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Unterboihingen, 10. Jan. Als gestern morgen der Bahnzug hier ankam, stieg nach der K. Z. trotz der Warnung des Zugmeisters ein Arbeiter, von Nürtingen gebürtig, als der Zug noch im Gang war, aus; am Wagentritt blieb er jedoch hängen und wurde unter den Zug geworfen. Entsetzen be­mächtigte sich aller anwesenden Passagiere, und man­cher glaubte, er sei von den Rädern zermalmt worden. Doch als der Zug hielt und der Mann vorgezogen wurde, hatte er außer einigen Hautschürfungen auch nicht den geringsten Schaden genommen. Ihm wird das zu baldige Aussteigen zeitlebens eine Warnung sein.

Urach, 8. Jan. Die riesigen Kalkfelsen, welche die Gipfel und Abhänge unserer Berge krönen, sind mehr als andere Gesteinsarten der Verwitterung ausgesetzt. Da und dort lösen sich infolge dessen einzelne Stücke los und rollen mit großer Geschwindig­keit abwärts. So verunglückte kürzlich der 18jährige Adam Merz von Sirchingen im Stadtwald, indem er unter einen losgelösten, etwa 4 Zentner schweren Felsblock, dem er nicht mehr ausweichen konnte, zu liegen kam, wodurch ihm der linke Fuß am Schien­bein abgedrückt wurde.

Oberndorf a. N-, 10. Jan. Gestern abend feierte der hiesige 115 Mitglieder zählende evangelische Arbeiterverein in Verbindung mit einem Familien­abend in dem dichtgefüllten großen Schützensaale sein 3. Stiftungsfest. Von auswärtigen Gästen wohnten an eine starke Deputation des evang. Arbeitervereins Schramberg mit dessen Vorstand, Stadtpfarrer Traub, und Redakteur Schrempf von Stuttgart. Die beiden genannten Herren erfreuten die Versammlung mit längeren Ansprachen, die großen Beifall fanden. Im übrigen bot das Programm des Abends mit drama­tischen, deklamatorischen und musikalischen Aufführungen und lebenden Bildern in buntem Wechsel reiche Genüsse. Der rührige und verdienstvolle Vorstand des Vereins, Schullehrer Vollmer, empfing bei diesem Anlaß als Zeichen des Dankes und der Anerkennung einen wertvollen Regulator. Wie wichtig solche Vereine sind, wenn der rechte Geist und reges Leben in ihnen herrscht, mag die vor einiger Zeit von einem aus­wärtigen Sozialdemokraten gethane Aeußerung be­weisen, in Oberndorf müßte vor allem der evangel. Arbeiterverein gesprengt werden.

Rottweil. Bauer Melchior Raible von Göttelsingen, Oberamts Horb, hatte sich vor dem Schwurgericht wegen eines Verbrechens des Tod­schlags zu verantworten. R. ist Pächter der Rexinger Gemeindejagd und war am 23. Nov. von dem K. Forstwächter Schädler auf fremdem Jagdgebiet be­troffen worden, hierüber erbost, feuerte Raible sein Gewehr nach dem auf einem Stein hinter einem Baum sitzenden Schädler ab, welcher sich den Sach­verhalt in sein Notizbuch eintrug. Schädler war ein Schrot hinter vem Ohr in den Kopf gedrungen, an j welcher Wunde er andern Tags verstarb. Unter ! Zulassung mildernder Umstände erhielt Raible 4 Jahre ! Gefängnis.

Blaubeuren, 10. Jan, In Bezug auf die von dem Kassier der Gewerbebank Schwarz ver­übten Unterschlagungen erfährt das U. T., daß die Vorstände derselben mit einer bedeutenden Summe einstehen wollen, so daß es, trotzdem dies von mancher Seite bezweifelt wird, möglich würde, den Gläubigern 70 Prozent ihrer Einlage zurückzubezahlen. Daß dies von Seiten der genannten sehr große Opfer fordert, wird jedermann einsehen und anerkennen. Die Einlagen von Kindern und Arbeitern, die 5000 ^ betragen, sollen, wie man hört, von Herrn Kommer­zienrat Lang allein gedeckt werden, so daß diese also gar nichts verlieren würden. Zuerst verspekulierte Schwarz sein eigenes Vermögen und dann erst machte er sich an die ihm anvertrauten Gelder, ohne Zweifel in der Absicht, den Verlust später mit dem gehofften Gewinn zu decken. Er war schon einmal auf dem Wege zum Vorstand, um diesem seine ganze Ver­mögenslage einzugestehen; leider führte er sein Vor- haven nicht aus, sondern kehrte auf halbem Wege wieder um und spekulierte weiter. Am meisten ge­schädigt sind die Aktionäre, die zunächst die nicht voll einbezahlten Aktien aufzuzahlen haben; sodann haupt­sächlich Angehörige des Gewerbestandes, die Beträge bis zu 10,000 auf der Bank hatten. Außerdem hatte Schwarz viele Privatgelder in Verwahrung, und endlich die Sparkasse der Bank, in welche be­sonders Aermere vom Land ihre sauer erworbenen Ersparnisse in kleineren Beträgen einlegten, die aber bei einzelnen zu verhältnismäßig ansehnlichen Summen anwuchsen. Zuletzt hat Schwarz in russischen Wert­papieren spekuliert, und soll er für 75,000 Rubel dieser Papiere in Berlin angekauft haben.

Blaubeuren, II. Jan. Ueber das Ver­mögen der Aktiengesellschaft, Bank für Gewerbe und Handel hier, ist heute Vorm. 9 Uhr das Konkurs­verfahren eröffnet und Ger.-Notar Böhm zum Konkursverwalter ernannt worden. Auch über den Kassier der Bank, Kaufmann August Schwarz, ist heute der Konkurs verhängt worden.

Berlin, 8. Jan. Eine etwas fremdartige Neujahrs-Ueberraschung, schreibt man derN. Zür. Z." aus Berlin, die ein wenig von dem Hauch eines früh- eren Jahrhunderts an sich hatte, hat der Kaiser den Berlinern bereitet. Nachdem in der Frühe von der Zinne des Schlosses herab das Neujahr mit einem Trompeterkonzert eingeblasen war, zog aus dem Schloß­hof feierlichen Schrittes eine Rotte Militärmusik her­aus, hielt langsam einen Umzug über den Lustgarten und die Straße unter den Linden entlang bis zum Brandenburger Thor und blies während dieses Um­gangs allerhand erbauliche Stücke und altertümliche Märsche. Das Ganze geschah morgens um 8 Uhr, da die Bewohner der Häuser Unter den Linden ge­rade dabei waren, ihre Sylvester-Räuschlein auszu­schlafen. Es ist eine persönliche Erfindung des Kai­sers und wurde von ihmdas große Wecken" getauft. Vermutlich hat solches militärisch-musikalische Schau­spiel vor hundert Jahren oder sonst wann unter

welchen sie unbemerkt leicht herausgenommen werden können. Im Laufe der letzten Monate kamen insbe­sondere anläßlich der Jahr- und Wochenmarkte eine Anzahl von Geldbeutel abhanden und neuerdings wurde festgestellt, daß ein 13jähriges Mädchen auf dem hies. Wochenmarkt den Geldbeutel einer Frau aus deren Rocktasche heraus entwendet hat. Bei diesem Anlaß wird auch davor gewarnt, bettelnden Kindern den Zutritt in die Häuser zu gestatten und Gaben zu verabreichen. Diese Kinder werden dadurch elendig­lich verdorben, die Gaben zu Schleckereien und dergl. mißbraucht, auch wird denselben Anlaß zu Entwen­dungen gegeben. Für wirklich Bedürftige sorgt die Ortsarmenbehörde und wäre es zu wünschen, daß die Einwohner sich nicht von falschem Mitleid leiten lassen, das die verderblichsten Folgen hat.

Stuttgart. Ein schönes Weihnachtsgeschenk erhielten die zahlreichen Arbeiter und Arbeiterinnen der Firma Wilh. Benger Söhne, mech. Trikot­warenfabrik hier, indem letztere vom 1. Jan. d. I. ab die für die Jnvaliditäts- und Altersversicherung zu entrichtenden Beiträge ganz auf ihre Kosten über­nommen hat. Die Beschenkten ließen durch eine Ab­ordnung ihre Freude und Dankbarkeit ausdrücken.

Stuttgart, 9. Jan. Heute beging Eisen­bahnportier Sehr auf dem Bahnhof sein 25jähriges Dienstjubiläum. Sehr trat 1851 mit 17 Jahren in den Militärdienst, wo er zu schwach befunden und nach 10 Monaten wieder entlassen wurde. 185358 war er dann in französischen Kriegsdiensten vor Sebastopol und gegen die Kabylen. Nachdem er von drei Verwundungen genesen, wurde er noch reich dekoriert als Sergeant entlassen. 185867 diente er in Württemberg und wurde als Feldwebel verabschiedet, kam als Portier in den ueuen Stuttgarter Bahnhof, wo er beim reisenden Publikum durch seine Dienst­fertigkeit sich große Beliebtheit erworben hat.

Stuttgart, 10. Jan. Lehrer Cristaller aus Kamerun, der seit einiger Zeit wieder zur Erholung in Württemberg iveilt, wird in den nächsten Tagen seine Vermählung mit der Tochter des verstorbenen Dekans Böckheler in Künzelsau feiern. Wie man hört, wird schon Ende dieses Monats das Neuver­mählte Paar Württemberg verlassen, um Anfangs Februar das Schiff zu besteigen, das sie in die neue, ferne Heimat führt.

Feuerbach, 9. Jan. Am Erscheinungsfest machte sich ein hies. Fabrikarbeiter mit dem Revolver seines Kollegen zu schaffen. Unversehens ging die scharfgeladene Waffe los, und die Kugel verletzte den Unvorsichtigen oberhalb des Nasenbeins so sehr, daß der Verlust eines Auges zu befürchten war. Nachdem die Kugel unter großen Schmerzen des Verletzten durch Dr. Maier hier aufgefunden, entfernt und der nötige Verband angelegt war, wurde der Verunglückte nach Stuttgart verbracht.

Fellbach, 10. Jan. Bei der gestern ge­haltenen Treibjagd auf ver Markung nördlich vom Ort wurden 95 Hasen zur Strecke gebracht.

Kapitän Hcrbold gleich bei seinem Ev tritt mit einigen feierlichen Worten von dem Verlöbnis seiner Tochter Mitteilung machte, stand er erst so sprachlos und versteinert da wie einer, der den Boden unter seinen Füßen wanken fühlt, und der vom namen­losen Schrecken jeder Fähigkeit einer Bewegung beraubt wird.

Aus seinem ohnedies schon so kummervollen, blassen Gesicht schien auch der letzte Blutstropfen gewichen, seine weit geöffneten Augen hatten einen starren Aus­druck und um seine Mundwinkel zuckte und arbeitete es gar veriäterisch. Erst ganz allmählich kehrte das Leben in seinen schmächtigen Körper zurück. Er reichte dem Kapitän die Hand, und seine bebenden Lippen sprachen etwas, das niemand verstand. Dann aber raffte er sich energisch zusammen, und vor Elsbeth hintretend sagte er mit ganz fester und klarer Stimme:

Ich wünsche Ihnen Glück, Fräulein Elsbeth, und der Himmel möge das reichste Füllhorn des Segens ausgießen über Ihr Haupt!"

Weder Kapitän Herbold noch Kurt Petersen wußten sich das befremdliche Be­nehmen des kleinen Schreibers zu deuten; Elsbeth allein verstand es vermöge jenes feinen Instinktes, der den Frauen solchen verborgen lodernden Leidenschaften gegen­über eigen zu sein pflegt, und die Teilnahme, welche sie von jeher für den unglück­lichen Krüppel empfunden, steigerte sich zu einem tief innigen Mitgefühl. Die herrische Kraft, mit welcher er soeben sein eigenes Herz bezwungen, hatte etwas Ergreifendes und zugleich zur Bewunderung Herausforderndes für sie, so daß sie Mühe hatte, ihre Rührung zu verbergen. Sie selbst war eS, welche ihm ihre Hand zum Danke darbot, und als ihre weichen, warmen Finger die seinigen berührten, fühlte sie, daß dieselben eiskalt waren gleich denen eines Toten.

Gegen Kurt machte Jasmund nur eine kleine stumme Verbeugung; dann nahm er fernen gewöhnlichen Platz an Kapitän Herbolds Seite ein, und als die Gläser auf das Wohl de« jungen Brautpaares zusammen klangen, da that auch er so wacker Bescheid, wie's ihm der Kapitän bei seiner sonstigen Zimperlichkeit gar

nicht zugetraut hätte. Er wurde zuletzt sogar ganz heiter und gesprächig, und man

hätte glauben können daß es die Wirkung des ungewohnten Weines sei, welche da aus ihm rede, wenn nicht auf dem Grunde seiner Augen jedesmal, so oft er den Blick auf Kurt Petersen richtete, wieder dieses seltsame Funkeln und Flimmern ge­wesen wäre, das auf alles andere eher deuten konnte, als auf ein Vergessen seines Herzeleids.

Trotz all' ihrer jungen Glückseligkett konnte sich Elsbeth nicht enthalten, öfter zu ihm hinüber zu sehen, und seine künstliche Fröhlichkeit vermochte sie nicht zu täuschen. Sie hörte aus jedem seiner lustigen Worte das tiefe Weh seiner Seele herausklingen, und über diesen Beobachtungen wurde es ihr endlich selber ganz traurig und beklommen um- Herz. Auch über die Stirn des jungen Offiziers schien sich mehr und mehr ein trüber Schatten zu breiten. Er wurde immer schweigsamer, und so endete der Abend in viel stillerer und gedrückterer Stimmung, als es Kapitän Herdold sich hätte träumen lassen.

Lange hielt Kurt die Geliebte in seinen Armen, als es endlich ans Abschied­nehmen ging, und mehr als einmal wiederhotte er:

Auf Wiedersehen, mein teures Herz, auf ein glückliches, hoffnungsvolles Wiedersehen!"

Auch Elsbeth schien sich nicht von ihm loSreißen zu können, und erst ein kräftiges Scherzwort Kapüän Herbolds konnte der langen und bewegten Trennungi- scene ein Ende machen.

Es war, als ob Ihnen mitten in ihren ersten seligen Träumen eine dunkle, unbestimmte Vorahnung <ül des namenlosen Jammers gekommen wäre, der bereits gleich einer finsteren, unhellschweren Wolke über ihren Häuptern schwebte.

Fortsetzung folgt.