Beilage zum „Calwcr Wochenblatt
Feuilleton.
Das Totenschiff.
Bericht über eine Kreuz- und Querfahrt auf jenem „Der fliegende Holländer" genannten Seegespenst; gesammelt aus den Papieren des seligen Obermatrosen Geoffroy Fenton aus Poplar
von W. Klark Flusse kt.
(Fortsetzung.)
Sie machte mir diese Proviantsäcke und ich verbarg sie in meiner Koje, zusammen mit einigen Biskuits, die dem Wrack entstammten, mehreren Stücken gekochten Pökelfleisches, einem kleinen Krug mit Mehl, einem kleinen Silberbecher zum Trinken und anderen kompakten und leicht transportablen Dingen, als da waren platte Bananenkuchen, wie sie der Schiffskoch in die Kajüte sandte, eine Flasche Marmelade von der Größe eines kleinen Kruges und des Aehnlichem mehr. Diese Sachen entwendeten wir, sie und ich, nach und nach von der Tafel und sie wurden nicht vermißt. Ich würde für eine Muskete mit Pulver und Kugeln gern einen Finger meiner Hand hingegeben haben; aber wenn überhaupt eine Waffenkiste an Bord war, so wußten wir doch nicht, wo dieselbe zu finden wäre. Sie nähte mir vier Säcke zusammen, aber ich fand bald heraus, daß drei bereits die höchste Belastung sein würden, die man ihr klugerweise aufbürden könnte. Als ich dann dazu kam, mich nach Holz zu einem sie über Wasser haltenden Rahmen umzuschauen, vermochte ich nur fünf winzige Stöcke aufzutreiben, und die Entwendung derselben war mit einem gut Teil Angst und Mühe verbunden. Ich mußte jedesmal einen Moment abpassen, wo ich mich für einen Augenblick unbeobachtet wußte, um das Stück Holz dann durch einen Stoß mit dem Fuße wie aus Zufall unter ein Ge-schütz oder in irgend einen Winkel zu schleudern, wo es liegen mochte, bis ich es unter dem Schutze der Nacht hinabtragen konnte. Alle diese Gegenstände versteckte ich unter dem Bett in meiner Koje, wo ich ihre Entdeckung kaum zu fürchten brauchte, da die Kabine meines Wissens niemals von Jemand außer mir betreten wurde.
Mittlerweile hielt die Brise — am dritten Tage — wacker aus, abgesehen von einigen Stunden flauer Atmosphäre und plattgedrückter See, worauf es mehr nach Westen umschlug und ein frischer, kräftiger Wind zu wehen begann, vor dem das Totenschiff unter vollen Segeln dahintrieb, während das klare Wasser aus der raffelnden Pumpe hervorsprudelte und durch die Speigaten abfloß.
Indem ich unsere Lage nach dem Sturm, wie sie mir Vanderdecken mitgeteilt hatte, in Betracht zog und aufmerksam den von uns seither gemachten Kurs verfolgte, hielt ich eine Art blinder Berechnung unseres Fortschrittes aufrecht — denn jetzt war ich im Stande, die Geschwindigkeit des Fahrzeuges ebenso richtig und genau mit meinem Auge zu ermessen als es das Log jemals angeben konnte — und wußte, als der fünfte Tag anbrach, daß wir gegen acht Uhr Morgens nur noch ungefähr zwölf Seemeilen von der afrikanischen Küste entfernt sein könnten, es sei denn, daß sich Vanderdecken in seinen Berechnungen arg getäuscht hätte.
Meine Auflegung war nahe daran, mich zu übermeistern. Es bedurfte einer Willensstärke, wie ich sie mir früher selbst nicht zugetraut hätte, um mein äußeres Benehmen zu jener ruhigen, gleichgültigen Haltung zu zwingen, die der Kapitän und seine Gesellen an mir zu sehen gewohnt waren. Glücklicherweise war Jmogene immer zur Hand, um irgend welche Ausbrüche meiner Ungeduld oder Besorgnis zu beschwichtigen und zu zügeln.
„Laß sie ja nicht aus Deinem Benehmen Mißtrauen schöpfen,* pflegte sie mir zuzuflüstern. „Van Vogelaar beobachtet Dich aufmerksam. Die geringste Veränderung in Deinem Verhalten würde seinen Argwohn erwecken und ihn wahrscheinlich veranlassen, Vanderdecken derartig zu beunruhigen und gegen Dich aufzureizen, daß man Dich noch hier oder am Ufer erschlüge."
Wohlan, um acht Uhr an jenem Morgen konnten wir, wie ich bereits gesagt habe, nach meiner Berechnung nicht mehr als zwölf Seemeilen von der Küste entfernt sein. Der Wind hatte zwar etwas nachgelassen, aber es blieb immer noch eine frische Brise, und da die See ruhig und die Strömung unbedeutend war, so legten wir mit Hilfe der uns vor sich her jagenden Wogen stündlich doch immerhin unsere fünf und einen halben Knoten zurück. Doch nirgends ein Anzeichen, das uns die Nähe des Landes angedeutet hätte! Wohl flogen auf der Steuerbordseite einige Kaphühner mit uns entlang, jedoch hatte diese Art Seevögel das Schiff schon begleitet. als wir, sturmverschlagen, im fernsten Süden gesegelt waren, und ihre Anwesenheit konnte kaum mehr bedeuten als, daß wir „auf der Höhe" des südafrikanischen Grenzlandes steuerten — ein Ausdruck, der einen sehr wetten Seebereich bezeichnen mochte. Der Ozean strahlte in einem ebenso tiefen, herrlichen Blau, als ich es jemals in der Mitte des atlantischen Meeres geschaut hatte. Meine Ungewißheit steigerte sich zur Qual, Besorgnis wurde zu Angst und zwar zu einer umso bitteren und heftigeren wegen des Zwanges, den ich mir auferlegen mußte. Es war offenbar kein Verlaß auf Vanderdeckens Berechnungen.
Kurz nach zwölf Uhr stand ich allein am vorderen Ende des Hüttendeckes, als mir gerade nach vorn am Horizont ein ferner, aber klarer Schatten bläulichen Nebels ausfiel. Ich beobachtete ihn eine Zeit lang in der Meinung, daß es wenig mehr als eine Verdüsterung in der Färbung des Himmels wäre, aber als ich mein Auge ein zweites Mal darauf richtete, entdeckte ich eine gewisse Festigkeit in den atmosphärischen Umrissen des Schattens, was unmöglich etwas Anderes als die schwache, zarte, nebelumhüllte Höhenlinie einer fernen, hügeligen Küste sein konnte.
Ich wandte mich freudig zu Jmogene. aber sie hatte mir den Rücken zugekehrt und stand mit Vanderdecken an der Steuerpinne, augenscheinlich beschäftigt, den Bewegungen eines Seevogels zu folgen, der standhaft mit uns entlang flog. Einer der Matrosen auf dem Vorderdeck schien den azurblauen Schatten auch zu sehen und machte zwei oder drei Andere darauf aufmerksam, und zwar auf jene
stumme, mechanische Weise, welche der Haltung und den Bewegungen der Schiffsmannschaft ein weit gespensterhasteres, gräßlicheres Gepräge verlieh als eS die Leichen- blässe ihrer Gesichter und das Flimmern unnatürlicher Lebenskraft in ihren Augen je hervorzubringen im Stande war. Sie näherten sich dem Schiffsschnabel, um vorwärts zu lugen, wobei sie in vollständiger Mißachtung aller Disziplin jedwedes Stück Arbeit, da» sie gerade zur Hand gehabt haben mochten, liegen ließen. ES war ein klarer, Heller Tag, über die ganze Scene flutete die reiche Pracht und Fülle des gesegneten, goldenen Sonnenscheins und funkelnd und strahlend warfen die schneeigen Wellenhäupter das Himmelslicht in tausendfacher, vielfarbiger Brechung zurück; dennoch verliehen die Gestalten jener Männer, die wort- und lautlos, in Stellungen phlegmatischster Betrachtung, mit an die Stirne gelegter Hand in die Ferne starrten, der ganzen Landschaft, dem ganzen Gemälde eine wilde, trübe Färbung, ein gräßliches Aussehen, und trotz des Hellen Mittagsglanzes lag eS wie eine Nebelschicht finsterer Melancholie auf unserem Fahrzeug.
Und auch ich stand gleich diesen unheimlichen Gesellen mü an die Stirne gelegter Hand da, die Blicke in den fernen Schatten bohrend. Blendend goß sich die Wunderpracht des goldenen Sonnenlichtes über die zitternden Gewässer aus, aber dieser schimmernde Schleier vermochte die festen Umriffe des nahen Landes, die mit der Zeit schärfer und deutlicher hervortraten, nicht zu verhüllen und ich wähnte schon die Krümmungen und Streifen binnenländischer, lustiger, von zarten Wolkenschichten umhüllter Bergeshöhen unterscheiden zu können.
„Land, Herr Fenton!" schrie mir plötzlich eine Stimme in» Ohr.
Ich fuhr erschrocken zurück. Van Vogelaar stand dicht bei mir und deutete mit seinem blassen, lederartigen Zeigefinger in der angegebenen Richtung. Sein rauhes, verwitterte» Gesicht war kalt und bewegungslos, obgleich eS mich aus seinen Augen wie Bosheit und Schadenfreude angrinste.
„Ich sehe es, Mynheer," erwiederte ich kühl und abweisend.
„Das sollte doch Ihre englische Seele entzücken!" rief er aus. „Ihre Landsleute würden Sie nicht mehr als einen zu ihnen gehörigen Matrosen ansehen, wenn Sie keine Sehnsucht nach dem festen Lande hätten. Dort giebt eS keine Seekrankheit, Herr Fenton, keine hohlbrausenden Sturzseen mit gähnenden, grabesdunklen Rachen!"
Wäre der Mann von dieser Erde gewesen, so würde eS mir wenig Mühe gekostet haben, ihn vor mir auf die Kniee zu bringen und mit einem Schlag zur Hölle zu befördern. Aber er war nicht von dieser Erde. Ruhig und leidenschaftslos fragte ich daher: „Mag dies wohl das Land sein, an dem der Kapitän anzulegen gedenkt?"
„Gewiß," antwortete er knurrend; „ja, ja, die Holländer sind doch ganze Matrosen!" — Ich dachte bei mir: Jawohl, wenn sie den Teufel zum Steuermann haben, mögen sie den richtigen Hafen wohl treffen. — „Sie werden sich natürlich freuen, ans Ufer geben zu können, und wenn es auch nur für eine halbe Stund« wäre, nicht wahr?" flug er, mich anblickend.
„Das ist eine Angelegenheit, über die allein Ihr Vorgesetzter zu entscheiden hat," entgegnete ich und wandte mich von ihm ab. Ein gedämpftes „Ha! Ha! Ha!" brach von seinen Lippen, anzuhören wie der rauhe Ton einer unter Deck arbeitenden Säge. Jmogene's scharfes Gehör mußte dm Laut aufgefangen haben, denn sie sah sich hastig nach uns um. Und mich dünkte, er wäre noch Wetter gedrungen» denn unmittelbar nach ihm tönte aus der Kajüte, gleichsam als ein Widerhall, jene» rauhe, düstere Gekreisch empor: „Wz- rzm al vsräomä I"
Vierundvierzigstes Kapitel.
Mr gehen kn einer Aal vor Anker.
Ich wußte damals nicht, welchem Telle der südafrikanischen Küste wir eigentlich zusteuerten, habe aber seitdem in Erfahrung gebracht, daß derselbe einige Meilm östlich vom zweiundzwanzigsten Meridian und ungefähr einhundertundsechzig Mellen von Kap Agulhas entfernt liegt. Als das Land zuerst in Sicht kam, war e», wie ich bereits gesagt habe, nur ein schwacher, langgezogener Schatten in dem Lichtblau des Himmelszeltes dicht über dem Horizont.
Doch ehe die Mittagsstunde herankam, hatten wir unS um beinahe zwei Meilen genähert und die Küste lag nun in prächtigem Farbenkleide deutlich genug vor uns.
Bald nachdem das Land über der Seelinie aufgetaucht war, gesellte sich Jmogene zu mir. So lange sie sich in Vanderdeckens Gesellschaft befand, hatte sie ihre Gefühle gewaltsam unterdrückt, jetzt an meiner Sette stürmten und tobten die verschiedensten Gemüthsbewegungen durch ihre Seele, erkennbar an den zitternden Nasenflügeln, den bleichen Lippen, dem jähen Farbenwechsel der Wangen.
Leise und mit einer Miene, die so ausdruckslos war als eS der Aufruhr in meinem Innern nur immer zulaffen wollte — denn Vanderdecken und seine Maat» standen ratschlagend dicht in unserer Nähe — flüsterte ich ihr zu: „Wenn wir so mit gleicher Geschwindigkeit wettersegeln, sollte unser Anker bei Einbruch der Dämmerung auf dem Meeresgründe ruhen."
„Was werden sie dann wohl beginnen?" fragte sie zurück.
„Ich habe Mir diese Frage schon selbst vorgelegt. Wären sie menschlich — von dieser Erde — so würden sie dann beiwenden und Geschütz nebst Ladung an der einen Sette hinablaffen, um durch Erleichterung de» Schiffes das Leck womöglich über Wasser zu bringen und sich so die anstrengende Arbeit des Pumpen» zu ersparen. Doch hier gelten unsere Mutmaßungen Männern, welche weder tot noch lebend — und außerdem Holländer sind, ich meine, Leute schwerfälligen, apathischen Charakters. Vielleicht mögen sie auch das Tageslicht abwarten und sich bis dahin Ruhe gönnen, deren sie so viel haben können als sie nur brauchen, zumal sie alsdann im Stande sein würden, sich öfter als bisher an der Pump« abzulösen."
(Fortsetzung folgt.)