Beilage zum „Calwer Wochenblatt"
Nro. 132.
Aeuillelsn. Nachdruck v-rb°t-a.
Der Schiffbruch der „Felicitas".
Erzählung von Ferdinand Herrmann.
(Fortsetzung.)
Diese Wendung des Gesprächs schien dem ehrenwerten Herrn Lisser ebenso unerwartet als unangenehm. Er räusperte sich ein paar Mal in merklicher Verlegenheit, und da sie dem stattlichen Herrenhause bereits ziemlich nahe gekommen waren, flüsterte er seinem Begleiter, ihm vertraulich die Hand auf den Arm legend, jetzt mit einem bedeutsamen Augenzwinkern zu:
„Sagen wir tausend Thaler — und Sie können auf mich rechnen wie auf einen leiblichen Bruder!"
Indem er seinen Arm durch eine kleine geschickte Bewegung frei machte, erwiderte Röhrsdorf in seinem vorigen kühlen Ton:
„Ich habe Ihnen mein Gebot gemacht, — Sie können es annehmen oder ablehnen, ganz wie es Ihnen beliebt."
Der Wagen bog in einen wohlgehaltenen Parkweg ein, und noch ehe der Agent über die Antwort, die er zu geben hatte, mit sich selber ganz ins Reine gekommen war, standen die Pferde vor dem Portal des Hauses. Ein alter Mann, der wohl die Verrichtungen eines Dieners versah, kam ihnen von drinnen entgegen, und eine Fortsetzung der vorigen Unterhaltung war dadurch unmöglich geworden,
„Ist Herr Heldrungen zu sprechen?" fragte Lisser, der hier dem Anschein nach gut bekannt war. „Wir kommen etwas früher, als ich es vorausgesehen hatte."
„Der Herr ist auf das Vorwerk hinaus geritten und wollte erst um 12 Uhr zurück sein. Soll ich nach ihm schicken?"
„Darüber kann bei der Langsamkeit Eurer Bauernjungen eine Ewigkeit vergehen. Wenn Sie einstweilen in das Haus eintreten wollen, Herr Röhrsdorf, so will ich selber mich nach Heldrungen umsehen."
Der Angeredete nickte zustimmend und folgte der Führung des Dieners, während Lisser's kleine, runde Gestalt eilfertig von dannen trottete. Die innere Einrichtung des Herrenhauses war noch behaglicher und reicher, als es das schmucke Aeußere des Gebäudes vermuten ließ. Auf den Absätzen des Treppenhauses standen künstlerisch wertvolle Marmorfiguren, und das Gemach, dessen Thür der Alte mit einer stummen Verbeugung öffnete, war von sehr anheimelnder Vornehmheit der Ausstattung. Ohne ein Anzeichen besonderer Neugierde betrachtete der Besucher, sobald ihn der Diener allein gelassen hatte, die Gemälde, welche in großer Zahl die Wände bedeckten. In der gelassenen Art, wie er über den weichen Teppich auf und niederschritt, offenbarte sich die ruhige Sicherheit eines Mannes, der vollkommen überzeugt ist, nicht ein unberufener Eindringling, sondern der Herr der Verhältnisse zu sein. Auch als er vernahm, daß hinter seinem Rücken die Thür des Zimmers geöffnet wurde, wandte er nur sehr langsam das Haupt. Aber er war doch ein wenig überrascht, als er statt deS erwarteten Gutsherrn die schlanke Gestalt einer schönen jungen Dame auf der Schwelle stehen sah.
„Herr Röhrsdorf — wenn ich nicht irre? Ich hörte von meinem Papa, daß er Sie an diesem Vormittag erwarte."
Die jugendliche Stimme klang sehr weich und angenehm, und der Besucher machte die Wahrnehmung, daß Fräulein Heldrungen auffallend leuchtende Augen und ein Blondhaar von eigentümlichem Goldglanz habe.
„Zu dienen, mein Fräulein — Hugo Röhrsdors! Ich bitte um Entschuldigung, daß ich zu früh gekommen bin! Nur ein Irrtum des Herrn Lisser trägt die Schuld daran."
„Mein Papa wird sehr bedauern, daß Sie warten mußten. Vielleicht nehmen Sie bis zu seiner Rückkehr mit meiner Gesellschaft vorlieb."
Es hätte sehr nahe gelegen, ihr mit einer Schmeichelei zu antworten, aber Röhrsdorf beschränkte sich auf eine stumme Verbeugung. Als die junge Dame auf einem Sessel Platz genommen hatte, ließ auch er sich nieder. Es war fast die Hälfte des Zimmers zwischen ihnen.
„Diese Gemälde hier an den Wänden sind ohne Zweifel sehr kostbar?" sagte der Bankier.
„Die Vorliebe für schöne und auserlesene Kunstwerke ist Papas Steckenpferd. Seine Bildersammlung erfreut sich in den Kreisen der Kenner eines besonderen Rufes. Wenn cs Sie interessiert, auch die übrigen in Augenschein zu nehmen —"
Röhrsdorf unterbrach sie durch eine höflich ablehnende Handbewegung.
„Sie würden Ihre Liebenswürdigkeit verschwenden, mein Fräulein! Ich verstehe so wenig von diesen Dingen, daß ich Dürer's berühmteste Meisterwerke äußerst langweilig und Böcklin's gefeierte Gemälde geradezu wahnwitzig finde. Wer weiß, ob ich bei solcher Unwissenheit den Schätzen Ihres Herrn Vaters die gebührende Bewunderung zollen könnte."
Seine Art schien dem jungen Mädchen keineswegs zu mißfallen.
„Sie sind sehr aufrichtig", sagte sie mit einem kleinen Lächeln, „diese Eigenschaft ist heutzutage jedenfalls seltener, als die Begeisterung für die Kunst, von der Jedermann erfüllt zu sein scheint."
„Und doch denke ich keineswegs gering von dem Wert der Kunst, ja, ich beneide ganz aufrichtig Jeden, der in ihr eine Quelle des Genusses findet. Mir hat leider eine harte Jugend die Empfänglichkeit dafür geraubt. Keine sorgsame und liebevolle Erziehung hat meine Sinne verfeinert, sondern die rauhe Hand des Lebens, welche meine Erziehung übernehmen mußte, ist ziemlich unsanft über alle etwa vorhandenen zarten Keime hinweg gefahren."
Gerade weil er immer in dem gelassenen Ton und ohne alle schauspielerische Lebhaftigkeit sprach, erregte er die Teilnahme seiner Zuhörerin in höherem Maße, als eS sonst bei einer ersten Begegnung der Fall zu sein pflegt.
„Haben Sie Ihre Angehörigen denn schon so früh verloren?" fragte sie, ihre schönen, glänzenden Augen aufmerksam auf sein gleichmütiges Antlitz richtend.
„Ich verlor sie nicht durch den Tod, wie Sie vielleicht vermuten, sondern der harte, verzweiflungsvolle Kampf, den wir Alle gegen das Elend und die grausame Not zu führen hatten, war cs, der mich ihrer beraubte. Mein Vater verdiente als Fabrikausseher wegen seiner Kränklichkeit nicht mehr den sonst üblichen Lohn, und meine Mutter konnte uns nicht allzuviel Sorgfalt und Aufmerksamkeitzuwenden, da die Arbeit ihrer Hände uns sechs Geschwister ernähren und kleiden mußte. Wenn cs unter solchen Umständen schon mit dieser Ernährung und Kleidung nicht immer zum Besten bestellt war, so ließ unsere geistige Ausbildung vollends zu wünschen übrig. Mit elf Jahren kam ich als Arbeitsjunge in eine Baumwollenspinnerei, und von jenem Tage an war ich in allen Stücken ganz und gar auf mich selber angewiesen."
Unwillkürlich ließ die Tochter des Rittergutsbesitzers ihren Blick über den gewählten Anzug des Besuchers, über sein schön frisiertes Haar und die wohlgepflegten, mit mehreren blitzenden Brillantringen geschmückten Hände gleiten.
„In Ihrem späteren Leben aber hat das Glück dann reichlich wieder gut gemacht, was es in Ihrer Jugend versäumte?" sagte sie, einem sehr natürlichen Gedankengange folgend.
Hugo Röhrsdors aber zuckte ironisch lächelnd mit den Achseln.
„DaS Glück?" wiederholte er. „Ja, wenn ich nur wüßte, was man darunter verstehen soll! Eine Erbschaft oder einen Lotteriegewinn habe ich jedenfalls nicht gemacht; auch habe ich mich bisher nicht bemüht, mein Vermögen durch die Mitgift einer reichen Frau zu vergrößern. Aber ich habe rastlos gearbeitet vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht und häufig genug bis abermals an die Dämmerung hin. Ich habe mir während der sogenannten besten Jahre meines Lebens Alles versagt, was Anderen lockend und begehrenswert erscheint, und habe nicht für die Dauer einer einzigen Stunde mein Ziel aus den Augen verloren — das Ziel: die Knechtschaft der Armut von mir abzuschütteln und aus eigener Kraft zu einem freien, unabhängigen Manne zu werden! Der Zufall hat mir nicht oft in die Hände gearbeitet, sondern ich habe vielmehr fast unausgesetzt mit widrigen Schicksalen kämpfen müssen. Der Sieg ist ja schließlich auf meiner Seite geblieben; aber es wäre am Ende eine falsche Bescheidenheit, wenn ich das vornehmste Verdienst daran dem „Glück" zuschreiben wollte.'
Fräulein Heldrungen verstand sich schlecht darauf, ihre Gedanken zu verbergen. Ihre Teilnahme und Bewunderung für die Persönlichkeit eines Mannes, der so ganz und gar verschieden war von all' ihren anderen Bekannten, stand so deutlich auf dem feinen, lieblichen Gesicht geschrieben, daß auch ein minder scha'rfes Auge, als es dasjenige Hugo Röhrsdorf's war, diese Schritt sicherlich recht gut hätte lesen können.
In Wohlleben und scheinbarem Ueberfluß aufgewachsen, hatte Felicitas Heldrungen von der Bedeutung und dem Werte ernster Arbeit eigentlich niemals eine rechte Vorstellung gehabt. Unter den heiteren und lebenslustigen Besuchern, die in ihres Vaters gastfreundlichem Hause aus- und eingingen, war davon kaum je die Rede gewesen. Sie Alle, mochten sie nun wohlhabende Landwirte aus der Umgebung oder Offiziere und Künstler aus der nahen Großstadt sein, schienen ihren Lebensberuf nur wie ein sehr angenehmes Auskunftsmittel zu gelegentlichem Zeitvertreib anzusehen, und sie waren unzweifelhaft viel eher geneigt, ihre Kräfte im übermäßigen Genuß gesellschaftlicher Vergnügungen als in angestrengter Thätigkeit aufzureiben. Auch bei ihrem Vater, zu dessen ritterlicher Gestalt sie immer voll innigster Kindesliebe aufgesehen, hatte Felicitas nie die Bethätigung eines energischen Schaffenstriebes wahrgenommen. Bernhard Heldrungen konnte wohl Stunden lang mit unermüdeter Liebe zur Sache über seinen Büchern und Bildern sitzen, aber er ging nur mit Seufzen an die Erledigung derjenigen geschäftlichen Angelegenheiten, die ihm nicht gleich den meisten übrigen von einem seiner Beamten abgenommen werden konnten. Und Felicitas hatte ihn jedesmal von Herzen bedauert, wenn er ihr geklagt, wie lästig und unangenehm ihm die Beschäftigung mit diesen trockenen und poesilosen Dingen sei. Sie wußte es ja nicht anders, als daß eine derartige kleinliche Thätigkeit den unbedeutenden und armen Leuten zustände, während es das schöne Vorrecht der höheren Stände sei, frei und ungehindert den eigenen Neigungen zu leben, um dann bei vorkommender Gelegenheit alle Kräfte auf die Vollbringung irgend einer großen, wirklich bedeutenden und ruhmreichen That zu verwenden.
In der jüngsten Zeit aber war sie durch das, was um sie her vorging, ein wenig irre geworden, an der Richtigkeit dieser anerzogenen Anschauung. Heldrungens Vermögensverfall hatte innerhalb weniger Monate so rasche und bedrohliche Fortschritte gemacht, daß auch Felicitas auf die Vorboten der nahenden Katastrophe notwendig hätte aufmerksam werden müssen. Die früheren Freunde zogen sich mehr und mehr zurück; die jungen Offiziere, von denen die einzige Tochter des Rittergutsbesitzers fast wie von einer Schar von Schmetterlingen umschwärmt worden war, blieben plötzlich wie auf Verabredung aus, und die finstern Wolken auf Heldrungens Stirn ließen sich selbst durch die zärtlichen Schmeicheleien seines geliebten Kindes nicht mehr verscheuchen. In einer Stunde völliger Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit machte er ihr dann in Ermangelung eines anderen Vertrauten — seine Gattin war seit einer Reihe von Jahren nicht mehr am Leben — zur Erleichterung seines eigenen Herzens ein rückhaltsloses Bekenntnis seiner verzweifelten Lage, und bei dieser Gelegenheit erfuhr die Siebzehnjährige die erste herbe Enttäuschung ihres jungen Lebens. Ihr stolzer, ritterlicher Vater, der ihr jederzeit als der verkörperte Inbegriff edler Männlichkeit erschienen war, saß mit einem Male hilflos, schwach und gebrochen vor ihr, wie wenn er von ihr — der kaum dem Kindesalter Entwachsenen — Trost und Beistand erwarte. Jetzt wäre ja nach Felicitas' Meinung gerade der rechte Augenblick für ihn gewesen, durch irgend eine entschlossene und bedeutende That das drohende Unheil zu verscheuchen, und sie war im tiefsten Herzen erstaunt, daß ihm offenbar gar nichts derartiges in den Sinn kam.
(Fortsetzung folgt.)