63. Jahrgang
Yro. 12.
Amts- und Intefligeazbkatt für «len liezicii.
Erscheint Iienatag, Konneratag L Kamatag.
Die Einrückungsgebühr beträgt 9 -S, p. Zeile im Bezirk, sonst 12 H.
Samstag, äen 28. Januar 1888.
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Wochenschau.
L6. Ein Geschichtsschreiber, welcher die Gesamtlage Europas in den letztvergangenen Wochen und Monaten — und wie lange wird sie noch so bleiben? — zu schildern haben wird, wenn alle die Mühen, welche die Gegenwart beichäftigen, überwunden sein werden, wird es nicht leicht haben, dem großen Publikum ein klares Bild zu geben. Denn er wird es nicht mit aktenmäßig sestgestellten Thatsachen zu thun haben, sondern nur wechselvollen Stimmungen. Was wird er sagen können? „In jener Zeit sammelte Rußland an der österreichischen und deutschen Grenze Truppen an, eine Maßregel, welche Monate lange Beunruhigungen der gesamten europäischen Welt hervorrief." Das ist das einzige Greifbare, was man wird feststellen können; denn die geheimnisvollen Vibrationen, welche das geschäftliche und politische Leben der Gegenwart durchzittern, von Tag zu Tag wechselnd, sie werden sich der Kenntnis des späteren Geschichtsschreibers entziehen. Unsere Zeit ist fieberkrank; allein die Pülverchen unv Mixturen unserer Offiziösen können sie nicht gesund machen, denn sie heben oft gegenseitig ihre Wirkungen auf und sie fassen nicht das Uebel bei der Wurzel. In der Sache selbst hat sich gegen die Vorwoche wenig geändert. Man scheint allmählich die Ueberzeugung gewonnen zu haben, daß die russische Militärverwaltung sich mit der Absicht trägt, die Truppenverschiebungen nach dem Westen nicht'einzustellen, dieselben vielmehr, wenn auch in langsamerem Tempo, fortzusetzen. Wenn es auch unzweifelhaft zu sein scheint, daß Rußland sich auf die Eventualität eines Krieges, nicht auf der Balkanbalbinsel, sondern an der Westgrenze vorbereitet, so können wir doch den Zeitpunkt in aller Gemütsruhe abwarten. Für das laufende, sowie für das nächste Jahr kann eine solche Aktion sicherlich nicht von Rußland in Aussicht genommen sein, denn zunächst fehlt cs demselben nicht nur an den Geldmitteln zur Führung eines Krieges, sondern es hapert auch an den Mitteln zur Herstellung neuer strategischer Eisenbahnen und zur Verbesserung der Vizinal- wege. Bis diese beschafft und zweckmäßig verwendet werden, darüber mögen noch Jahre vergehen, mit jedem neuen Friedensjahre verbessern sich auch die Chancen für Deutschland und Oesterreich-Ungarn. Vorläufig wollen wir uns also, um mit dem Füisten-Reichskanzler zu reden, nicht verblüffen lassen!
Ein Moment der Beunruhigung schien der neue Vorfall an der deutsch-französischen Grenze bieten zu wollen, wenigstens versuchte die offiziöse Agentur „Havas" durch falsche Darstellung desselben die Gemüter unnötigerweise zu erhitzen. Die Pariser Revanchepresse hat sich denn auch flugs beeilt, aus dem unbedeutenden Vorfall Kapital zu schlagen und nach allen Regeln der Kunst gegen den „bösen Nachbar" zu Hetzen. Nun hat aber selbst der Präfekt von Nancy dem Minister des Inneren erklärt, daß bei dem Zwischenfall, dem Seitens des deutschen Auswärtigen Amts von allem Anfang an jede amtliche Bedeutung abgesprochen worden
war, keine Grenzverletzung stattgefunden und daß der Nächstbeteiligte, Herr Barberot mit dem „geschätzten Charakter", keine Klage erhoben habe. Der Herr Präfekt giebt also zu, daß die Verhaftung zu Recht bestand, da dieselbe aus deutschem Gebiete erfolgte.
Zwischen Italien und Frankreich ist eine neue Spannung eingetreten, die in dem Abbruch der Handelsvertrags-Unterhandlungen culminiert. Natürlich muß auch hierbei wieder die deutsche Regierung ihre Hand im Spiele haben und der „Temps" läßt sich denn auch aus Berlin melden, daß die deutsche Negierung, welche noch nicht darauf verzichtet habe, einen Zollverein zwischen Deutschland, Oesterreich und Italien zu Stande zu bringen, viel zu dem Abbruch der Verhandlungen beigetragen habe, „denn ein bündiger Abschluß des Vertrages zwischen Frankreich und Italien würde dem deutschen Handel nach ihrer Ansicht die Absatzwege verstopfen." Wir brauchen wohl nicht hinzuzufügen, daß der Berliner Corresponeent des „Temps" die Unwahrheit spricht.
Zum Schluffe unserer heutigen Wochenschau müssen wir doch des schönen Familienfestes gedenken, das Deutschlands Thronfolger-Paar fern der Heimat, aber in Gemeinschaft mit All-Deutschland feierte. Möge die Hoffnung, daß die Leidenszeit der so schwer Geprüften bald vorüber sein werde, voll und ganz in Erfüllung gehen! _
Gcrges-Weuigkeiterr.
Calw, 27. Jan. Das gestern Abend im Dreiß'schen Saale stattgehabte Concert zu Gunsten der hiesigen Kleinkinderschule war außerordentlich zahlreich besucht. Abzüglich geringer Auslagen konnten doch noch etwa 4ü Mk. zu genanntem Zweck übergeben werden. Die Mitwirkenden fanden den wohlverdienten Dank in dem vielfach und reich gespendeten Beifall.
sAmtliches.^ Durch Entschließung der K. Ministerien der auswärtigen Angelegenheiten, Abteilung für die Verkehrsanstalten, und des Innern vom 19. Januar d. I. wurde in Gemäßheit der neuen Verordnung vom 10. Januar 1884, betreffend die Ergänzung der K. Verordnungen vom 4. November 1872 und vom 22. Juni 1876 über die Staatsprüfungen im Baufach, dem Bauführer Moritz Kümmerle von Calw der Titel „Regierungsbaurührer" verliehen.
Stuttgart, 27. Jan. Gestern mittag verbreitete sich ein seltsames Gerücht durch unsere Stadt, das, wie cs zu gehen pflegt, immer weiter ausgesponnen, mit immer neuen Einzelheiten wieder erzählt wurde. Eine Frau» so hieß es, die eben beerdigt werden sollte, sei kurz vor dem Abgang des Leichenzuges vom Scheintod wieder erwacht. Andere wollten sogar wissen,, daß in dem Augenblick, als der Sarg schon auf dem bereitstehcnden Leichenwagen gehoben werden sollte, ein Pochen am Sargdeckel gehört worden sei, worauf man denselben alsbald geöffnet und die Totgeglaubte als wieder:
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Gine Schachpartie.
Novellette von Maurus Jokai Autorisierte Uebersetzung von Ludwig Wechsler.
Ahmanzade Mehemed, der Serdar der Hilfstruppen von Tunis, war weit und breit bekannt von der allgemein strengen Disziplin, die er unter seinen Soldaten hielt.
„Nicht den Feind, sondern mich sollst Du fürchten!" pflegte er zu den Rekruten zu sagen, die seiner Schaar einverleibt wurden und gewiß ist es, daß seine Soldaten stets tapfere Helden waren, die in der Schlacht keine Furcht kannten, dafür aber vor ihrem Kommandanten zitterten.
Der erste Kriegszug, zu welchem sie in der Türkei verwendet wurden, war. in Albanien gegen die aufständischen Griechen gerichtet und hiebei leisteten Mehemed's Schaaren vortreffliche Dienste.
Einmal begab es sich, daß Mehemed acht Soldaten zu Pferde vor den fünf Brunnen von Arta aufstellte, von wo die Griechen am häufigsten ihre Ausfälle zu unternehmen pflegten. Sie hatten den strengsten Befehl, jeden Vorübergehenden aufzuhalten, kein Auge zu schließen und keinen Fuß aus dem Steigbügel zu nehmen-
Die Soldaten thaten, wie ihnen befohlen worden. Gegen Mitternacht wollte ein Wagen unbemerkt vorbeirollen, doch erblickten sie ihn noch rechtzeitig und hielten ihn an. Der Kutscher, der die Ochsen lenkte, entfloh und ließ sein Fuhrwerk im Stiche.
Auf dem Wagen lag ein Faß. Und was dieses Faß enthielt, konnte man erfahren, ohne daß man den Fuß aus dem Steigbügel nahm, oder die Augen schloß.
denn man brauchte blos den Zapfen zu entfemen, um den angenehmsten Spiritusduft emporsteigen zu lassen.
Es mochte in der That trefflicher- Sprit sein; aus Feigen und getrockneten Trauben gekocht. Die Giaurs wissen, was gut ist.
Es war den Soldaten nicht verboten worden, daß wenn sie Spiritus konfiszieren, denselben zu trinken. Zudem tranken sie auch gar nicht daraus, sondern steckten blos ein langes Schilfrohr hinein, durch welches sie das süße, belustigende Naß zu. saugen begannen. Und wie kann denn etwas schädlich sein, was man durch ein. langes, dünnes Schilfrohr saugt? Man kann ja das gar nicht Trinken nennen.
Jndeß behauptet der Prophet nicht ohne Grund, daß der Wein ein heimtückisches Getränk sei, in welches der Satan seine Zunge gesteckt habe; denn dieses Getränk beredet den Menschen zu allem Schlechten.
Zuerst beredete es die Soldaten, wozu sie denn auf ihren Pferden, in den harten Sätteln säßen, da doch der Rasen auf der Erde so weich ist? Selbst wenn sie sich ein wenig im Grase ausstrecken würden, so wird das Niemand erfahren; die Pferde könnten sie an den Wagen binden und die Pferde würden das Geheimnis nicht verraten.
Und als sie auf der Erde lagen, klärte sie das höllische Getränk darüber auf, daß doch nicht alle acht Mann zu wachen brauchten, da auch ihrer vier hierzu genügen würden, während die anderen vier sich dem Schlafe, dieser edlen Gottesgabe, Hingaben.
Die vier Mann, denen der Nachtdienst nun allein zufiel, währte es zu lange, bis die Reihe an sie käme und so einigten sie sich dahin, daß sich zwei von ihnen niederlegen und die zwei anderen inzwischen wachen sollten.
Maruf und Seffer hießen die Beiden, die wach bleiben sollten.
„Weißt Du was Maruf?" sprach Seffer zu seinem Gefährten, „zwei Mann