Beilage zum „Calwer Wochenblatt"
Rro. 121.
Feuilleton.
Drvei Wege.
Novelle von CH. Fester.
(Fortsetzung.)
Dies war — wie die Neugierigen bereits vom Hötel-Wirt gehört haben — der Gatte der Dame, ein reicher Fabrikant.
»Sie hat ihn gewiß nur seines Geldes wegen geheiratet!" flüsterte ein hübsches Mädchen seinem Nachbar zu. „Sie sieht traurig aus, kein Wunder! Was für eine Mumie ist er und wie bäurisch! Ich glaube, er hat noch nicht zwei Bemerkungen gemacht, seitdem sie beisamen beim Frühstück sitzen!"
Josiah Hickman hatte sich nicht viel verändert seit den Tagen in Cookham, als er sich mit Kamilla Doyne verlobte. Sein Gesicht hatte noch immer denselben unmäßigen Ausdruck von Selbstbewußtsein. Seine Frau hingegen hatte sich desto mehr verändert.
MrS. Hickman war noch immer eine auffallend schöne Frau, doch obgleich sie nicht glücklich schien, sah sie Dank ihrer glänzenden Umgebung nicht elend, sondern nur gleichgültig und traurig aus. Eine tiefe Falte zeigte sich zwischen ihren gewölbten Augmbrauen und eine immerwährende Melancholie lag in dem Blick ihrer dunklen Augen, die prüfend, aber ohne Interesse auf die köstliche Umgebung sahen,
Wie sie so dasaß, einen Arm auf dem Frühstückstisch, waren ihre Gedanken west, weit weg von den Zeitungen, die ihre linke Hand hielt, und von den geöffneten Briefen, die vor ihr lagen. Sie konnte das Getöse und Murmeln der Stimme von der Straße her hören. Plötzlich bemerkte sie, wie die fröhliche Gruppe draußen voll wartender Bewegung ward. Sie sah die Damen ihre Spitzentaschentücher hin- und herbewegen, die Herren ihre Stöcke aufstoßen und eine Frage eifrig diskutieren. Sie weiß nicht, was es bedeutet, doch plötzlich bemerkte sie in der Ferne einen Dampfer — einen dunklen Fleck im entfernten Nebel. Er war es wohl, auf den die Menschen warteten.
Sie zog ein kleines Perlmutter-Fernglas hervor und sah gleichgültig nach dem herannahenden Schiff. Im nächsten Moment erschrak sie und sah etwas furchtsam auf ihren Gatten, dessen Aufmerksamkett aber gänzlich durch ein illustriertes Journal in Anspruch genommen ward.
Mrs. Hickman erhob wieder ihr Glas nach der Richtung des Wassers. Dann stand sie auf und bemerkte, indem sie ihren Stuhl bei Seite stellte, daß sie sich hinauf begeben wollte, um sich zum Spazierengehen anzukleiden.
Er hörte ihre Stimme, doch ohne aufzusehen, erwiederte er: „Auf Wiedersehen." Er fuhr fort, zu lesen, und Nichts zog seine Aufmerksamkeit ab, bis die Glocke die Ankunft des Dampfers verkündete.
Josiah Hickman stand auf, entfernte sein Augenglas von seiner Nase, legte die Zeitung bei Sette und trat ans Fenster.
Die Passagiere stiegen aus. Da er nichts Besseres zu thun wußte, beobachtete er die Neuangekommenen, die einzeln oder paarweise sich dem Eingang näherten. Das Schauspiel schien ihm wenig Vergnügen zu bereüen. Die Vorübergehenden sahen wie die meisten Vergnügungszügler aus, — mehr oder weniger der besseren Klasse angehörend. Er wollte sich gerade wieder zurückziehen und seiner Frau folgen, als plötzlich ein Gesicht unter der Menge seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen schien.
Er sah nochmals hin. Ja, eS war gewiß, er irrte sich nicht. Drei Jahre konnten ihn nicht die große, elegante Figur, die schönen, wie vom Bildhauer gemeißelten Züge, die ernsten, blauen Augen vergessen machen, — Alles Das, was eine so große Macht auf das Weib ausgeübt hatte, welches — wie er jetzt genau wußte — er nur Dank seines Reichtums und seiner Stellung erobert halte. Ja, ohne Zweifel, es war Arthur Charlton; doch wer war das junge Mädchen an seiner Sette mit den sanft glänzenden, braunen Augen und dem glücklichen, kindlichen Lächeln? Sollte es seine Frau sein? Nein! Doch — warum nicht? Warum sollte er nicht wie andere Männer geheiratet haben?
Auf jeden Fall mußte Hickman ihm zu seinem Geschmack Glück wünschen, als er Charlton's junge Gefährtin ansah, die fortwährend ihr liebliches Gesicht ihrem Gatten zuwandte.
Hinter dem Paare folgte eine derbe, große Bäuerin, die Etwas auf ihren Armen trug. ES konnte ein kleines Kind oder auch ein Gewirr von Spitzen und Stickereien sein.
Unwillkürlich sah Josiah Hickman nach dem Ankleidezimmer seiner Frau, doch die Vorhänge waren fest zugezogen.
„Es ist Schade," murmelte er lächelnd, indem er wieder nach seiner Zeitung griff, „daß sie die kleine Scene versäumt hat."
Vielleicht wäre der reiche Fabrikant sehr erstaunt gewesen, wenn es ihm möglich gewesen wäre, einen Blick in das Zimmer zu werfen, wo seine Frau mit gc- fatteten Händen stand und in den Garten des HStels niederblickte, mit Augen, die ein schreckliches Gespenst zu erblicken schienen, und einem Gesicht, das in einer einzigen Minute zu Stein erstarrt schien.
Von ihren zitternden Lippen kamen die Worte:
„ES ist Arthur! Er ist glücklich, und ich — ich —" Und indem sie auf einen Stuhl sank, bedeckte sie ihre Augen mit den Händen, um sich die schreckliche Aussicht zu verbergen, den Mann, den sie liebt«, glücklich in der Gesellschaft einer Anderen zu sehen. „O, was soll ich thun? Ich bin das unglücklichste Geschöpf unter der Sonne!"
Und doch waren um sie her alle Zeichen des Reichtums, ja, von übermäßigem Luxus, großartige, kostbare Geschenke, die das Bestreben verrieten, den leisesten ihrer Wünsche zu «Men.-»
Das Schlimmste stand bevor, — die erste Begegnung. Arthur beugte sich eben über den Tisch und sprach eifrig mit der brünetten Dame zu seiner Seite, als Josiah Hickman im Zimmer erschien. Aller Augen wandten sich nach der Thür, durch welche Mrs. Hickman, die juwelengeschmückte Hand auf dem Arm ihres Mannes, hereintrat. Leicht, mit ihrer gewohnten Anmut schritt sie daher, ihre lange, seidene Schleppe hinter sich herziehend. Bei dem trou-trou ihres rauschenden Gewandes, sah Arthur plötzlich auf.
Er erschrak und entfärbte sich, doch nur für einen kurzen Augenblick. Er erkannte in der That Kamilla Hickman, die aller Selbstbeherrschung bedurfte, um seinem ruhigen, gleichgültigen Blick mit kaltem, konventionellem Lächeln zu begegnen.
Die peinlichen Vorstellungen folgten; in der nächsten Minute war Mr. Hickman mit der Frau seines früheren Nebenbuhlers bekannt.
Kamilla fühlte, daß ihre Macht über Arthur für immer vorüber war. Nie, selbst nicht in den früheren Tagen am Flusse, hatte sie ihn so vornehm, so schön gesunden, wie jetzt. Und ihr war es bestimmt, ihn mü einer Anderen glücklich zu sehen!
War er glücklich? Kamilla erfaßte den möglichen Zweifel, wie ein Ertrinkender einen Strohhalm. Kein Weib will es glauben, daß eine Andere so geliebt werden kann wie sie.
Sie wußte aus eigener Erfahrung, wie oft ein trauriges Herz sich hinter einem lächelnden Gesicht verbirgt. Vielleicht hatte er Linda geheiratet — denn sie war es — aus Groll, aus Gleichgültigkeit und seine Seele war vielleicht im Geheimen eben so elend wie die ihre. Dieser Gedanke tröstete sie.
Das Mittagessen schien allen sich unbehaglich fühlenden Teilnehmern unendlich lang, mit Ausnahme des Fabrikanten, der sich in der That zu freuen schien, einem alten Bekannten zu begegnen. Er legte auch dem jungen Künstler so manche neugierige Frage vor über Alles, was, seitdem er Marlow verlassen, sich dort zugetragen hatte, daß Arthur, ohne daß er es wollte, gezwungen war, über den großartigen und unerwarteten Erfolg, den er mit seinem ersten, großen Gemälde erlangt hatte, das in Paris und London ausgestellt war, zu sprechen.
„Haben Sie die Absicht, hier längere Zeit zu bleiben?" fragte Hickman nach einer längeren Pause.
„Nein, wir werden morgen nach dem Kontinent abreisen. Ich möchte meiner Frau die Schönheiten der Schweiz zeigen, die ihr bis jetzt noch unbekannt sind. Wir hoffen, den Winter in Egypten zuzubringen; ich muß dort einige Studien für ein großes Gemälde machen, das ich im nächsten Frühling beginnen werde.
„Und werden Sie das Kind mttnehmen?"
„Gewiß! Der kleine Bursche ist das Hauptglied in der Familie," lachte Arthur. Meine Frau würde ohne ihn unglücklich sein."
„Ah!" erwiederte der reiche Mann, der anfing, zu begreifen, daß es noch eine andere Art Glück im Leben gebe, als Gelderwerben und Geldausgeben, und daß dieselbe größer und echter wäre, als sein eintöniges, wenn auch vergoldetes Dasein. Es war etwas so Frisches, Anziehendes in der einfachen, und doch so gedankenvollen Schönheit der jungen Frau, die andächtig, ja, fast verehrungsvoll zu ihrem schönen Gatten emporsah.
Josiah Hickman, der stolz war auf Kamilla's außergewöhnliche Schönheit, konnte doch nicht die beiden Gesichter ohne ein ungünstiges Resultat für das an seiner Seite vergleichen.
„Nun, mein Liebling," sagte Arthur, als man vom Tische aufstand, indem er sich vor Linda niederbsugte und ihr ins Ohr flüsterte, „jetzt gehören wir uns wieder ganz allein. Während des ganzen Essens haben meine Augen nach der schattigen Bank da unten im Garten gesehen. Ich glaube, daß der schmale Pfad nach einem entzückenden, kleinen Walde führt. Wie wäre es, wenn wir dorthin gingen und von den Plänen für morgen plauderten? Nun, mein süßes Weib?"
Mrs. Hickman wandte ihren Kopf, als sie das Speisezimmer wieder verließ, und sah gerade, wie Arthur seinen Arm liebevoll auf seines Weibes Schultern legte und sie sanft nach der sonnenbeschienenen Terrasse zog.
„Was ist Dir, Kamilla? Hast Du Etwas nötig?" fragte ihr Gatte, welcher zum Glück für seinen Seelenfrieden nicht zwischen den Zeilen lesen konnte.
„Nein, ich danke," erwiederte sie matt. „Ich dachte, ich hätte meinen Fächer auf einem Stuhle liegen lassen, mir fällt aber ein, daß ich ihn gar nicht mitgebracht habe."
Eine Stunde später begab sich Mr. Hickman nach einem Billard-Zimmer. Seine Frau blieb auf dem Sofa liegen mit der Entschuldigung, daß sie Kopfschmerzen hättte.
Sie war aufrichtig, denn ihre brennenden, heftig pochenden Schläfe schienen in eisernen Banden zu liegen. Sie-verharrte eine Zeit lang ruhig, dann plötzlich, als ob es ihr unmöglich wäre, Arthur fern zu bleiben, sprang sie auf, warf einen Shwal über die Schultern und ging leise hinunter in den Garten.
Der Abend war kühl. Nichts regte sich. Sie wanderte den Pfad entlang, der an den See führte und indem sie sich gegen einen mit einem Gitter versehenen Weg wandte, betrat sie einen Sommerpavillon, der aufs Wasser hinausging. Hier setzte sie sich nieder. Die ganze Scene vor ihr, die glitzernden, spielenden Wellen, mit denen das Mondlicht koste, die entfernten, dunkel bewaldeten Höhen, Alles, Alles entschwand ihren Augen. Sie sah nicht die große, weite Wasserfläche, wo Schiffe und Gondeln hin und herfuhren, noch das elegant gebaute HStel mit seinem herrlichen Garten, der immer dunkler und dunkler wurde und sich in der Nacht verlor. Sie sah Nichts von alledem, — nur Cookham, das süße, stille Cookham, dessen Buchten von den flüsternden Wellen umspült werden, wo sie gelernt hatte, daß Liebe keine Erfindung der Dichter, kein thörichter Traum der Jugend, sondem das Einzige ist, was diese traurige Welt wert macht, um darin zu leben, ja, daß sie das eigentliche Leben selbst ist.
(Schluß folgt.)