Beilage zum „Calwer Wochenblatt"
Nro. 12S.
. Nachdruck verboten.
Nur unter einer Bedingung.
Von Hans Wachenhusen.
(Fortsetzung.)
»Nur, um ihm zu zeigen, daß ich nicht so ein Wauwau bin, wie Du mich verschreist!"
Mit heimlicher Unruhe sah Nadine den jungen Mann zurückkehren. Sie zeigte ihm eine freundliche, aber apathische Miene, als er zögernd herantrat, war einsilbig und horchte nur zerstreut der Unterhaltung der beiden Männer, wie gern sie sich an derselben beteiligt haben würde. Sie vermied sogar, Ottomar's Blick zu begegnen, und schien belästigt, wenn er seine Worte mit doch so warmer Stimme an sie richtete, als bitte er sie um ihre Teilnahme. Zuweilen zuckte es um ihre Mundwinkel, dann wieder machte sie eine nervöse Bewegung als wolle sie sich losreißen von einem Etwas in ihr, und dieses Etwas mußte ein magnetisches sein, das sie anzog und abstieß. Endlich aber senkte sie wie traumbefangen die Stirn, als ergebe sie sich diesem Einfluß, der stärker als sie, denn der General hatte sich in eine angelegentliche Unterhaltung mit Ottomar verwickelt, die ihr Muße gab sich selbst zu gehören.
„Ein prächtiger Kerl!" rief der Alte, als Ottomar sich von Beiden vor deren Wohnung getrennt und er sein Schlafzimmer betrat. „Hatte ihm Unrecht gethan!"
Nadine erreichte das ihrige bleich, mit fieberhaft flackernden Augen. Es war zu viel gewesen, diese lange Ueberwindung. Sie hatte den Gatten verehrt, ihm die Hand gereicht, um sich peinlichen Familienverhältnissen zu entziehen, und da hatte sie jetzt eine Stunde lang dem gegenüber gesessen, dem sie einst entsagen gemußt! Und dieser alte Mann, der ihn gestern so unfreundlich zurückgewiesen, er hatte ihm heute so gern gelauscht, ohne zu ahnen, daß jedes Wort dieses wohltönenden, einschmeichelnden Organs ihr schmerzliche Erinnerungen in die Seele rief!
Zum ersten Mal vergaß sie, bei ihrer Rückkehr in das Zimmer zu eilen, in welchem das Kind mit der Wärterin schlief; inmitten des Zimmers starrte sie in den rosigen Schein der auf dem Tisch brennenden Lampe, blickte, die Hände auf die Brust pressend, zur Decke, verhüllte das Antlitz und endlich, die Arme wie zur Abwehr von sich stoßend, die Augen geschloffen, wandte sie sich zum Lager. Und da saß sie wohl eine Stunde; die gefalteten Hände zwischen den Knieen, das Haupt gesenkt, verloren in ein trübes Gedenken an ein Damals, bis ein Frösteln sie überkam und sie weckte. Gefaßt erhob sie sich.
„Fort! Morgen schon!" flüsterte sie, und der Entschluß gab ihr die Ruhe zurück. Auf den Fußspitzen schlich sie an das Lager des Kindes, beugte sich über das vom Schlummer hoch erwärmte Antlitz desselben, leise die Engelsstirn mit den Lippen berührend.
Als im Morgengrauen das erste Dämmerlicht die Stores der Fenster erhellte und draußen in den hohen Laubkronen der Allee der Ruf des Pirol und der Gesang der Grasmücke erschallte, lag sie bereits mit offenen Augen, zur Decke starrend. Sie erhob sich ungestüm unter dem Sporn des in der Nacht gefaßten Entschlusses und trat vor den Spiegel. Aber wie gefaßt sie sich selber wähnte, ihre Züge waren doch so müde von Schlummerlosigkeit und auf ihren Wangen zeugten zwei Röschen von dem kaum überstandenen Fieber eines gequälten Herzens.
Als der General kam, um das erste Frühstück mit ihr einzunehmen, sah er sich zwischen geöffneten und schon halb gefüllten Koffern. Die Luft sage ihr hier nicht zu, antwortete sie der Frage seines Erstaunens. Sie folge der Einladung einer Freundin in den Schwarzwald.
„Na, dann Hab' ich hier auch nichts mehr zu suchen!" brummte der Alte. „Ich kann also wie bisher jedes Jahr nach Ems hinübergehen, um meinem teuren allen Kaiser dort die Hand zu küssen; dann hol' ich Dich ab und wir reisen zusammen nach Hause!" ....
* *
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Herbst ward's bereits, als Nadine in die hübsche kleine Villa des Westend zurückgekehrt, in die ihr verstorbener Gatte sie nach ihrer Vermählung geführt. Aber unzufriedener, als sie dieselbe im Frühsommer verlassen, trieb sie die Unruhe von einem Zimmer in das andere; ihr war's nicht mehr heimisch in diesen Räumen, in denen sie sonst so sinnig gewaltet. Es lüt sie selbst nicht mehr in ihrem traulichen Schmollzimmer, in dem sie sonst so gern gesessen und, während das Kind zu ihren Füßen auf dem weichen Teppich spielte, mit so erinnerungsreichem, aber ruhigem Herzen zu dem Bilde des Gatten aufgeschaut. Selbst der Anblick des Bildes daneben, ihres eigenen, verursachte ihr Herzklopfen und Beklemmung.
Auch der General kam nur noch, um sich nach dem Knaben zu erkundigen. Es war eine gewisse Entfremdung Mischen ihnen Beiden. In Badenweiler nämlich, wohin er ihr gefolgt, hatte er sich, immer in der Absicht, das Andenken seines ihm unvergeßlichen Sohnes in ihr wach zu erhalten, in Gegenwart ihrer Freundin von verletzender Intoleranz gezeigt, als ihr auch dort in derem Gesellschaftskreise so manche Huldigungen gebracht worden.
„Halte das Wort, das Du dem Sterbenden gegeben!" hatte er ihr wieder einmal gesagt. „Es ist heilig! Nur unter einer Bedingung — Du weißt es — wirst Tu daran denken können, ein anderes Band zu schließen, und die wird niemals sein! Die Natur selbst hat den Instinkt in jedes Kind gelegt, daß es nach keinem anderen Vater verlangt, als nach dem, welchem eS das Leben verdankt! Ich begreife Alles, was in Dir vorgehen mag, denn Du bist jung und schön, aber vergiß das Unmögliche!"
Nicht die Worte waren es gewesen, die sie verletzt: der Ton, die unerträgliche Bevormundung, und seit sie sich Beide nicht mehr verstanden, hatte er sich auch noch gewöhnt, hier unangemeldet bei ihr einzutreten und nach dem Knaben zu fragen.
Auch das beleidigte das Gefühl der Dame von Welt, noch mehr das Weib in ihr, weil sie sich bekennen mußte, er habe Recht, sie liebe ja schon, sie vermisse täglich, stündlich Denjenigen, dem sie ihre Schwelle hatte versagen müssen, weil er ihr hier so nahe, ihr auf den Promenaden, im Kreise ihrer Gesellschaft zu begegnen s ichte und ihrem Herzen immer neue Qualen der Entsagung bereitete.
Dieser alte Mann wußte ja, daß sie ihr Kind über Alles liebte, nur für dieses lebte; aber er sah in ihr immer das begehrte verführerische Weib; er zitterte vor dem Tage, wo es trotz Allem Einem von Denen, die sie umschwärmten, gelingen werde, ihr Gewissen zu betäuben, und er konnte sie doch nicht zwingen, sich von aller Welt und ihren Genüssen abzuschließen!
Die einzige Lieblingsstätte, an der Nadine in ihrer Häuslichkeit freier atmete, war die zum Garten hinausführende Orangerie, die sie mit Sorgfalt pflegte und in die sie sich zurückzog, wenn der Herbstwind zuweilen schon so rauh über die letzten Rosen, über die Astern und Georginen dahinfuhr. Hier empfing sie ihre Freundinnen hier hatte sie heute den Kleinen auf den zierlichen Divan gelegt, als er im Garten in ihrem Schooß eingeschlummert.
Nadine war allein im Hause, denn es war Sonntag und Magd und Wärterin hatten Urlaub für den Nachmittag begehrt; die Köchin saß in dem Souterrain und las in einem Erbauungsbuch.
Das Gefühl der Vereinsamung, das sie oft überkam, wenn es so still um sie her, beschlich sie auch heute, wie sie, den Schlummer des Knaben überwachend, in einfacher Haustoilette, auf einem niederen Feldstuhl unter einer ihre Fächer weithin streckenden Zwergpalme saß. Die Handarbeit war in ihren Schooß gesunken, sie hatte nach einem Buch gegriffen, aber sie las nicht darin. Sie war zerstreut; ihr war's gerade heute so unruhig im Herzen, denn gestern, als sie mit dem Kinde eine befreundete Familie besuchte, war sie wiederum, wie schon oft, Ottomar begegnet. Es war ihm gelungen, im Garten derselben unbeobachtet zu ihr zu sprechen; er hatte sie noch einmal vergeblich beschworen, ihn nicht ferner von sich zu verbannen, und trotz ihrer Unerbittlichkeit hatte er so lieb mit dem Knaben gespielt, ihn, wie er immer that, wenn er ihn erwischen konnte, in den Arm genommen, geherzt und geküßt, und beim Abschied war er so traurig gewesen, als sie ihm wieder so kalt die Hand gereicht.
Heute in ihrer Einsamkeit sah sie seine klagenden Augen; aber es durste ja nicht sein! Er war thöricht, denn er wußte, daß sie ihm unerreichbar. Warum ward er nicht Herr seiner Leidenschaft wie sie! . . . Wie sie? . . . Ein Seufzer hob die schwer bedrückte Brust; sie fand erst Trost, als sie auf den schlummernden Knaben schaute, der von der Mutter Erdenweh keine Ahnung hatte.
Und so unheimlich still war's um sie! . . . Warum empfand sie das gerade heute; war's denn nicht immer so? Sie und das Kind waren sich genug gewesen; freilich bis . . . Sie schloß die Augen, legte beschwichtigend die Hand auf das Herz; dann blickte sie trauervoll einer vom Garten hereinschwirrenden Libelle nach, die von der heutigen Sommerwärme wieder erweckt sein mochte.
„Armes Herz!" hauchte sie, den Arm nach dem herabgefallenen Buch auS- streckend, und da plötzlich erschreckte sie das Geräusch harter, auf dem Kies des Gartens knirschender Schritte . . .
Niemand im Hause, der einen Besuch empfangen konnte! Sie richtete sich auf, blickte auf den Gang zwischen den Blattpflanzen, fuhr aber zusammen, denn mit um Verzeihung bittendem Blick stand bereits eine ihr wohlbekannte jugendliche Männergestalt da, vor deren Augen sie heute erblaßte — Ottomar, in schwarzem Gesell- schastsanzug, den Cylinder in der Hand, auch bleich in ängstlicher Erwartung, welcher Empfang seiner Kühnheit werde.
„Herr von Lehnin!" Nadine hatte sich entrüstet erhoben, aber sie war doch gefaßt. „Ist dies die Achtung, die Sie meinen Worten, meiner Person schulden?"
Ihre Stimme klang gekünstelt hart, und er, er senke zwar die Augen, aber er wagte dennoch einen Schritt vor.
„Gnädigste Frau, zürnen Sie mir! Es giebt keine Strafe, die schlimmer für mich sein könnte, als die Verbannung von Ihnen! Die Sehnsucht trieb mich hierher mit einer Gewalt, der ich zu widerstehen nicht vermochte! Ich weiß ja, es liegt ein Verhängnis über meiner Liebe, dasselbe, das mich schon damals zwang, zu entsagen ; aber ich bin entschlossen, zu zertreten, was sich auch zwischen uns aufgetürmt haben mag! . . . Nadine ....!"
Er wagte noch einen Schritt zu ihr, er streckte den Arm aus, die ganze Glut seiner Leidenschaft lohte aus seinen Augen, und seiner Selbstbeherrschung nicht mehr fähig, warf er sich auf die Kniee und suchte die ihrigen zu umklammern. Sie aber trat mit festem, strafendem Blick zurück.
„Herr von Lehnin," sprach sie mit rauher Stimme, „ich habe Ihnen nicht« mehr zu verzeihen, denn von heute ab sind Sie mir ein Fremder, der meine Schwelle Übertritt mit Wünschen, die ich ablehnen muß, und spreche ich noch einmal zu dem Freunde, so geschieht es, um ihn zum letzten Mal zu erinnern an das, was ihm kein Geheimnis! Um dieses Kindes willen," sie hatte ihm das Antlitz wieder zugewendet und deutete auf den Divan — „gelobte ich, den Wünschen meines Herzens zu entsagen; niemals soll es mich des Wortbruchs zeihen dürfen und gegen einen solchen soll es selbst heute mein Schutzgeist sein!"
„Nadine!" Er sprang auf. Sie aber streckte beide Arme vor, und totesbleich in ihrer Angst vor sich selber stürtzte sie zum Divan, warf sich vor demselben nieder und legte den Arm auf den schlummernden Knaben.
Ottomar stand einen Augenblick erschüttert; zaudernd sah er sie da knieen, schaute auf das vom Schlaf gerötete Cherub-Antlitz, das er so oft geliebkost als einen Teil von ihr, von ihrem Leben, ihrem Herzen — und jetzt sah er auch, wie das Kind, geweckt durch ihr Ungestüm, umherblickte und lächelnd die großen, unschuldsvollen Augen zu ihm, seinem Freunde, aufschlug.
(Schluß folgt.)