Beilage zum „Calivcr Wochenblatt"
Rro. 113.
^ . Nachdruck verbaten.
Dolorosa.
Roman von A. Wilson. Deutsch von A. Geisel.
(Fortsetzung.)
Roscoe biß sich auf die Lippen, schwieg aber und führte Regina zu dem für sie bestimmten Sitz — an der andern Seite desselben hatte Herr Chesley seinen Platz erhalten — während Olga Regina gegenüber saß.
»Fräulein Orme," begann Roscoe nach einer Weile in leisem Ton, und mit bebender Stimme, »darf ich Ihnen eine Frage vorlegen und Sie um offene Beantwortung derselben bitten?"
»Fragen Sie immerhin," nickte Regina; „meine Antwort wird jedenfalls offen ausfallen, vorausgesetzt, daß die Frage derart ist, daß ich dieselbe beantworten kann.
„War es Ihr eigener freier Entschluß, Fräulein Orme, mir die Antwort, die ich von Ihnen erbeten hatte, rundweg abzuschlagen?"
»Ja, Herr Rokcoe."
»So hat mein Vetter in dieser Hinsicht keinen Druck auf Sie ausgeübt?"
»Nicht im Geringsten."
»Und doch, er ist so selbstsüchtig und anmaßend, daß —"
»Herr Roscoe," unterbrach Regina den Aufgeregten ernst, »es würde sich nicht ziemen, wollte ich Ihren Anschuldigungen gegen meinen Vormund Gehör geben — brechen wir das Gespräch ab."
»Regina — ich will mich beherrschen, aber ich muß Sie heute noch ungestört, sprechen."
»Ich wüßte nicht weswegen, Herr RoScoe."
.Um mir eine ausreichende Erklärung über Mitteilungen, die mir gemacht worden sind, zu erbitten."
»Ich habe keinerlei Erklärungen abzugeben, Herr RoScoe; hinsichtlich eines Gespräch», welches Herr Palma gestern in Ihrem Interesse mit mir hatte, lassen Sie mich ein für alle Mal aussprechen, daß ich bei meiner Entschließung beharre und Ihnen dankbar sein werde, wenn Sie dasselbe nicht wieder berühren. Herr RoScoe — bisher waren wir immer gute Freunde — warum sollten wir es nicht bleibe» können? — Und nun lassen Sie uns von etwas Anderem sprechen — kennen Sie Frau Carew?"
^Schon seit einigen Jahren, Fräulein Orme."
»Und finden Sie sie nicht bezaubernd?"
»Ja — sie ist schön, aber sie wäre noch schöner, wenn sie sich ihrer Vorzüge nicht allzu genau bewußt wäre."
Fräulein St. Clara, welche an Rokcoe's anderer Seite saß, zog ihn jetzt ins Gespräch und Regina benutzte diesen Umstand, um Herrn Palma und seine Tischnachbarin zu beobachten. Das junge Mädchen hatte seinen Vormund noch nie so strahlend heiter gesehen, er sprühte vor Lebhaftigkeit und unterhielt ein wahres Kreuzfeuer geistvoller Bemerkungen mit seiner Nachbarin, die ihm keine Antwort schuldig blieb. — Herr Chesley sprach jetzt von den landschaftlichen Schönheiten Oregons und Kaliforniens und wußte so fesselnd zu erzählen, daß sämtliche Gäste seinen Worten mit lebhaftem Interesse folgten. Als er geendet hatte, sagte Frau Carew lebhaft:
»Herr Chesley — Ihre Schilderung ist mir um so interessanter, als ich kürzlich in Philadelphia ein Gemälde gesehen habe, welches den landschaftlichen Schönheiten, die Sie so fesselnd beschrieben haben, in hohem Maße gerecht würde."
»Das freut mich besonders zu hören," versetzte Herr Chesley lächelnd, »ich habe nämlich den Künstler, welcher die Landschaften gemalt hat, auf einer Reise kennen gelernt und interessiere mich lebhaft für ihn. Er hielt sich später einige Zeit in San Francisko auf und eS war sogar Aussicht vorhanden, daß er sich dauernd dort niederlaffen würde, weil die Tochter eines reichen Kaufmanns in San Franziska sich mit ihm verlobt hatte. Leider war die Schöne sehr flatterhafter Natur; ein junger Marineoffizier, den sein Stern nach San Franziska führte, hob den Maler aus dem Sattel und so blieb dem armen Eggleston nichts anderes übrig, als das Feld zu räumen. Mr haben ihn übrigens Alle recht sehr bedauert und
„Gestatten Sie mir die Bemerkung, daß dies Bedauern schlecht angebracht war," unterbrach Frau Carew den alten Herrn lachend; »der junge Maler hat sich sehr rasch getröstet. Während meines Aufenthaltes in Philadelphia bewarb er sich in auffälliger Weise um eine junge Dame und seit einigen Wochen ist er der glückliche Bräutigam derselben."
Von dem Augenblick an, in welchem der Name des Malers genannt worden, hatte Regina wie auf Kohlen gesessen; jetzt wagte, sie es, verstohlen nach Olga zu blicken, aber das lächelnde Gesicht der jungen Dame ließ nicht erraten, wie nahe die Unterhaltung sie anging.
Herr Palma hatte bisher mit Frau Carew geplaudert und anscheinend die Unterhaltung über Herrn Eggleston überhört; jetzt lenkte er mit vielem Geschick die Konversation auf ein anderes Gebiet und Regina zweifelt« nicht daran, daß er dies in Olga's Interesse that.
Regina selbst wurde zugleich von Herrn Chesley ins Gespräch gezogen und je länger sie mit ihm sprach, desto fester war sie davon überzeugt, wenn nicht Herrn Chesley selbst, so doch jedenfalls eine Persönlichkeit, an welche er sie beständig- erinnerte, gesehen zu haben. Im Laufe der Unterhaltung fragte sie, ob er seine Familie in San Franzisko zurückgelassen habe und es that ihr lgjd als er weh- mittig sagte:
»Ach liebeS Fräulein — ich stehe ganz allein in der Welt. Als ich noch jung und kräftig war, habe ich's versäumt, mir den eigenen Herd zu gründen und jetzt, da ich alt bin, mag mich Niemand mehr."
„Aber Sie könnten doch immer noch heiraten, Herr Chesley," meinte Regina eifrig.
Er lachte herzlich und sagte dann:
„Sie wollen mich trösten, liebes Fräulein," aber das Alter läßt sich leider nicht ablegen wie ein Gewand und eine junge Dame würde sich wohl bedenken, mich alten Knaben zu heiraten."
„Nun — ein sehr junges Mädchen meinte ich auch nicht," lächelte Regina, „aber es giebt genug liebenswürdige hübsche Damen mittleren Alters, welche für sie passen' würden."
»Hm — eine Dame wie Frau Carew etwa?" fragte Herr Chesley leise und mit lustigem Augenzwinkern.
Regina schüttelte den Kopf und der alte Herr fuhr fort:
»Sehen Sie, Fräulein Orme — jeder Mensch hat seinen rosigen Jugendtraum und auch ich hatte meinen. Das Schicksal indeß brachte diesen Traum zu einem schleunigen Ende und so verbrannte ich meine Schiffe hinter mir und ging nach Kalifornien. Anfänglich fand ich dort Zeit, den Mangel eines eigenen behaglichen Heim» zu beklagen, aber je älter ich wurde, desto verlassener fühlte ich mich und ich habe in der letzten Zeit schon mehrfach den Gedanken in Erwägung gezogen, eine Waise an Kindesstatt anzunehmen."
»Dann will ich Ihnen wünschen, daß Sie eine recht glückliche Wahl treffen," sagte Regina warm.
In diesem Augenblick brachte der Diener ein Telegramm für Herrn Chesley; dieser bat um Verzeihung, öffnete das blaue Kouvert und sagte dann ruhig:
»Nur eine geschäftliche Angelegenheit, die mich noch heute Nacht nach Washington zurückruft — ich muß mit dem Mitternachtszug fahren."
Auf einen Wink ihres Stiefsohns hob Frau Palma die Tafel rascher auf, als es sonst geschehen wäre und bald darauf verabschiedete sich Herr Chesley von der Gesellschaft. Als er Regina die Hand bot, sagte er warm:
»Mein liebes Fräulein — ich hoffe, wir werden noch recht gute Freunde werden und wenn ich von Washington hierher zurückkehre, sollen Sie mir helfen, eine Adoptivtochter zu finden. Leben Sie inzwischen wohl und Gott segne Sie."
Regina fühlte sich seltsam bewegt; sie blickte ihm nach, als er sich in Begleitung Herrn Palma's entfernte und betraf sich allen Ernstes auf der Vermutung,
ob Herr Chesley nicht vielleicht ihr Vater sei!-
XXIH. Kapitel.
Der Besuch der schönen Kreolin und ihres allerliebsten sechsjährigen Töchter- chenS im Palma'schen Hause umfaßte die Tage von Dienstag bis zum Sonnabend und während dieser Zeit war das Haus nicht leer von Gästen.
Am Freitag Abend fand die Musikaufführung statt; der Professor, welcher dieselbe leitete, hatte verschiedene Chöre und Soli aus Lortzing's „Undine" zufammen- gestellt und Regina war die Partie der lieblichen Nixe zugefallen. Frau Palma hatte Sorge getragen, Regina's Kostüm aufs Reichste Herstellen zu lassen und als Undine in ihren perlendurchwirkten, silberglänzenden Gewändern auftrat und ihre erste Arie vortrug, erhob sich stürmischer Beifall. Sie sah auch gar zu lieb
lich aus; in dem lang herabwallenden, mit Prrlenschnüren geschmückten Haar hing wie verloren eine Wasserlilie, der silbergestickts Schleier war über der schönen Stirn mit einem Korallenzweig befestigt und in den veilchendunklen Augen schimmerte es feucht wie verhaltene Thränen. — Anfänglich befangen, fand Regina bald ihr Gleichgewicht wieder und als sie geendet hatte, ward sie von einem wahren Blumenregen überschüttet.
Herr Palma stand im äußersten Winkel des Salons und als Regina sich dankend verneigte, bevor sie das Podium verließ, flog es leise wie ein Hauch über die fest geschlossenen Lippen veS ManneS:
»Lilly — meine Lilly!"
Nach Beendigung der Aufführung begleitete Frau Palma das junge Mädchen in die Garderobe, um sie für die Heimfahrt warm einzuhüllen; bevor sie Regina indes den Pelzmantel um die Schultern legte, schloß sie das überraschte Mäd chen in die Arme und küßte es herzlich.
„Wir dürfen stolz auf Sie sein, liebes Kind," sagte die Dame warm und Regina wußte, daß es ihr ernst war mit diesen Worten. Auch ließ es sich Frau Palma, die später mit Olga und Frau Carew noch einen Ball besuchen mußte, nicht nehmen, Regina selbst im Wagen nach Hause zu bringen und erst, nachdem sie dafür Sorge getragen hatte, daß das junge Mädchen die für sie bereit gehaltene Abendmahlzeit verzehrte — Regina hatte vor der Ausführung nichts essen mögen — kehrte sie wieder zu ihren beiden anderen Pflegebefohlenen nach Frau Broughton's Hause zurück.
Regina war zu aufgeregt, um daran zu denken, sich schon zu Bette zu begeben. es war überdies kaum 1V Uhr vorüber. So eilte sie denn in dis Bibliothek und ordnete die reichen Blumenspenden, die ihr zu Teil geworden, symetrisch auf dem Marmorgesims des Kamins, über welchem das Bild ihrer Mutter hing. Ein prachtvolles Bouquet weißer Lilien, welches ihr die kleine Lora gebracht, bevor sie zum Koncrrt fuhr, hatte Regina in die antike Vase gestellt, welche, stets mit frischen Blumen gefüllt, unter dem Bild stand und ihre anderen Trophäen in Gestalt von Kränzen, Bouquets und losen Blumen bildeten eine höchst wirkungsvolle Staffage des Porträts.
»Mutter," stammelte das junge Mädchen, innig zu dem Bilde aufblickend, »sie haben Dein Bild gelobt und ihm Beifall zugejubelt, aber Deine süße Stimme fehlte — o Mutter — wie lange soll unsere Trennung noch währen?"
In Gedanken verloren, blieb Regina vor dem Bilde stehen; was die Leute, die sie vorhin bewundert hatten, wohl sagen würden, wenn sie erführen, daß sie die Tochter jenes entsetzlichen Vagabunden war?
(Fortsetzung folgt.)