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Mrusprecher 29.
S1. Jahrgang.
«nilr-Lezirll
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Beilagen.
Plauderstübcheu
und
Zllustr. Sonntagsdlatt.
187
Montag» den 13. August
1917.
Kämpfe ms alle« Mte«.
Wilsons Wandlungen.
Bon Adolf von Harnack.*
Vom echten demokrattschen Republikaner zum heuchlerisch verbrämten Imperialisten! — diesen Gang der Entwicklung hat Wilson durchgemacht, und leider so mancher Amerikaner mit ihm hat dadurch sein einstiges besseres Wissen preisgegeben, ja seine früheren Ideale verleugnet. Ich habe in den letzten Wochen Wilsons zahlreiche Werke und Reden studiert und bin mit befremdeten Staunen erfüllt worden in bezug auf seine Entwicklung. Zwar er selbst «klärt in seiner Botschaft vom 2. April: „Mein Geist ist durch die unglückseligen Ereignisse der letzten zwei Monate nicht aus seiner gewohnten und normalen Richtung abgelenkt worden"; aber dann muß diese Ablenkung schon früher geschehen sein. Nur ln einem ist dieser Geist immer unverändert und .normal" geblieben: in der Unkenntnis Deutschlands, seines Wesens und seiner Geschichte. Was er von Deutschland in seinen zahlreichen Büchern sagt, und es ist nicht wenig, ist entweder aus zweiter Hand zusammengerafft — in diesem Falle finden sich auch treffende Urteile — oder ganz oberflächlich. Ob er von der Geschichte des übrigen Europa mehr weiß, das entzieht sich meinem Urteil; ich fürchte aber, es ist auch nicht erheblich. Wilson schreibt über sehr vieles: über Politisches, Literarisches, Geschichtliches, als ästhetischer Moralist, geistreich, aber ohne wirkliche Tiefe, pragmatisch, nicht wirklich philosophisch.
Nun die Entwicklung, das heißt die Widersprüche zwischen einst und jetzt, in einigen Beispielen:
Einst bekämpfte er in seinen Vorträgen und Büchern die Plutokratie und die Trusts. „Erst der Mann, dann der Besitz", heißi es in einer seiner Schriften. Man hoffte von ihm. er werde dem größten Schaden Amerikas zu Leibe gehen, und wirklich machie er Anstalten dazu. Aber jetzt hat er sich der Geldherrschaft ausgeltefert.
Einst zog er den alten Traditionen seiner demokratischen Partei gemäß einen gewissen Strich zwischen Amerika und England. Er schrieb: „Manche der unter uns geborenen großen Männer sind nur große Engländer". Wie er jetzt zu England steht, ist bekannt.
Einst folgte er der Neutralitätsproklamation Washing-
* Aus einem demnächst bei F. A. Perthes in Gotha erscheinende» Auch »Die deutsche Freiheit".
tons vom April 1793, der jedem Bürger den Schutz der Bereinigten Staaken absprach, der kriegführenden Staaten solche Gegenstände zuführen würde, welche nach den Ge- bräuchen des modernen Krieges Konterbande seien. Demgemäß erklärte Wilson noch im Jahre 1913: „Ich betrachte es als meine Pflicht, die mir durch das Gesetz gegebene Vollmacht so auszuüden, daß keine der beiden jetzt kämpfenden Parteien — in Mexiko! — irgendwelche Unter-- stützung von dieser Seite der Grenze erhalte. Ich will der besten Praxis der Völker in der Neulralitätsfrage folgen, indem ich die Ausfuhr von Waffen und jedes Kriegsmaterials von den Bereinigten Staaten nach irgendeiner Seite von Mexiko verbiete" — Mexiko! Was er aber jetzt getan hat, das wissen wir. Und wenn er sich etwa heute mit dem formellen Rechie, Krisgslieserungen Massen zu können, verteidigen sollte, so Hai er vor einigen Jahren in einem Aussatz über den englischen Politiker Burke geschrieben, oder vielmehr die Worts von Burke, sich ange- eignsi: „Euer gesetzliches Recht — sagt Burke den Engländern. seiner eigenen Nation — ist hier gleichgültig. Es ist nicht zweckmäßig, einen großen Staat so zu behandeln, wie ihr es nach dem formellen Gesetz wollt; denn ein zahlreiches und hochgesinntes Volk wird sich nicht beugen.* Das hat Wilson vor einigen Jahren beifällig zitiert.
Einst schrieb er: „Es gibt eine Kunst, zu lügen, und es gibt auch eine Kunst, eine unendlich schwierigere Kunst, die Wahrheit zu sagen". Jetzt hat er sich diese Kunst, die Wahrheit zu sagen, so leicht gemacht, daß man wirklich nicht mehr entscheiden kann, NN welchem Punkte die Heuchelei ansängt.
Einst schrieb er: „Der Krieg von 1870 wurde km Interesse des deutschen Patriotismus gegen französische Unverschämtheit geführt." Jetzt aber sagt er von eben diesem Staate, daß seine Regierung in diesem Kriege — dem jetzigen — Amok laufe. Einst schrieb er: „Preußen ist erfolgreich bestrebt gewesen, eine größere Vollkommenheit in seiner Derwaltungsorganisation zu erreichen als irgend ein Staat Europas. Seine Städieordttung beruht auf wissenschaftlicher Grundlage." Jetzt seufzt nach ihm Deutschland unter dem Banne einer dynastischen Autokratie, die nur ihren eigenen Interessen nachläuft.
Aber vor allem: Einst lobte er Burke, eignete sich seine Worte an und schrieb: „Die revolutionäre Philosophie
der Franzosen ist in der Tat radikal, schlecht und korrumpierend. Kein Staat kann je nach diesen Grundsätzen geleitet werden; denn sie haben zur Voraussetzung, daß die Regierung eine Angelegenheit von Kontrakten und durchdachten Vereinbarungen sei, während sie in Wirklkchkeit eine Institution der Sitten und Gebräuche ist, die durch unzählige Fäden miteinander verbunden sind. Als das Ziel der Regierung wird von der französischen politischen Philosophie die Freiheit bezeichnet, während das wirkliche Ziel jeder Regierung dis Gerechtigkeit sein muß." Und weiter: „Bon einer Regel darf man unter keinen Umständen abwelchen; das ist die der historischen Kontinuität. Ein jedes Volk, eine jede Nation muß sich streng an die Richtlinien seiner eigenen Erfahrung halten. Nationen können sich ebensowenig wie Individuen Erfahrungen anderer leihen. Die Geschichte anderer Völker kann uns belehren, aber sie kann uns keine Bedingungen, keine neuen Bedingungen für unsere Betätigung schaffen. Ein jedes Volk muß in steter Fühlung mit seiner Bergangenheit bleiben; es kann seiner Bestimmung nicht sprungweise und in scharfen Kurven entgegensetzen." Dies hat Wilson einmal geschrieben, und das hat er gewußt — oder er hat es wenigstens bei einem anderen gelesen und gebilligt. Er wußte, daß ein Bolk und seine Geschichte nicht zu trennen sind. Er wußte, daß man in der Geschichte und Politik kein fremdes Reis auf einen beliebigen Wurzelstock auf- pfropfen kann. Er wußte, daß die großen Menschheitsideale von jedem Bolk in eigentümlicher Ausprägung besessen werden' Und jetzt scheut er sich nicht, eine demokratisch- pazifistische Allerweltsuniform zu empfehlen, schmäht unseren Staat und hat die Dreistigkeit, uns aus unserer Knechtschaft erlösen und uns die Freiheit bringen zu wollen!
Die Freiheit im Innern und Aeußern, die Selbständigkeit jedes Mannes nach seiner Leistung, den Frieden nicht nur im Lande, sondern auch aus Erden: wir kennen keine größeren gemeinsamen Güter! Aber — wider den Wilson von heute mii dem Wilson, wie er einmal war oder gewesen zu sein scheint: wir wollen die Freiheit aus unserer Drr- gangenheil und mit unserer Bergangenheit; denn nur so können wir sie behaupten und fördern! Dazu gehört die untrennbare Einheit mit unserem sozialen Kaiser- und Königtum, von dem uns keine Macht der Erde scheiden kann.
Dunkle PfLcle.
Roman von Reinhold Ortmann.
St (Nachdruck verboten.)
Ihre im Schoße ruhenden Hände fest ineinander Pressend, starrte Editha Rüthling unverwandt auf die vom Schein des Rampenlichts wie von einer Glorie umflossene Gestalt der Nebenbuhlerin. Es war, als wolle sie ihr Bild in sich hineinsaugen, um es nie mehr vergessen zu können. Erst als Nora Martini den schalkhaften Refrain ihres Liedchens zum letztenmal wiederholt und mit dem .Hellen, perlenden Lachen, das ihm jedesmal folgte, abermals das Entzücken des Publikums erregt hatte, glitt der s Blick des verschleierten jungen Mädchens von der Bühne stört zu der Nische neben dem Proszenium, wo Günter Holfradt noch immer unbeweglich mit über der Brust ver- skränkten Armen stand.
j Sein Gesicht war jetzt noch bleicher als vorhin; aber ! »n die Stelle des tiefen, schwermütigen Ernstes, den es dem Erscheinen der Sängerin gezeigt hatte, war ein ! «usöruck strahlender Glückseligkeit getreten. Vielleicht war E Ae Glückseligkeit des schaffenden Künstlers, der sein l^erk von einer enthusiasmierten Menge bejubelt sieht, s^ellercht aber auch der Wonnerausch des Verliebten, der M.Gegenstand seiner heißen Sehnsucht mit trunkenen
Bücken umfaßt.
Editha war es jedenfalls nur das weltvergessene »^zücken, das sich in seinem Aussehen offenbarte, Er ihre zarte Gestalt ging es wie ein eisiges Er- wäre sie von einer plötzlichen Schwäche Ax ^hnte sie sich in ihren Stuhl zurück und schloß >ur Sw Dauer von Sekunden hinter ihrem Schleier die Augen. kwi.^Eruhard Rüthling, den wohl nicht bloß die im Saale Hitze so rot und echauffiert aussehen li»ß, legte lerne Hand auf ihren Arm.
gehen, mein Kind! — Ich denke, wir hätten Er wirklich genug gehört und gesehen."
1m,„M ° ?wk .ete sie sich energisch aus ihrer matten, zu- oNNMengejunkenen Haltung empor.
„Ja. Aber ich möchte mir zunächst draußen in der Garderobe ein Glas Wasser geben lassen. Bitte, erwarte mich im Vorsaal, lieber Vater! Und ängstige dich nicht, wenn es ein Weilchen daüern sollte, bis ich komme."
Sie war schon aufgestanden, und ehe er sich noch, ihr folgend, mit seiner schwerfälligen, ungeschlachten Gestalt zwischen den Stuhlreihen hatte hindurchzwängen können, hatte sie bereits den Saal durch einen der seitlichen Ausgänge verlassen.
Mit dem sicheren Orientierungsvermögen, das so vielen weiblichen Wesen eigentümlich ist, wandte sie sich auf dem Gange, in den sie da gelangt war, einer Tür zu, die ihrer Überzeugung nach in den Bühnenraum führen mußte. Niemand hinderte sie einzutreten, und erst als sie schon ein paar Schritte in den engen Raum neben den Kulissen getan hatte, kam ihr ein genealisch frisierter junger Herr, vielleicht der Direktor oder Regisseur des Kabaretts, in verbindlichster Haltung entgegen:
„Darf ich fragen, wen gnädiges Fräulein zu sprechen wünschen?"
Edithas Herz klopfte zum Zerspringen, und sie hatte eine Empfindung, als würde ihr von einer unbarmherzigen Faust die Kehle zusammengepreßt. Aber die Entschlossenheit, unter allen Umständen ihr Ziel zu erreichen, tieß sie dennoch Herrin werden über ihre Beklemmung.
„Ich möchte zu Fräulein Martini", sagte sie. „Vielleicht haben Sie die Güte, mein Herr, mich zu ihr zu führen."
In der Meinung, eine Freundin oder enthusiastische Verehrerin der nicht bloß vom Herrenpublikum bewunderten Überbrettl-Dioa vor sich zu haben, willfahrte der schön frisierte Herr ohne weiteres ihrem Verlangen. Er führte sie durch den Kuliffengang und über eine schmale, halsbrecherische Stiege, um dann diskret an eine kleine Tür zu klopfen.
„Wer ist da?" klang es von drinnen. „Herren werden jetzt nicht eingelaffen."
„Es ist auch eine Dame, die Sie sprechen möchte, Fräulein Nora!"
„Nur einen Augenblick Geduld! Ich werde sogleich öffnen lassen."
Der gefällige Herr zog sich mit einer artigen Verbeugung gegen Editha zurück, und es war kaum eine Minute vergangen, als von drinnen der Riegel zurückgeschoben wurde. Eine ältliche Person in schwarzem Kleide und weißer Latzschürze lud Editha zum Nähertreten ein. '
Vielleicht hatte sich die Tochter des Bankiers Las Ankleidezimmer einer gefeierten Künstlerin bisher anders vorgestellt, als es sich hier ihren Blicken zeigte. Ein kleiner, enger, erstickend heißer Raum, dessen kahle, unsaubere Wände nur durch den großen Spiegel und durch eine Menge ringsum aufgehängter, unter duftigen, blütenweißen Spitzen schier verschwindender Unterkleider belebt wurden, tat sich vor dem jungen Mädchen auf. Bor einem mit unzähligen Fläschchen, Äüchschen und Näpfchen bedeckten Tische saß Nora Martini, die ihre schillernde Seidentoilette mit einem leichten, hellfarbigen Schlafrock vertauscht hatte, und in sichtlicher Neugier wandten ihre ausdrucksvollen, schwarzen Augen sich der Eintretenden zu.
Editha fand, daß sie bei naher Bettachtung und in dieser häßlichen Umgebung kaum noch hübsch zu nennen war. Die vorteilhafte Bühnenbeleuchtung mußte an ihrem geschminkten Gesicht ein wahres Wunder bewirkt haben, daß es dort wenigstens in einzelnen Augenblicken so bestrickend erschienen war. Aber die Verratene schöpfte aus dieser Wahrnehmung für sich selbst keine Hoffnungen mehr. Sie dachte an den verklärten Ausdruck in Günters Zügen, und ob nun das Mädchen, das diese Verklärung auf seinem Gesicht hervorgerufen, nach ihren Begriffen schön oder häßlich war — was konnte es ihr noch bedeuten, neben der Gewißheit, daß er sie liebte.
„Ich bitte um Verzeihung, wenn ich störe", sagte sie, all ihren Mut zusammenraffend. „Ist es unbescheiden, wenn ich Sie um eine kurze Unterredung unter vier Augen ersuche?"
(Fortsetzung folgt.) ^