Beilage zum „Calwer Wochenblatt"
Rro. 56.
Jeuillrton.
Jerschlungme Jaden.
Roman aus dem Englischen von Hermine Franken st ein.
(Fortsetzung.)
„Lady Lynwood, was kann ich Ihnen sagen?" rief er verzweiflungsvoll. „Ich gebe zehn, ja, zwanzig Jahre meines Lebens dafür, Sie im gegenwärtigen Augenblick nicht hier zu wissen. Ich hätte überlegter sein müssen und Sie nicht dieser Gefahr aussetzen dürfen!"
„Aber Sie wußten ja selbst nicht, daß eine Gefahr damit verbunden sei," erwiederte sie. „Hätten Sie es gewußt, dann hätten Sie mich sicher nicht hierher geführt."
„Fürwahr nicht; der Himmel ist mein Zeuge!"
Es war die volle Erkenntnis der Gefahr, in welcher sie schwebten, über sie gekommen. Er hatte keine Hoffnung, eine der beiden Thüren öffnen zu können und das Mauerwerk war ringsum viel zu dick, um hoffen lasten zu können, daß selbst das lauteste Geräusch draußen gehört werden könnte, wie auch Niemand in Kings- Dene Etwas von einem Eingang in dieses unterirdische Gewölbe ahnte. Ein zerschmetternder Gedanke!
Aber derselbe stählte auch Lionels Besonnenheit; vorsichtig tastete er sich durch die Finsternis nach der Zelle hin, in welcher Sie den Schatz gefunden hatten, und nahm die darin verwahrten Reichtümer aus der Kiste heraus.
„Welche Moral!" dachte er bei sich, während er das that. „Dieses Gold, um dessentwillen die Menschen arbeiten, ringen, kämpfen, — was kann es uns Beiden jetzt nützen?"
Wenigstens würde er von dem Weibe, das er liebte, nicht getrennt sein. Im Leben mußten sie sich fern stehen, im Tode würden Sie vereint sein!
Als er mit der Kiste zu Adrienne zurückkehrte, zeigte es sich, daß es die höchste Zeit war. Sie vermochte sich kaum noch aufrecht zu halten und sank schwer auf den improvisierten Sitz nieder. Ueberwälttgt kniete Lionel neben ihr nieder und in der nächsten Sekunde hatte all ihre Selbstbeherrschung sie verlassen; sie ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken, während sie zugleich in ein heftiges Schluchzen ausbrach und ihre schlanke Gestalt vor Auflegung zitterte. Er versuchte es durch Nichts, sie zu beruhigen; er hielt sie nur sanft in seinen Armen und fuhr ihr liebkosend ttber die Haare, wie man ein furchtsames Kind beruhigt.
Nach einer Welle faßte sie sich.
„Es thut mir leid, daß ich meiner Auflegung freien Lauf ließ," sagte sie. „aber ich konnte mir nicht helfen. Ich will jetzt mutig sein, oder mich mindestens bemühen, es zu werden."
„Versuchen Sie, zu schlafen," sagte Lionel. „Vielleicht dringt bei Tagesanbruch irgend wo ein Lichtschimmer herein, so daß ich im Stande bin, Etwas zu unserer Befreiung zu thun."
„Halten Sie das für wahrscheinlich?" rief sie mit der Angst eines Ertrinkenden, der sich an einen Strohhalm klammert.
„Ich hatte es für sehr wahrscheinlich," entgegnete er, bemüht, im Tone fester Ueberzeugung zu sprechen, obwohl er dieselbe keineswegs empfand.
„Und Sie werden mich nicht verlassen?"
„Nein; dessen können Sie sicher sein!"
Und sie ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken wie ein vertrauensvolles Kind; seine Nähe beruhigte sie, selbst in dieser schrecklichen Lage.
Und so schlichen die Stunden dahin, eine nach der andern, in qualvoller Langsanckeit.
41. Kapitel.
Sehr zeitig an dem Morgen, welcher der Nacht folgte, da Healp die Schritte der sonderbaren Kammerflau Warren überwacht hatte, begab sich der Detektiv in das von Hugh bewohnte Zimmer und erteilte dem jungen Mann einige Weisungen, welche derselbe treu zu befolgen versprach. Nachdem er hierauf in aller Eile ein Frühstück eingenommen hatte, verfügte der Detektiv sich in einem Wagen nach der Bahnstatton, von wo aus er den ersten nach der Hauptstadt fahrenden Zug benützte. Es war neun Uhr Morgens, als er daselbst eintraf.
Er nahm einen Wagen und fuhr nach der in Warren's Brief bezeichnten Adresse. Vor einem schmutzig und ärmlich aussehenden Hause hielt der Wagen. Healp stieg aus, zahtte und schickte ihn fort; dann klopfte er an die Hausthür.
Eine keineswegs nettgekleidete Frau, welche ein etwa ein Jahr altes Kind auf dem Arme trug, öffnete und da sie in der Meinung war, er komme, um die Zimmer anzusehen, die sie als zu vermieten ausgehängt hatte, führte sie ihn unver- weilt in ein kleines Empfangszimmer, das freundlicher aussah, als nach der äußeren Erscheinung der Frau vorauszusetzen gewesen wäre.
Die Frau wollte eben damit beginnen, die vielen Annehmlichkeiten, die ihre Zimmer boten, rühmend hervorzuheben, als ihr der Detektiv die Rede abschnitt.
„Ich bin nicht gekommen, um Ihre Zimmer anzusehen," sagte er, „sondern um einige Fragen bezüglich einer Einwohnerin, die Sie hatten, an Sie zu stellen. Hat ein junges Frauenzimmer, Namens Warren, kürzlich bei Ihnen gewohnt?"
„Mrs. Warren? Ja!"
„Wann ist sie zu Jhnm gekommen?"
Die Frau dachte einige Minuten nach.
„Es wird ungefähr drei Monate her sein," antwortete sie dann.
„Und wann ist sie von Ihnen fortgegangen?"
„O, sie war im Ganzen nur drei bis vier Wochen hier. Ich war sehr ärgerlich, daß ste es mir nicht gleich sagte, daß sie nur so kurze Zell bleiben wollte, aber ich konnte Nichts dagegen thun."
„Ich möchte Sie bitten, Madame," sagte der Detektiv, „mir Alles mitzutellen, was Sie von dieser Miß oder Mrs. Warren wissen; dann werden Sie mir erlauben, das," und er hielt ein funkelndes Goldstück in die Höhe, „Ihrem herzigen, kleinen Jungen zu schenken!"
Die Augen der Frau nahmen einen begehrlichen Ausdruck bei dem Anblick des Geldes an. Der Detektiv hatte den richtigen Weg eingeschlagen; es bedurfte keines wetteren Zuredens.
„Ich kann Ihnen nicht viel sagen, mein Herr," versetzte sie, „aber was ich weiß, teile ich Ihnen sehr gern mit. Eines Tages kam Mrs. Warren zu mir und mietete meine beiden Hinterzimmer für fünf Shillings die Woche. Sie war mir zwar von Niemandem empfohlen, zahlte aber für eine Woche im Voraus; das genügte mir. Sie war immer sehr ruhig und einsilbig und sagte nur, daß sie anfangen wolle, als Kleidermacherin ihr Brot zu verdienen; aber kaum war sie einige Wochen hier gewesen, so kündigte sie mir plötzlich und zog wieder fort."
„Empfing sie jemals einen Besuch?"
„Nein, Herr, niemals."
„Bekam sie Briefe?"
„Im Anfang nicht; aber in der Woche, ehe sie mir kündigte, bekam sie einige Briefe. Sie hatte nämlich auf ein Zeitungs-Inserat, durch welche eine Kammerjungfer gesucht wurde, geantwortet und daraus hatte sich ein kurzer Briefwechsel angesponnen."
„Woher misten Sie das?" fragte er.
„Weil sie es mir selbst sagte und sie erzählte mir auch, daß sie eins ihrer Zeugnisse verloren hätte, und fragte mich, ob die junge Dame, bei welcher sie in Dienst treten wolle, sich wegen Auskunft über sie an meine Schwester, Mrs. Selby, wenden dürfe."
„Und war Ihre Schwester damit einverstanden?"
„Ja, es war ja eine ganz unbedeutende Gefälligkeit. Die junge Dame, ich erinnere mich jetzt sogar an ihren Namen — sie hieß Miß Egerton — schrieb an meine Schwester und sie gab der Warren die gewünschte Empfehlung."
„So? Und was für Gepäck hatte Ihre Einwohnerin bei sich?"
„Nur einen kleinen Koffer und eine Hutschachtel.
„Und diesen Koffer hat sie wohl immer verschlossen gehalten?"
„Ja, sie hatte ihn stets sorgfältig verschlossen."
„Aber, sagte der Detektiv, die Frau scharf anschauend, „waren Sie nie neugierig, was er enthielt, und haben Sie nicht vielleicht einmal die Abwesenheit ihrer Einwohnerin dazu benützt, um in den Koffer hineinzusehen?"
Die Frau wurde blutrot im Gesicht; der Detektiv aber fuhr in vertraulichem Tone fort:
„Nun, ich würde in ihrem Falle ganz dasselbe gethan haben. Haben Sie also etwas besonderes entdeckt?"
„Nichts!" rief die Frau in enttäuschtem Tone aus. „Es waren nicht einmal Briefe vorrätig. Das Einzige, was sich außer Kleidern und Wäsche darin befand, war eine Pistole."
„Eine Pistole? Was für eine Art von Pistole?"
„Eine hübsche, kleine, mit Silber beschlagene Waffe, — ein so zierliches Ding, daß es eigentlich wie ein Spielzeug aussah und nicht wie ein totbringender Gegenstand."
„Erinnern Sie sich, ob die Silberverzierung eingravierte Buchstaben enthielt?" fragte der Detektiv.
„Ja, aber es waren nicht die Anfangsbuchstaben von Dirs. Warren's Namen, das ist mir damals aufgefallen."
„Waren es die Buchstaben G. F.?"
„Ich kann es wirklich nicht sagen, Herr, denn ich habe es vollständig vergessen, was für Buchstaben es waren."
„Glauben Sie denn, daß Sie die Pistole wiedererkennen könnten, wenn Sie sie sehen würden?"
„O, gewiß!" entgegnete die Frau eifrig.
Healp schwieg einige Minuten gedankenvoll.
„Und weiter können Sie mir Nichts über sie Mitteilen?" fragte er dann.
„Nein, Herr, sonst habe ich Nichts zu erzählen."
„Sie wissen auch nicht, wo Mrs. Warren sich aufhielt, ehe sie zu Ihnen kam?"
„Ich glaube, sie sagte, daß sie vom Lande käme, aber von wo, davon habe ich keine Ahnung, denn sie war über ihre eigenen Angelegenhellen sehr verschlossen so daß man ohne Fragen Nichts erfahren konnte."
„Und sie ließ Nichts hier zurück, was einen Aufschluß geben könnte, — Adressen von Briefen, oder sonst etwas Aehnliches?"
„Gar Nichts. Das Einzige, was sie hier ließ, war eine alle Hutschachtel, die sie nur deshalb nicht mitgenommen hat, well sie schon ganz zerbrochen und unbrauchbar war."
„Haben Sie dieselbe noch?"
„Ja, sie steht oben in meinem Schlafzimmer. Ich habe verschiedene Kleinigkeiten in dieselbe hineingethan."
„Könnte ich sie vielleicht sehen?"
Die Frau schaute ihn etwas überrascht an, verließ aber das Zimmer und kam in wenigen Sekunden mit der Schachtel, die außer einer Eisenbahngepäcknummer keinerlei Bezeichnung hatte.
(Fortsetzung folgt.)