunde später saß Harold im Eisenbahnwagen und fuhr einem in nebelhafter Ferne auftauchenden Glücke entgegen.
16. Kapitel.
Die Milford'schen Eisenhämmer hatten des anderen Tages Ruhe, denn die Arbeiter standen in Gruppen beisammen und besprachen, das entsetzliche Ereignis der vergangenen Nacht. Ein Haufe Menschen hatte sich vor dem Wohnhaus» angesammelt und starrte empor zu den Fenstern des'Kassenzimmers. Der Schauplatz einer Mordthat übt stets eine besondere Anziehungskraft auf die Menschen aus. Mittags ein Uhr kamen die Koroner und ein Arzt aus Westringdam, um die Lerche in Augenschein zu nehmen. Der erster« berief sogleich eine Jury ans einigen Pächtern und Arbeitern zusammen und beeidigte sie in einem Saale des Woynhauscs. Hierauf begab sich die Kommission in das Kaffenzimmer, woselbst der Tote noch unverändert in derselben Stellung lag. Dcr Arzt, welcher sein Gutachten abzugeben hatte, war kein anderer als Doktor Merriefield, der persönliche Freund Harolds und der Hausarzt des Squire Mostyn. Doktor Merriefield erklärte, daß der Tote außer dem tätlichen Schnitt in die Gurgel noch einen wuchtigen Schlag auf den Kopf erhalten haben müsse. Der gute Doktor gab sein Gutachten zögernd, mit sichtlichem Widerstreben ab, denn das Messer, welches man in der Blutlache fand, trug auf seinem Heft den Namen: Harold Charlton. Doktor Merriefield hatte niemals eine so schwere Pflicht erfüllt, denn er war dem jungen Manne von Herzen zugethan.
Auch Edward Baylis war zugegen. Der Advokat stand da, bleich wie der Tod, er sah aus wie das verkörperte böse Gewissen. Unwillkürlich schloß er die Augen; er vermochte es nicht, den Gemordeten anzusehen. Ein Haufe Neugieriger hatte sich der Kommission in das Kaffenzimmer nachgedrängt, darunter John Hinkley. Der Bursche zeigte seine gewöhnliche freche Miene, seine Augen blickten mit einer Art hämischen Triumphes auf Edward Baylis.
Die Haushälterin, vom Koroner befragt, konnte nichts weiter angeben, als daß sie des Nachts geglaubt habe, ein leises Geräusch unter ihrem Zimmer zu hören, daß sie sich aber durch den Gedanken beruhigt habe, es sei Mr. Mtlford selbst, denn er sitze manchmal bis spät in die Nacht über seinen Büchern und Rechnungen. Lottie und Bill konnten auch nicht weiter angeben, als daß die elftere sagte, sie sei bald gestorben vor Schrecken, als Sie Mrs. Grapson bewußtlos neben ihrem ihm Blut schwimmenden Herrn gefunden habe, und daß Bill erzählte, er habe, als er des Morgens zur Pferdefütterung gekommen sei, Pull, den Hofhund, tot vor seiner Hütte liegen sehen. Bill fügte noch bei, daß nach seiner Meinung dem Tiere etwas angethan worden sei, denn Tags vorher wäre cs noch gesund und munter gewesen.
„Nichts für ungut, meine Herren," ertönte in diesem Augenblick die Stimme eines Arbeiters aus der Ecke des Zimmers. „Ich möchte etwas sagen, ist's erlaubt?"
„Gewiß, redet nur." antwortete der Koroner.
„Der Mensch ist nicht beeidigt, bedenken Sie doch," warf der Advokat ein.
„Das läßt sich nachholen," antwortete der Koroner. „Bei der ersten Gerichtsverhandlung wird er seine Aussage eidlich bestätigen müssen. Wie heißt Ihr?" wandte er sich an den Arbeiter.
„George Miller."
„Gut denn, George Miller, erzählt, was Ihr verdächtiges bemerkt habt, aber sagt die Wahrheit, bedenkt, daß Ihr bei der ersten Gerichtsverhandlung Eure Aussage beschwören müßt."
„Das werde ich auch," antwortete der Arbeiter ruhig. „Ich ging gestern Abend, als es schon ganz dunkel war, noch hier vorbei, da sah ich eine Gestalt am Güter des Hofes hinter dem Wohnhaus« stehen. Pull bellte ein paar Mal laut auf, plötzlich wurde es still und ich sah, wie die dunkle Gestalt den Arm hob, wie wenn sie etwas hincinwerfen wollte, in den Hof."
„Ich hörte ebenfalls das Gebell des Hundes," sagte Mrs. Grapson, „ging auch auf Befehl meines Herrn, der es ebenfalls vernommen, hinaus in den Hof, sah aber weit und breit nichts und da Pull wieder ganz still geworden, beruhigten wir uns, mein Herr und ich, wir dachten, es sei ein Arbeiter vorüber gegangen."
„Hat Euch die Gestalt am Hofgitter nicht vielleicht an jemand erinnert? Denkt nach, Georg Miller," mahnte der Koroner.
John Hinkley und Edward Baylis lauschten in Todesangst der Antwort des Mannes. Des elfteren Miene hatte nun doch etwas von ihrer Frechheit verloren.
„Nein, Herr," sagte Miller nach einigem Besinnen etwas unsicher. „Es war schon zu finster."
„Ich begreife nicht, Mr. Jlmer," unterbrach der Advokat den Beamten, „wie sie auf diese unbedeutende Sache so viel Gewicht legen können, während doch der Name auf dem blutigen Messer meinen ersten Clerk haarscharf als Thäter bezeichnet. Braucht es da noch andere Beweise?"
„Mr. Charlton scheint allerdings der Schuldige," antwortete der Koroner, „aber der Schein trügt oft. Ich kann mich nicht so leicht entschließen, an ein so abscheuliches Verbrechen zu glauben bei einem bisher in allgemeiner Achtung stehenden Manne und gerade Sie, Mr. Baylis, sollten ihn am besten kennen und auch in Schutz nehmen. Hier kann möglicherweise ein unglücklicher Zustand obwalten, doch die Untersuchung ist nicht meine Sache, ich habe nur den Thatbestand aufzunehmen."
„Liegt der Hund noch außen im Hof?" wandte sich der Koroner wieder an Bill.
«Ja, Herr," antwortete Bill, „ich habe ihn liegen lassen wollen, bis das Gericht da war."
„Daran hast Du klug gethan, mein Junge. Lassen Sie uns hinaus in den Hof gehen, meine Herren." Alles folgte dem Koroner.
(Fortsetzung folgt.)