rrsau.

M 62.

Amts- und Anzeigeblalt für den Bezirk Calw.

65. Jahrgang.

Krscheinl Dienstag, Dannerrtag und Samklag. Di« Einrückangigebü'hr beträgt im Bezirk und nächster Um­gebung S Psg. di- Zeile, sonst 12 Psg.

Samstag, den 31. Mai 1890.

AbvnnementSpreiS vierteljährlich i» der Stadt BO Pfg. und Sv Pfg. TrLgerlohn. durch d^e Post bezogen Ml. 1. 15, sonst i, ganz Württemberg Mk. 1. SS.

Deutsches Reich.

Berlin. Ueber den Unfall des Kaisers am Pfingstsonntage, welcher glücklicherweise, wie ein Berliner Privattelegramm schon meldet, ohne alle ernsteren Folgen für Se. Majestät blieb, wird in Berliner Blättern folgendes Nähere gemeldet: Der Kaiser begab sich am Nachmittage, nach dem Früh­stück, in Begleitung des Erbprinzen von Meiningen, und nur vom Kutscher gefolgt, auf seinem kleinen Einspännenvagen, den er selbst kutschierte, wie dies ja sehr oft geschieht, vom neuen Palais nach der Matrosenstation. Von der Augustastraße kommend, hatten sich an der Ecke der Jägerallee und Marien­straße ziemlich viel Menschen angesammelt. Um dem Publikum auszuweichen, fuhr der Kaiser scharf aus­biegend um die Ecke, wobei der Wagen gegen einen Straßenprellstein stieß und ins Schwanken geriet. Der Kaiser sprang vom Wagen und kam dabei zu Fall. Der Kutscher besaß die Geistesgegenwart, noch rasch die Leine zu ergreifen, er konnte jedoch nicht mehr verhindern, daß das Pferd mit dem Wagen der gegenüberliegenden Straßenseite zueilte und dort ebenfalls wieder an einen Prellstein stieß, wodurch das Gefährt umschlug und der Erbprinz darunter zu liegen kani, während der Kutscher einige Fuß fortge­schleudert wurde. Der Kaiser erhob sich sogleich wie­der und ging dem Wagen nach. Spazierengehende Passanten sprangen hinzu, brachten das Pferd zum stehen und halfen dem Erbprinzen unter dem Wagen hervor. Mannschaften aus der nahe gelegenen Unter­offizierschule waren auch herzugesprungen und reinigten die Anzüge der hohen Herren vom Staube. Un­mittelbar nachdem sich der bedauerliche Unglücksfall zugetragen, kam die Kaiserin mit den drei ältesten Prinzen vom neuen Palais her angefahren, entstieg eiligst dem Wagen und geleitete den Kaiser und den Erbprinzen in die Villa des Majors und Eskadrons­chefs im 3. Garde-Ulanen-Regiment v. Mitzlaff, wo

sogleich eine genauere Untersuchung der hohen Herren stattfand. Die kaiserlichen Prinzen, sowie das ver­unglückte Gefährt wurden nach dem neuen Palais zurückgeschickt. Nach halbstündigem Aufenthalt in der Villa fuhren der Kaiser und die Kaiserin doch noch nach der Matrosenstation, von wo die beabsichtigte Wasserfahrt unternommen wurde.

Unter den Reisen des Kaisers, die für die nächsten Monate in Aussicht genommen sind, ist nach demFrkf. I." neuerdings auch ein angeblich beabsichtigter neuer Besuch am englischen Hofe erwähnt worden. Die Verabredungen dazu sollen bei der letzten Anwesenheit des Prinzen von Wales in Berlin getroffen sein. Der Kaiser hat sich die Pflege des jungen deutsch-englischen Freundschafts­bandes zur besonderen Aufgabe gemacht und versäumt keine Gelegenheit, dies ausdrücklich kund zu thun. Erst in den letzten Tagen erfolgte wieder eine Kund­gebung von höchster Stelle in diesem Sinne, die viel­fach bemerkt worden ist. Am Geburtstage der Kö­nigin von England fand das Paradediner im Schlosse statt, zu welchem, trotz des militärischen Charakters des Mahles, auch der englische Botschafter geladen war, der von beiden Majestäten sichtlich ausgezeichnet wurde. Unter diesen Umständen wäre es nicht auf­fällig, wenn auch nach dem Kanzlerwechsel ein Aus­tausch der Freundschaftsbeziehungen von Hof zu Hof erfolgte, der über den Fortbestand der Gesinnungen keinen Zweifel ließe.

Berlin, 28. Mai. Graf Herbert Bis­marck ist von Paris, wo er bei dem Fürsten Pleß abstieg, bereits wieder nach London zurückgekehrt und wird am 1. Juni in Friedrichsruh erwartet. Das Fußleiden des Kaisers ist bereits völlig gehoben, es ist nur noch einige Schonung anzuempfehlen.

Ausland.

Paris, 29. Mai. Die Polizei verhaftete heute früh 15 russische Staatsangehörige,

bei denen zahlreiche Schriftstücke, sowie Explosivstoffe mit Beschlag belegt wurden. Die Verhaftung erfolgte auf Grund zahlreicher Einkäufe derselben bei Chemi­kalienhändlern. Verhaftet sind Mendelsohn aus Fontenay aux roses, welcher das Haupt dieser nihi­listischen Verbindung zu sein schein; ferner Orloff, genannt Volgrin, Student Lavreynius, Fräulein Guatowski, Labowitsch, Atschinazi, Reichten, und dessen Frau, Fräulein Redozowa, Nakatiz, Nepanow, Kalchinzen, genannt Anämien, Pep- los genannt Levoff, Jemstei und Fräulein Bro Ur­berg. Bei sämtlichen Verhafteten wurden Bomben und Explosivstoffe vorgefunden.

Tages-Ueuiakeiten.

(Amtlich es.) Bei der in den Monaten März, April und Mai d. I. vorgenommenen niederen Juftizdienstprüfung ist u. a. Kandidaten zur Ueber- nahme der in Z 7 der K. Verordnung vom 25. April 1839 und in Z 4 der K. Verordnung vom 22. Jan. 1869 bezeichneten Aemter und Verrichtungen für be­fähigt erklärt worden: Karpf, Karl, von Liebenzell, OA. Calw.

* Liebenzell, 29. Mai. Am 22. Juni findet in Liebenzell das I. Gausängerfest des im letzten Jahr gegttindeten Enz-Nagold-Gausänger- bundes mit Preisgesang statt. Mit diesem Feste wird der Liederkranz Liebenzell zugleich seine Fahnen­weihe verbinden. Dem Bund gehören 14 Vereine mit über 200 Sängern an. Die Beteiligung an diesem Doppelfeste verspricht schon jetzt eine zahlreiche zu werden. Vorstand des Gaubundes ist Buchdruckerei­besitzer Meeh in Neuenbürg. Zu Preisrichtern sind 3 außerhalb des Gaus stehende Gesangsdirektoren be­stimmt. Die Vorbereitungen zum Fest werden von dem hiezu gewählten Konnte aufs eifrigste betrieben.

Stuttgart, ^8. Mai. I. Kais. Hoh. die Herzogin Wera hat die Anregung gegeben, daß auf

Jeuilleion. N-.chdn.ck

Der Geschworene.

Erzählung von Jerdinand K ermann.

(Fortsetzung.)

Daß Jener sich nun noch auf Käthen's Treue und Beharrlichkeit berufen, war sicherlich das Unglücklichste gewesen, was er unter den obwaltenden Umständen thun konnte, denn damit hatte er den harten und herrischen Mann, der in seinen vier Wänden niemals einen anderen Willen geduldet halte, als den eigenen, vollends gegen sich ausgebracht.

Bald nachdem sich Philipp mit einem so schlimmen Bescheide entfernt hatte, rief der Bühlhofbauer seine Tochter herein. Schon der Klang seiner Stimme weissagte nichts Gutes für das bedauernswerte Mädchen, dessen bleiche Wangen und verweinte Augen zur Genüge verrieten, daß sie entweder vorhin an der Thüre gehorcht hatte, oder daß Philipp vor seinem Weggange noch Zeit gefunden, ihr Bericht zu erstatten. Man konnte es dem Bauern im Grunde nicht verargen, daß er mit seiner Tochter recht hoch hinaus wollte; denn sie war nicht nur das reichste, sondern auch das schönste Mätzchen weit und breit. Ihres Vaters riesenhaften Körperbau freilich hatte sie nicht geerbt. Sie war von schlanker Gestalt, und ihrem feinen Gesicht hätte man ebenso­wenig wie der Anmut ihres Auftretens und ihrer Bewegungen die bäuerliche Her­kunft angemerkt. Es wäre eine große Ungerechtigkeit gegen dm Bühlhofbauern ge­wesen, wenn man hätte behaupten wollen, daß er sein Kind nicht liebte; aber seine Liebe war von demselben selbstsüchtigen, engherzigen Geiste erfüllt, der die Grund­lage seines ganzen Wesens bildete, und er hätte seine Tochter lieber zu Grunde gehm sehen, ehe er seine Zustimmung zu einem ihrer Wünsche, der ihm aus irgend einem Grunde tadelnswert erschienen, gegeben haben würde.

Mit flehend erhobenen Händen trat Käthe auf den Vater zu; die Kehle aber war ihr von Kummer und Angst zusammengeschnürt, so daß ihr kein einziges arm­seliges Wörtchen über die Lippen wollte. Doch das war vielleicht unter obwaltenden Verhältnissen noch das Beste; denn es schien nicht geraten, den Bühlhosbauern von Neuem zum Zorn zu reizen. Er zog das zitternde Mädchen mit einem eisernen Griff dicht vor sich hin und sagte, indem er sie mit seinen scharfen, Hellen Augen durch­dringend ansah:

Von dem, was geschehen ist, soll nicht weiter die Red' sein! Ich will Dir'S verzeihen, weil Du ein junges Ding bist, und weil Du keine Mutter mehr hast, die Dich leiten könnt'! Eins aber sag' ich Dir: Muß ich erfahren, daß Du in Deinem Leben auch nur noch ein einzig Mal ein Wort mit dem Jeetzemüller red'st so bist vor meinem Zorn Deines Lebens nicht sicher! Eh sollst Du tot vor meinen Füßen liegen, eh' ich einen Schimpf auf meinem Namen leid!"

Vater!" unterbrach sie ihn mit einem angstvollen Aufschrei; aber sie konnte nicht weiter reden, denn die hervorgehendsn Thränen erstickten ihr die Stimme.

Verschon' mich mit dem Jammern und Heulen!" fuhr der Alte mit uner- biüerlicher Härte fort,und merk' auf, was ich Dir noch zu sagen Hab'! Meiner Schwester Mann, der im Baden'schen reich begütert ist, hat mir unlängst geschrieben« daß sein Aeltester wieder heimgekommen sei von den Soldaten, und daß es gut thät', chm ein Weib zu geben. Drum wollt' er nach der Ernte mit ihm herüberkommen; denn es ist seit Langem ausgemacht, daß er keine Andere nimmt als Dich. Ich aber meinte, Ihr könntet immerhin noch ein Jahr oder zwei warten, und eben halt' ich den Brief angefangen, der ihm das melden sollte."

Er hielt seiner Tochter, die in starrem Entsetzen in die Knie gesunken war, da» Blatt vor die Augen, um es dann langsam in Stücke zu reißen.

Jetzt Hab' ich mich freilich eines Andern besonnen! Auf der Stelle richtest Du Deine Habseligkesten her; denn in drei Tagen setzen wir unS auf, um zu meiner Schwester zu fahren."