Beilage zumCalwer Wochenblatt"

Nro. 142.

Feuilleton.

verschlungene Iäden.

Roman aus dem Englischen von Hermine Franken st ein.

(Fortsetzung.)

Den würdest Du auch haben, meine Junge, wenn Du so wie ich zeitig auf­stehen und vor dem Frühstück zwei Stunden spazieren gehen möchtest," antwortete der Baronet lachend.Diese städtische Lebensweise mit Bällen und Gesellschaften, wobei die Nacht immer zum Tage gemacht wird, verdirbt Euch allen Hunger zum Frühstück. Ich stehe Dir gut dafür, wenn Du zwei Monate hier wärst, hättest Du Appetit genug. Und wahrlich, Otto, ich sehe nicht ein, was Dich hindern sollte, hier zu bleiben."

Der junge Mann errötete ein wenig und warf dem Sprecher einen verstohlenen Blick zu, ehe er antwortete:

Du vergißt, die Saison in London hat eben ihren Höhepunkt erreicht."

Nun, ich glaube doch, daß die Saison in London auch ohne Dich eine Weile weitergehen kann," war die etwas schroffe Erwiderung, und jedenfalls haben diese Besitzungen, deren Herr Du nach aller menschlichen Berechnung einstens sein wirst, eben so viel Anspruch an Dich, als die gesetzlichen Thorheiten. Ich hoffe, daß Du in anderen Beziehungen Nichts gegen eine solche Verantwortlichkeit als Erbe der Lynwood-Güter einzuwenden hättest?"

Mein lieber Onkel," rief der junge Offizier plötzlich in ungemein lebhaftem Tone aus,ich habe Deine Güte nie mißbraucht, und ich hoffe"

Ich habe das keineswegs andeuten wollen, aber trotz alledem ist es ja nur vernünftig anzunehmen, daß Du die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß ich nie­mals heiraten und Du mein Erbe und Nachfolger sein würdest, in Bettacht ge­zogen hättest!"

Der junge Mann schüttelte wie abwehrend den Kopf, sprach aber nicht und hob die Augen nicht empor; vielleicht fürchtete er, daß sie seine Gedanken verraten könnten.

Es liegt nichts Beschämendes in einem solchen Zugeständnis," fuhr Sir Ralph nach kurzer Pause fort.Wenn es auch nicht angenehm sein mag, an den Tod eines uns nahestehenden Menschen zu denken, so muß eine solche Möglichkeit doch immer erwogen werden, und nach aller menschlichen Berechnung wirst Du mich überleben."

Aber Du kannst heiraten!" meinte Kapitän Lpnwood in leisem Tone, während seine dunklen Augen forschend an dem Gesicht seines Onkels hasteten.Du bist noch keineswegs alt!"

Aber doch zu alt, um einen Narren aus mir zu machen, wie ich hoffe."

So bist Du fest entschlossen, keine Frau zu nehmen?" fragte der Neffe, sorg­fältig bemüht, seinen Ernst unter einem scherzhaften Ton zu verbergen.

Ich bin nicht .fest entschlossen' weil ich einfach über die Sache noch nicht weiter nachgedacht habe; aber wenn es Dir irgend eine Befriedigung gewährt, er­kläre ich gern, daß keinerlei Wahrscheinlichkeit existiert, daß ich mich je verheiraten werde. Ich binde mich durch kein Versprechen, obwohl Dir meine Worte fast als ein solches gelten können .... Ah, da kommen die Briefe!"

Es war ein Glück für Otto Lpnwood, daß sein Onkel durch die Ankunft der Post abgelenkt wurde und so den Blick wild triumphierender Freude nicht bemerkte, der aus seinen Augen schoß.

Da sind zwei Briefe für Dich," sagte Sir Ralph, ihm Dieselben reichend und einer ist für mich. Schwarz umrändert!" fügte er hinzu. Nach dem Post­stempel suchend, entdeckte er, daß der Brief aus Rom datiert war. Otto Lynwood beobachtete ihn genau, während er den Brief öffnete, und sah, daß derselbe zwei Ein­schlüsse enthielt; nachdem der Baronet dieselben gelesen hatte, stand er auf und ging in sichtlicher Eregung im Zimmer auf und ab.

Schlimme Nachrichten, Onkel?" fragte Otto.

»Ja, sehr traurige, mein Junge. Du hast mich oft von meinem Jugend­freunde Marchmont sprechen gehört, der die glänzendsten Aussichten fahren ließ, um als Künstler ein unstätes Leben zu führen. Nun, dieser Brief ist von ihm; er teilt mir mit, daß er sterbend sei, und bittet mich, mich seines kleinen Mädchens anzu­nehmen, das in Brüssel in einer Pension ist und das bei seinem Tode ganz verlassen sein wird, da alle seine Verwandten sich von ihm losgesagt haben und er keinen Freund außer mir hat, an den er sich wenden könnte."

Otto Lpnwood's Gesicht zog sich beträchtlich in die Länge. Er war nicht geneigt, diese Bitte mit günstigen Blicken zu betrachten, denn er fürchtete, daß das Kind dieses ihm fremden Künstlers eine Last für die Besitzung werden könne.

Er muß bald, nachdem er diesen Brief beendet hatte, gestorben sein," fuhr der Baronet in schmerzlich gepreßtem Tone fort,denn derselbe ist in einen zweiten von dem ihn behandelnden Arzte eingeschloffen, der mir seinen Tod mitteilt. Armer Marchmont! Er hatte kein Glück auf seiner Laufbahn!"

Wie alt ist seine Tochter!" fragte Otto.

Wahrscheinlich noch ein Kind, zum mindesten sehr jung, denn er spricht von ihr, als von seinem ,kleinen Mädchen'."

Es enstand eine Pause, während welcher die beiden Männer ihren Gedanken nachzuhängen schienen. Endlich brach Otto das Schweigen mit den Worten:

Was wirst Du in der Sache thun, Onkel?"

Was ich thun werde?" wiederholte Sir Ralph, sich seiner Träumerei ent­lassend.Ei, ich werde unverzüglich nach Brüssel gehen und sehen, wie die kleine Waise untergebracht ist."

Und dann?"

Dann werde ich für ihre Zukunft sorgen. Der Wunsch eines Sterbenden soll mir heilig sein."

Du wirst sie adoptieren?"

Das kaum; ich müßte sie denn," fügte er lächelnd hinzu,als künftige Frau für Dich hierher bringen."

Otto biß sich ärgerlich auf die Lippen.

Das möchte ich Dir nicht raten, Onkel; denn bei aller meiner Ehrerbietung für Dich würde ich es doch vorziehen, meine künftige Frau mir selbst zu wählen."

Du brauchst auch meinerseits keine Einmischung zu fürchten. Ich scherze nur."

Aber Scherz bei Seite, lieber Onkel! Ist das nicht ein wenig romantisch und überspannt von Dir, wenn Du Dich mit der Erziehung eines Mädchens be­lastest, das, wie es in der weiblichen Natur begründet ist, Dir recht viel Ungemach bereiten kann?"

Nein, mein Lieber, das ist es nicht," entgegnete der Baronet in ziemlich strengem Tone.Es scheint mir, daß alle Leute heut zu Tage nur an sich und die Befriedigung ihrer eigenen Wünsche denken, und wer von dieser Lebensregel ab­weicht, wird als überspannt, wenn nicht noch als Schlimmeres, bezeichnet. Die Thatsache, daß der Himmel mich reich mit Glücksgütern gesegnet hat, macht meine Pflicht, Gutes zu thun, nur noch dringender, und wahrlich, es wäre meinerseits ein schreiender Undank, wenn ich mich damit zufrieden geben wollte, nur meinem eigenen Vergnügen zu leben, und die Leiden, welche ich zu lindern im Stande bin, unbeachtet ließe. Diese arme Weise ist meiner Obhut anverttaut worden, und, bei Gott im Himmel, es soll eine heilige Aufgabe meines Lebens sein, mich ihrer anzunehmen und für sie zu sorgen mit aller Macht, die mir zu Gebote steht!"

3. Kapitel.

Lionel Egerton, Natalie's Bruder, wandert« planlos durch die Straßen von Brüssel, wo er die Ankunft wichtiger Depeschen abwarten mußte, die er nach Eng­land bringen sollte.

Der Tag war ungemein schwül und drückend und der junge Mann wußte nicht recht, was er mit sich anfangen sollte. Als er deshalb an einer großen, prächtig gebauten Kirche vorbeikam, ging er, angelockt von dem darin herrschenden, schattig- kühlen Dunkel, in dieselbe hinein. Es wurde kein Gottesdienst abgehalten! nur hie und da stieß Lionel auf die Gestalt eines andächtigen Beters. Langsam schritt er durch einen Seitengang dem Hauptaltar zu, um dessen kunstvolle Arbeit genauer zu besichtigen, als er plötzlich stehen blieb, well seine Aufmerksamkeit plötzlich durch ein junges Mädchen gefesselt ward, das, in tiefe Andacht versunken, vor einem Seiten- altar betete.

Er hätte es kaum sagen können, was ihn in ihrem Gesicht oder der ganzen Erscheinung so ergriff; er hatte zu viele schöne Frauen gesehen, um lediglich durch den Anblick einer neuen Schönheit so verblüfft zu sein, und dennoch fühlte er sich fast unwiderstehlich zu dem holden, mädchenhaften Gesicht, das er sofort als das einer Landsmännin erkannte, hingezogen.

Der Teint des jungen Mädchens war von fast durchsichtiger Weiße. Ihr schimmerndes, goldblondes Haar war weich und fein wie Seitengespinnst; aber dunkel­gefärbte Brauen und Wimpern verliehen diesem Antlitz etwas Pikantes. Ihre Haltung verriet eine Ruhe und müde Ergebenheit, welche bei einem so jungen Wesen doppelt auffallend waren. Die tiefe Trauerkleidung, die sie trug und die einen kürz­lich erlittenen, schweren Verlust andeutete, erhöhte das Interesse, das ihre Erschein­ung einflößte, nur noch mehr.

Nach einer Weile erhob sie sich von den Knien und verließ die Kirche lang­samen Schrittes, während Egerton ihr, in einiger Entfernung und ohne daß sie etwas bemerkte, folgte. Außerhalb der Kirche fing sie an, ziemlich rasch die Straße entlang zu schreiten, und bog dann in einen Park ein, der um diese Zell fast gänzlich menschenleer war. In diesem Augenblick erst bemerkte Lionel, daß er nicht der Ein­zige war; der sich für die Bewegungen der jungen Dame interessierte. Ein kleiner, dicker, militärisch aussehender Mann, mit keck blickenden, schwarzen Augen und einem schwarzen Schnurrbart, schlenderte gleichfalls hinter ihr drein und trat nun plötzlich an ihre Seite, lüftete den Hut und schien einige Worte an sie zu richten.

Was immer diese Worte enthüllen mochten, sie mißfielen der jungen Dame entschieden, denn sie blickte erschreckt auf den Sprecher und begann alsdann noch rascher weüer zu gehen; als sie aber sah, daß der Fremde sich an ihrer Seite hielt, blieb sie plötzlich stehen und schaute wie hilfesuchend um sich. Nur zu gern wider­stand Lionel dieser stummen Bitte nicht, rasch trat er auf sie zu.

Mein Fräulein," sprach Lionel die junge Dame auf französisch an,kann ich Ihnen irgend wie dienen?"

Sie antwortete ihm in seiner Muttersprache.

»Ich fthe, daß Sie ein Engländer sind, mein Herr. Wollen Sie die Güte haben, diesem Menschen hier zu sagen, daß er mich nicht weiter belästigen soll!" rief sie rasch und sehr erregt durch das Peinliche ihrer Lage.

,Dieser Mensch' jedoch wartete es nicht ab, die scharf verweisenden Worte zu vernehmen, die Lionel auf den Lippen schwebten, sondern als er sah, daß das junge Mädchen einen Beschützer gefunden hatte, zuckte er die Achseln und entfernte sich mit einem unverschämten Lächeln.

Ich danke Ihnen vielmals!" sagte sie mit einer gewissen ernsten Einfachhell, die an sich schon reizend war; sie verneigte sich und wollte weüer gehen, doch Lionel hielt sie zurück.

Ich bin nur zu glücklich, daß es mir vergönnt war, Ihnen eine Unannehm­lichkeit zu ersparen," versetzte er hastig;aber ich muß Sie bitten, mir eine Gunst zu gewähren, und zwar die, mir zu gestatten. Sie nach Hause zu begleiten, da es keineswegs unwahrscheinlich ist, daß Ihr Verfolger, sobald er sieht, daß ich Sie ver­lassen habe, zurückkehrt."

Ein bekümmerter Ausdruck trat in ihre blauen Augen.

(Fortsetzung folgt.)