Beilage zum „Callver Wochenblatt"
Rro. 58.
dtachdnick verboten
Die Spionin.
Roman aus dem russischen Nihilistenleben.
Nach den Aufzeichnungen eines Petersburger Polizeibeamten.
Von Willibald Mencke.
(Fortsetzung.)
Kann es bessere Kameraden geben als wir zwei, die daS Schicksal fast zu gleicher Zeit in denselben Ozean der fremden großen Stadt geworfen und auf demselben Jnselchen zusammengeführt hat?
Ob ich überhaupt fähig bin, einen Mann wahrhaft zu lieben? Ich zweifle fast daran. Ich muß daran denken, was ich schon als sechszehnjähriges Mädchen für ein seltsames Geschöpf gewesen bin. Wie fad und abgeschmackt kamen wir damals die kleinen Liebelein der jungen Damen vor, welche ich in Charkow kennen lernte! Die Eine sah in einem jungen Lieutenant einen Halbgott, den ich gelegentlich als einen entsetzlichen Dummkopf kennen lernte; und jenes Unglück, in das meine beste Freundin durch einen gewissenlosen Menschen gestürzt wurde, steht noch jetzt lebhaft vor meiner Erinnerung. Ich war keine Männerfeindin, denn ich unterhielt mich gerne mit geistreichen Männern und ich zürnte dem Schicksale, daß es mich dem Geschlechts zugeteilt hatte, daS Diejenigen, welche uns schmeicheln, das schöne, und Diejenigen, die uns zu kennen glauben, das schwache nennen. Aber warum, sagte ich mir, muß denn jedes junge Mädchen, sobald seine Zeit gekommen ist, jenem allgemeinen und alltäglichen Geschicke verfallen, daß es sich einen Gegenstand aus dem anderen Geschlechts wählt, zu dem seine Wünsche es hinziehen, mit dem seine Phantasie sich beschäftigt, in dem es das Ideal seiner Vorstellungen vor allem Großen und Schönen erblickt? Liegt hier wirklich ein Naturgesetz vor, das sich nicht umgehen läßt? So jung ich damals war, wie viel unglückliche Ehen hatte ich schon kennen gelernt und wie oft war ich Zeuge davon gewesen, daß das Feuer einer schönen Leidenschaft so schnell zu Asche verglüht war. „Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang* — wie viel Ausnahmen giebt es von dieser Erfahrungsmaxime der Ehe? Und gilt sie nicht von der Liebe überhaupt? Wiegen die paar Augenblicke des Glückes alle die Qualen der Sehnsucht, die Folter der Eifersucht, diese Beunruhigung des aus seinem Frieden aufgestörten Lebens auf, der dann in der Regel eine so grausame Enttäuschung folgt? Und der Mensch sollte nicht Kraft und Energie des Willens genug besitzen, um sich dem Zwange dieses Naturgesetzes zu entziehen?"
Dmitri.
DaS junge Mädchen lächelte, als es bei dem Scheine der Lampe, die auf dem Schreibtische stand, in ihrem Tagebuch blätternd, so weit gelesen hatte. Sie stützte wie sinnend das Köpfchen in die Hand, die noch die Feder gefaßt hielt, mit der sie ihre Aufzeichnungen fortsetzen wollte. Alles, was sie damals geschrieben, erschien ihr jetzt wie eine Thorheit, die sie belächelte. In dieses junge Herz war die Liebe eingezogen, mit all der elementaren Gewalt, die das ganze Denken und und Fühlen des WeibeS beherrscht, und was sie für ein grausames Gesetz gehalten hatte, gegen das sich ihr Intellekt und ihre Willenskraft auflehnte, erschien ihr jetzt als ein süßes Geschenk der Natur, als eine gütige Fügung des Geschickes, die ihrem Leben Licht und Wärme gespendet hatte.
Und immer freundlicher, immer seliger wurde ihr Lächeln, je mehr sie an den dachte, der in ihrem Innern eine so große Veränderung hervorgerufen hatte. Wo weilte er jetzt? Er war ferne von ihr, und doch war es ihr, als empfinde sie das Glück seiner Gegenwart, so deutlich stand er vor ihren Augen.
Und jetzt ....
Ein Geräusch auf dem Korridor. Sie horchte auf. Ja, das ist sein Schritt. Eine lebhafte Röte steigt in ihrem Gesichte auf. Jetzt klopft es leise an die Thüre. Ja, er ist's.
Sie verschließt ihr Tagebuch in einem Gefache des Schreibtisches und eilt an die Thüre, um zu öffnen. „Dmitri!* ruft sie aus, indem sie an seine Brust sinkt und seinen Kuß mit hingebender Zärtlichkeit erwiedert.
„Dmitri" — so nannte sie Denjenigen, in dem wir den Fürsten Alexander G. wiedererkennen — „bist Du's wirklich? Und da will man nicht mehr an Wunder glauben*
„Ist es ein Wunder, daß ich zu Dir komme, meine liebe Vera?' fragte er lächelnd, indem er Paletot und Mütze auf einen Stuhl legte und sich neben sie auf das Sopha setzte. „Hör' mich nur an. Wie ich soeben an meinem Schreibtische sitze, um noch ein paar Zeilen niederzuschreiben und mir kein Gedanke in den Kopf und kein Buchstabe in die Feder will, und wie ich so recht lebhaft an Dich denke — ach! wann denke ich nicht an Dich!*
Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und er küßte ihr Stirne und Augen.
„Da fällt mir auf einmal ein Märchen aus meiner Kindheit ein, von einem armen Hirtenmädchen, dem eine gütige Fee die Gabe verleiht. Alles, woran sie lebhaft denkt, auch in ihre Nähe zu zaubern. O, dachte ich, wenn ich diese Gabe besähe, wie schnell sollte er bei mir sein. Und nun stelle ich mir recht lebhaft Deine Wohnung vor und ich sehe Dich die Treppe Herabkommen, — warst Du heute Abend zu Hause?*
„Ja, mein Kind.*
„Siehst Du, wie das stimmt. Und nun sehe ich Dich an der Anitschkowbrücke und den Newski Herabkommen und in die Morschaja einbiegen, mit raschen Schritten, HauS für Haus vorübereilend —*
„Das stimmt schon weniger.* ,
„Du bist einen anderen Weg gekommen?*
„Nein, aber ich bin gefahren."
„Gleichviel. Ist es nicht wunderbar genug, daß ich, kaum daß Du meiner
Berechnung nach in das Haus getreten bist. Deinen Schritt auf der Treppe höre? Die Liebe ist auch eine Religion und auch diese Religion hat ihre Wunder."
„Und ihren Aberglauben."
„Nenn's wie Du willst. Die Hauptsache ist, daß ich Dich habe."
„Und es stört uns Niemand? Ich fürchtete schon, Paul Petrowitsch bei Dir zu treffen."
„Jetzt, um diese Zeit? Was fällt Dir ein! Er kommt überhaupt nur noch selten zu mir, seit er in Wassili-Ostrow wohnt."
„Desto besser."
„Ich weiß, daß Du ihn nicht liebst. Du bist doch nicht eifersüchtig?" fragte sie lächelnd.
„Nein. Aber der Mensch gefällt mir nicht und ich mag es nicht sehen, wenn Ihr so vertraut zu einander seid."
„Er war mein guter Kamerad, als ich noch allein in der fremden Stadt umherging. Wir wohnten in demselben Hause, wir lebten in denselben Verhältnissen. Alles das hat uns näher zusammengebracht. In der letzten Zeit sind wir fremder geworden. Uebrigens hätte er heute auch nicht kommen können. Sie haben ja jetzt Sitzung, das Preßkomitee, weißt Du. Du bist nicht mehr Mitglied des Komitee's ?"
„Doch. Aber ich habe mich entschuldigen lassen. Ich konnte heute Abend nicht kommen."
„Und was hielt Dich ab, mein Freund?*
„Ein Geschäft. Ich bin diese Tage sehr in Anspruch genommen. Es ist sogar möglich, daß ich morgen eine kleine Reise antrete."
„Wahrhaftig? Doch nicht für lange?"
„Nein. Ich weiß ja noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt reisen werde. Ich sagte nur, daß es möglich ist. Darum kam ich zu Dir, um Dich vorher noch zu sehen."
„Das war lieb von Dir. Es ist doch nicht in unserer Sache, daß Du reisest?"
„Nein, mein Kind."
„Wahrhaftig nicht? Was mich auf einmal für eine Unruhe erfaßt! Schwöre mir, daß Du keinen Auftrag hast?"
„Aber Vera, wenn ich Dir sage —"
„Ach, Dmitri, wenn ich Dir mein Herz ausschütten könnte! Und wem soll ich denn sagen, was meine Seele bedrückt, wenn nicht Dir?"
„Was hast Du, mein Täubchen?"
„Ich bin nicht mehr dieselbe, die ich war. Du hast meine Seele der heiligen Sache entfremdet, für die ich früher so begeistert war. Alles erscheint mir auf einmal in anderem Lichte. Die Menschen, die unsere Ersten sind und zu denen ich früher mit Verehrung emporsah, sie kommen mir jetzt oft so kleinlich und gewöhnlich vor. Ich prüfe die Motive, von denen ihr Denken und Handeln bestimmt wird, und ich finde wenig oder nichts von jener reinen und uneigennützigen Aufopferung, die ich ihnen früher zuschrieb. Und dabei dieses Geheimnis, an das sich der Bund auch seinen Mitgliedern gegenüber hält und das auf Mißtrauen gegen sich selbst zu deuten scheint. Weiß ich denn, ob Du wnklich der Dmitri Massiljitsch Jelagin bist, den ich so liebe?*
„Was für Skrupel Dich da wieder quälen" — bemerkte er, indem er nach einer Cigarrette griff.
„Was für ein trauriges Geschäft, das wir treiben" — fuhr sie fort. „Wir schleichen im Finstern umher wie das Verbrechen, und wir zittern nicht nur vor der Entdeckung, wir zittern auch vor uns selbst. Ja, Dmitri. ich war früher ein so mutiges und starkes Mädchen, aber jetzt sehe ich überall Gefahren, nicht für mich Dmitri, aber für Dich, mein Theurer, für Dich."
„Kind, das Du bist. Was für Einbildungen!"
„Weil ich Dich liebe, Dmitri. Die Liebe hat mich so ängstlich und mutlos gemacht. Ich möchte mit Dir entfliehen, weit, weit weg von hier, in einen stillen Winkel, wo wir uns verstecken und glücklich zusammen sein könnten."
„Sind wir es nicht auch hier?"
„Ja, aber ein Glück, ohne die süße Ruhe, die uns mehr gewährt als die Seligkeit eines Augenblicks, den wir einem Leben fortwährender Beunruhigung abstehlen. Ach, wenn wir bei meiner guten Tante Anna Feodorowna wohnen könnten! Sie würde uns lieben, wie ihre Kinder, und was für ein Leben würden wir dort führen. Sie hat nur ein kleines Gut im Gouvernement Charkow, das kaum fünfzehnhundert Rubel einträgt; aber wäre es nicht genug, um uns alle Drei zu ernähren ? Die Winterabende sollten uns nicht lang werden und wir würden nur die Tage genießen, wenn der Frühling kommt, und er kommt dort früher, als in dem traurigen Norden. Wir würden im Wald und Feld umherstreiscn, unter den Apfelbäumen sitzen oder uns im Boote am Flusse treiben lassen. Ach was für ein Leben, Dmitri! Welche Seligkeit! Welches Glück!*
„Vielleicht, wenn wir hier Schiffbruch leiden, gelingt es uns, auf eine so glückliche Insel zu flüchten."
„Muß ich denn diesen Schiffbruch nicht herbeiwünschen?*
„Aber Vera! Ich kenne Dich nicht mehr. Wo ist das Mädchen geblieben, das für alles Große so begeistert und eine so enthusiastische Anhängerin unseres Bundes war?"
„Ich sagte Dir ja, wie sehr ich mich verändert habe. Früher, da machte es mir Vergnügen, Schopenhauer oder Hartmann zu lesen oder mich in die naturge- sckichtlichen und philosophischen Werke zu vertiefen, die Zwetajeff mir lieh. Und jetzt, jetzt les' ich Romane und ich interessiere mich so lebhaft für das Schicksal der Liebenden, daß ich, ganz wie Tante Anna Feodorowna, wenn ich kaum in der Mitte bin, schon am Ende nachsehe, ob sie das Glück finden, das sie erwarten. Ja, ja, Dmitri, Diejenige, die jetzt neben Dir sitzt, ist die Vera Timanoff nicht mehr, die Du kennen lerntest, diese Vera ist Dir doch noch ebenso lieb, wie es Dir jene war?"
(Fortsetzung folgt).