Beilage zum „Calwer Wochenblatt"
Nro. 61.
Mrschkungene Mdm.
Roman aus dem Englischen von Hermtne Franken st ein.
(Fortsetzung.)
Das Stück schwarzen Stoffes erwies sich, als es ausgebreitet wurde, als der Aermel eines Frauenkleides, und als der Detektiv den Zeugfetzen aus der Tasche nahm, den er im Gehölz gefunden hatte, erkannte er, daß derselbe nicht nur ganz gleich mit dem Aermel war, sondern auch genau in ein Loch, welches derselbe zeigte, hinein paßte. In diesen Aermel aber war eine Pistole eingewickelt, die das ganz gleiche Seitenstück zu der war, welche bei dem Gericht in W*** lag.
Ein Freudenschrei entrang sich Hug's Lippen, denn er fühlte, daß die Geliebte seines Herzens gerettet war.
„Ja," sagte der Detektiv, „ich glaube, wir haben Miß Joyce Weston in die Enge getrieben. Ich muß mir jetzt einen Verhaftsbefehl für sie verschaffen, und dazu muß ich den ganzen Vorgang vor einem Gerichisbeirat angeben und ihn bitten mir den Haftsbefehl auszustellen. Da Mr. Egerton so nahe bei der Sache interessiert ist, glaube ich, daß es besser wäre, wenn ein Anderer den Haftsbefehl ausstellen würde. Wer ist der nächste Gerichtsbeirat?"
„Sir Ralph Lynwood von Lynwood-Hall."
„Dann will ich mich sofort zu ihm begeben. Inzwischen müssen Sie Murren scharf überwachen, damit sie keinen Versuch machen kann, uns zu entschlüpfen, was sie gewiß wenigstens probieren würde, wenn sie eine Ahnung von unseren Entdeckungen hätte. Sollte sie etwas Derartiges thun, so müssen Sie sie mit Gewalt fest- halten, denn mit diesen Beweisen in Händen, dürfen wir es nicht zulassen, daß sie uns im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung macht. Wir müssen sie anklagen und überführen!"
44. Kapitel.
Doktor Seaport untersuchte den Inhalt des in Adrienne's Zimmer gefundenen Papierpäckchens und erklärte, daß das Pulver eine Bleilösung sei, aber eine so fein und sorgfältig präparierte, wie er ihresgleichen nie zuvor in Händen gehabt hatte.
Er befand sich eben in Lynwood-Hall und ging zufälligerweise gerade durch die Halle, als Healp daselbst eintraf und einen Diener fragte, ob er nicht mit Sir Ralph sprechen könne, da es sich um eine äußerst wichtige Sache handle. Der ernste eindringliche Ton des Detektivs fiel dem Doktor auf und er ging selbst zur Thür, um mit ihm zu sprechen.
„Sir Ralph Lynwood ist nicht wohl genug, um sie sehen zu können," sagte er höflich, „aber wenn Sie wollen, werde ich ihm Ihren Auftrag überbringen und Ihnen eine Antwort sagen lassen."
„Ich danke Ihnen, mein Herr, aber ich wollte Sir Ralph persönlich sehen/ erwiederte Healp, fügte aber dann, wie von einer plötzlichen Idee erfaßt, hinzu: „Vielleicht sind Sie auch ein Gerichtsbeirat, mem Herr?"
Der Arzt schaute ihn ob dieser Frage etwas überrascht an, antwortete hierauf aber bejahend, worauf der Detektiv sagte:
„Dann möchte ich Sie bitten, mir einige Minuten Gehör zu schenken. Ich werde Sie nicht lange aushalten."
Dr. Seaport führte ihn in ein Zimmer, lud ihn ein, Platz zu nehmen, und nun setzte Healp alle seine in den letzten vicrundzwanzig Stunden gemachten Erfahrungen auseinander und bat ihn um einen Haftsbefehl gegen Joyce Weston, alias Elise Warren.
Der Arzt interessierte sich lebhaft für die Erzählung des Detektivs und als dieser geendet hatte, rief er aus:
„Ich freue mich wirklich, zu hören, daß Natalie Egerton's Unschuld erwiesen ist, nicht, daß ich sie jemals für schuldig gehalten hätte, aber die Umstände zeugten ganz entsetzlich gegen sie!"
„Ja, das ist wahr; so sehr zeugten sie gegen sie, daß ich im Anfang ganz und gar daran verzweifelte, ihre Unschuld klar legen zu können. Aber ich glaube nicht, daß es viele Schwierigkeiten machen wird, sie jetzt in Freiheit zu setzen."
„Nein; Ihre Beweise gegen Warren sind im höchsten Grade überzeugend und ich kann Ihnen zu dem Talent und dem Eifer, mit dem Sie für Büß Egerton gewirkt haben, nur gratulieren. „Ich wollte," fügte er hinzu, „Sie könnten für eine andere Dame dasselbe thun, die gleichfalls jung und schön und zufälligerweise eben jetzt eines ganz ähnlichen Verbrechens angeklagt ist."
„Vielleicht könnte ich das, wenn mir die Möglichkeit dazu geboten würde."
Der Arzt schüttelte seufzend den Kopf.
„Nein, ich fürchte, daß dies nicht möglich sein wird. Die Beweise sind zu stark. Niemand könnte sich schwerer entschließen, Lady Lynwood einer Schlechtigkeit fähig zu halten, als ich, aber selbst ich muß den Thatsachen als Beweisen glauben."
„Selbst Thatsachen sind nicht immer Beweise," bemerkte Healp nachdrücklich. „Jetzt möchte ich Sie aber bitten, Sir, mir den Haftbefehl so bald als möglich auszustellen, denn ich muß mir auch noch einen Wachmann holen, um die Verhaftung unverzüglich vornehmen zu können. Ich fürchte, daß diese Warren mir entschlüpfen könnte, und das wäre eine bittere Enttäuschung nach all meiner Plage."
Dr. Seaport nahm ohne vieles Besinnen Feder und Papier zur Hand und stellte den Hastsbefehl aus, den er Healp einhändigte.
„Ich bin im Begriff, für eine kurze Zeit nach Hause zu fahren," bemerkte er, „wenn es Ihnen recht ist, so begleiten Sie mich nach der nächsten Polizeistation."
Healp nahm das Anerbieten dankend an und als er wenige Mimcken später neben dem Doktor im Wagen saß, sagte er ehrerbietig:
„Sie können mir vielleicht die Einzelheiten des Falles, dessen Sie Erwähnung
thaten, mitteilen, Sir, und ich könnte Ihnen wenigstens sagen, was ich darüber denke. Vielleicht," fügte er bescheiden hinzu, „ist meine Meinung nicht viel wert, aber ich habe schon manche Erfahrung gesammelt. Natürlich werde ich Ihre Mitteilung als vertrauliche bettachten."
Der Doktor überlegte einige Minuten, dann berichtete er ausführlich, was sich in Lynwood-Hall begeben hatte, denn der seltene Scharfsinn und die Intelligenz des Detektivs hatten einen bedeutenden Eindruck auf ihn gemacht. Healp horchte aufmerksam auf seinen Bericht und als der Doktor zu Ende war, sagte er:
„Es scheint mir, als ob alle gegen die Dame vorgebrachten Beweise hauptsächlich auf Dem beruhten, was Hauptmann Lynwood gegen sie aussagt?"
„Nicht so ganz," antwortete der Doktor, „Sir Ralph selbst sah, wie sie Etwas in die Limonade goß und die Dienstleute sagen, daß sie auffallenderweise darauf bestand, sie selbst aus dem Zimmer der Haushälterin zu holen; endlich aber fand ich selbst in ihrem Ankleidezimmer das Fläschchen und das Päckchen mit der Bleilösung.
„Und Sie sind dessen sicher, daß das Päckchen eine Bleilösung enthielt?"
„Gewiß. Aber es ist eine ganz merkwürdige Lösung, — ein so sorgfältiges Präparat, wie mir nie zuvor eins in die Hände gekominen ist. Ich habe es bei mir, wenn Sie es sehen wollen," fügte er hinzu, ein kleines, viereckiges Kouvert aus seiner Brieftasche ziehend. Dasselbe enthielt ein bedrucktes Stück Papier, in welchem sich ein weißes Pulver befand.
„An welchem Tage und zu welcher Zeit ist Lady Lynwood verschwunden?" fragte Healp, das bedruckte Papier betrachtend.
„Am sechsten, vorgestern gegen Abend, — am selben Abend, als der Mord begangen wurde."
„Dann muß sie das Pulver knapp vor ihrem Weggehen in das Papier gewickelt haben," bemerkte Healp trocken, denn es ist ein Stück von einer Nummer des „Globe" und trägt das Datum vom sechsten."
„Himmel, ist das möglich?" rief der Doktor in heftiger Aufregung aus, das Päckchen ergreifend und gleichfalls genau anschauend. „Es ist wirklich so. Wie seltsam, daß ich das noch gar nicht bemerkte, während Sie es sogleich herausfanden."
„Das ist keineswegs seltsam; ich! suchte eben nach übereinstimmenden Umständen, was Sie nicht thaten."
„Aber warten Sie," fuhr Doktor Seaport hastig fort, „da fällt mir etwas Wichtiges ein, und das ist die einfache, unleugbare Thatsache, daß die Zeitungen vor neun Uhr Abends nicht in Lynwood-Hall eintreffen, und Lady Lynwood hatte das Haus viel früher verlassen, als die Zeitungen daselbst anlangten, so daß sie unmöglich das Pulver in dieses Papier gewickelt haben kann.
„Und sind sie ganz sicher, daß das noch dasselbe Papier ist, in welchem Sie es zuerst gefunden haben?"
„Ja, ganz sicher, denn es ist nicht mehr aus meinen Händen gekommen."
„Dann," sagte Healp ruhig, „ist es klar, daß Lady Lynwood einen Feind in dem Hause ihres Gatten hat, der sich alle Mühe giebt, sie als Mörderin erscheinen zu lassen, und diese Person ist wahrscheinlich Derjenige, welcher den größten Vorteil daraus ziehen würde, wenn Sir Ralph glaubt, daß sie ihm nach dem Leben trachtet, — nämlich Hauptmann Otto Lynwood. Ich habe jetzt nicht die Zeit, die Sache eingehender zu untersuchen," fügte er hinzu, als der Wagen eben vor der Polizeistation stehen blieb, „denn ich muß die Angelegenheit, die ich in Händen habe, zuerst zu Ende führen, aber wenn Sie wollen, will ich später mit Ihnen darüber unterhandeln."
„Kommen Sie, wenn möglich, noch heute wieder nach Lynwoodhall," rief der Doktor, von der eben gemachten Entdeckung auf das Heftigste erregt. „Ich werde in einer Stunde wieder dahin zurückkehren und Sie erwarten."
„Ich kann nicht mit Bestimmtheit versprechen, zu konimen, aber, wenn es mir möglich ist, will ich es thun", war Healp's Antwort, als er aus dem Wagen stieg und sich bei dem Doktor empfahl.
In der Polizeiwachtstube trug er dem diensthabenden Jnspector sein Anliegen vor und wenige Minuten später war «r in Begleitung eines Wachmannes auf dem Wege nach Kings-Dene.
„Warren ist noch auf ihrem Zimmer," teilte Hugh Cleveland, der in der Halle auf ihn wartete, ihm mit, als er mit dem Wachmann daselbst einttat. „Ich werde sie in die Bibliothek kommen lassen."
Die drei Männer begaben sich voraus dorthin und bald darauf wurde bescheiden an die Thür geklopft, worauf die Kammerfrau eir.trat, in ihrer weißen Haube und mit den blauen Augengläsern bescheiden und anständig aussehend.
„Sie haben nach mir geschickt, mein Herr?" sagte sie in ruhigstem Tone, sich vor Hugh Cleveland verbeugend.
„Nein, ich war es eigentlich, der Sie brauchte, und nicht Mr. Clcveland," sagte Healp, ganz dicht auf sie zuttetend und ihr so jede Möglichkeit eines Rückzugs abschneidend. „Ich wollte Ihnen nur diese Gegenstände zeigen," und er zog den mittlerweile getrockneten Aermel und die Pistole hervor.
Ein fahles Grau überzog plötzlich das Gesicht der Frau und sie stützte sich auf den Rütteltisch, um nicht umzusinken. Dann fuhr sie jedoch, von plötzlichem Trotz erfaßt, auf:
„Was habe ich mit diesen Dingen zu thun? Ich habe sie nie zuvor gesehen!"
„Wirklich nicht, Miß Joyce Weston?" Sie zuckte zusammen, wie von einem Schuß getroffen, als sie sich so angesprochen hörte. „Ich glaube, Ihr Gedächtnis ist schlecht und bedarf einiger Nachhilfe. Diese Pistole haben Sie selbst aus Miß Egertons Schublade genommen, als Sie auf ihr Zimmer geschickt wurden, um sie zu holen; und dieser Aermel ist derselbe, den Sie in der vergangenen Nacht aus Ihrem Kleide heraustrennten, weil Sie sich ein Loch darein gerissen hatten, als Sie im Gehölz die zweite Pistole von diesem Paar versteckten, — die Sie einmal von Mr. Gilbert Farquhar bekommen hatten, als er noch gut Freund mit Ihnen war, — dieselbe Pistole, von welcher Sie einen so verhängnisvollen Gebrauch machten, indem Sie ihn damit niederfchossen." (Fortsetzung folgt.)