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Die Gerüchte von dem angeblich bevorstehenden Rücktritt des Fürsten Hohenlohe haben sich als irrig erwiesen. Die Güter, welche die Fürstin in Rußland geerbt hat, sind zwar groß, aber so mit Schulden belastet, daß ihretwegen der junge Prinz Hohenlohe sicher nicht Russe werden wird, wie man behauptet hat. — Zahlreiche Kongresse wissenschaftlicher und humanitärer Natur reihten sich aneinander. Auf die Naturforscher' Versammlung in Wiesbaden folgte der internationale Hygieniker-Kongreß in Wien, die internationelle Konferenz des „Roten Kreuzes" in Karlsruhe, der Frauentag in Augsburg, die Armenpfleger in Magdeburg, der Schriftstellertag in Dresden, die Versammlung der Eisenbahn-Verwaltungen in Baden- Baden u. s. w.
Aus Spanien kommt die alarmierende Nachricht, daß die Königin Christine ihre Reise durch die baskischen Provinzen plötzlich abgebrochen habe, weil sich Spuren einer drohenden Haltung der Carlisten zeigten. Auf den Karolinen hat es blutige Händel gegeben, wie es scheint, wegen eines protestantischen Missionärs, für den die Bevölkerung gegen die Regierung Partei nahm.
In Italien, wo die Cholera noch immer Opfer fordert (sie soll durch indische Getreideschiffe eingeschleppt worden sein) hat der Jahrestag der Einnahme Roms zu mutwilligen Streichen in der Nähe der Peterskirche Anlaß gegeben. Die Bewohner des Vatikans wurden durch Petarden-Explo- sionen beunruhigt. — Für die abeffynische Expedition ist nunmehr ein Befehlshaber ernannt.
Rußland sucht allem Anschein nach durch Anleihen in Frankreich oder wo es sonst möglich, die Mittel zu aktiver Politik im Osten zu gewinnen und läßt die bulgarische Frage einstweilen sich Hinschleppen. Während die Pforte über die Entsendung eines Kommissars nach Sofia mit den Mächten verhandelt, läßt sich der Czar seinen Erholungsaufenthalt in Dänemark wohl behagen.
Tcrges-Werrigkeiterr.
* Calw, 29. September. (50 jähriges Jubiläum und Fahnenweihe des Liederkranzes. Schluß.) Auf die Festrede folgte ein von Frl. Eugenie Ziegler schwungvoll vorgetragenes Gedicht und die Uebergabe der neuen Fahne an den Verein. Allgemeine Bewunderung that sich bei dem Anblick derselben kund; reich von Farbe, aber nirgends überladen, ruht das Auge mit Wohlgefallen auf derselben. Zum Andenken an die Jubelfeier hatten die Festdamen dem Verein 2 seidene Bänder zum Schmuck der Fahne gestiftet. Nach der Weihe wurden unter der strammen Direktion-von Musikoirektor Burkhardt in Nürtingen 2 gemeinschaftliche Chöre gesungen: „Was uns eint als deutsche Brüder" und das vom Dirigenten komponierte zum Volkslied gewordene „Im Feld des Morgens früh". Beide Chöre wurden mit Präzision vorgetragen und brachten eine vorzügliche Wirkung hervor. Im Verlaufe des Nachmittags ließen einzelne Vereine verschiedene Chöre erschallen, worüber wir uns jedoch jeder Kritik enthalten; wir wollen keinen Verein besonders vor dem andern loben und wir freuen uns, konstatieren zu können, daß im allgemeinen recht brave Leistungen zu hören waren. Ein heiteres Leben hatte sich unterdessen auf dem Festplatze entwickelt, zu Tausenden zählten die Festteilnehmer, deren Stimmung eine sehr gehobene war, wozu namentlich auch die „Calwer Stadtmusik" beitrug. Gegen Abend suchten die Vereine noch einmal ihre Quartiergeber auf, wo bei Gesang und Geselligkeit vielen nur gar zu rasch die Stunden entschwanden. Unter Liederschall und Hochrufen verließen die Sänger unsere Stadt und wir hoffen, daß sie diesen Tag in lieber Erinnerung behalten werden. Von Abends 6 Uhr an vereinigten sich die noch zurückgebliebenen Vereine von Stuttgart, Nagold und Pforzheim mit dem „Liederkranz" zum Bankett bei Thudium. Hier wurden von dem ersteren verschiedene Chöre in wirklich anziehender Weise vorgetragen; weitere Gesänge übernahm der hiesige Liederkranz; besonders erwähnen wir ein reizendes Solo ves Hrn. Fabrikanten Schrempf von Stuttgart, der einen höchst biegsamen, feinen Tenor besitzt. Reiche Abwechslung boten die heiteren und ernsten Toaste, welche in großer
Anzahl ausgebracht wurden. Hr. Oberlehrer Burkhardt sprach mit Anerkennung von den bisherigen gesanglrchen Leistungen des Lieverkranzes und ermahnte zu weiterem Fleiß und Streben in der schönen Sache des Volksgesangs, er gedachte der schönen Erlebnisse in der vorigen Woche auf dem Sängertag in Koburg und schloß mit einem kräftig wiederhallenden Hoch auf den deutschen Sängerbund. Auf das deutsche Land und Lied toastete in markigen, zündenden Worten Hr. Oberamtsarzt Or. Müller. Am Montag nachmittag machten die Sänger einen Ausflug nach Hirsau und abends schloß ein stark besuchter, in schönster Ordnung verlaufener Ball im Thudium'schen Saale die Festlichkeit. Möge die Feier, die nach übereinstimmenden Berichten durchaus gelungen war, eine gute Vorbedeutung für die fernere Thätigkeit und das weitere Wohlergehen des Vereins sein! Wir rufen ihm deshalb beim Eintritt in das zweite Halbjahrhundert seines Bestehens noch ein herzliches vivat, üoreut, oroseut zu!
Stuttgart, 30. September. Heute früh 4 Uhr wurde der Handelsmann Gottlieb Wiedmann aus Ostelsheim bei Calw in der Nähe der Stiftskirche von einem Manne, mit dem er sich in einen Wortwechsel eingelaffen hatte, in die Halsgegend g e st o ch e n. Der Verwundete mußte in das Katharinenhospital verbracht werden. Der Thäter ist verhaftet.
Cannstatt, 29. Sept. Die kleine Straßenbahn mit dem Daimle r'schen Motor machte gestern in Cannstatt ihre Probefahrten auf der Strecke zwischen Wilhelmsplatz und Kursaal. Die Bahn kann als Eisenbahn in dem vollen Sinne des Wortes, so wie sie hier zur Probe gelegt ist, nicht betrachtet werden. Die Spurweite der vorübergehend eingelegten Geleise beträgt kaum einen halben Meter. Der Wagen besteht aus einer Doppelbank mit gemeinsamer Lehne und trägt etwa 6 Personen. Gestern nachm, traf vom Ministerium des Innern die Erlaubnis zur einstweiligen Benützung der Bahn ein. Es wurden jedoch gestern und heute vorm, nur einige Proben gemacht. Heute nachm, wird Staatsminister des Innern v. Schmid die Bahn besichtigen, dann soll sie dem öffentlichen Verkehr übergeben werden.
Calw.
EanöwirtUckastkiLker Oezirksverein.
Hbftbäume betrr.
Bei herannahend« Herbst-Versatzzeit und bei der immer allgemeiner werdenden Erkenntnis von der Notwendigkeit der Vermehrung unseres Obstbaus erkläre ich mich wieder gerne bereit, die Anschaffung von Obstbäumen in der bekannten ausgezeichneten Qualität und in den besten Sorten zu billigem Preise durch persönliche Auswahl in der Baumschule zu vermitteln und erbitte mir Bestellungen spätestens bis Samstag, den 15. Oktober.
Den 29. September 1887.
E- Horlacher, Sekretär.
Kgt. Standesamt ßakw.
Bom 23. bis 29. September 1887.
Geboren:
23. September. Marie Pauline, Tochter des Karl BLtzners, WcingSrtners Ehefrau.
26. „ Maria, Tochter des Bahnwärters Jakob Hennefarth.
Gestorben:
24. September. Marie Graf, 1'/« Jahre alt, Tochter des PiuS Graf, Schlossers.
Gottesdienste am Sonntag, den 2. Oktober 1887.
Vom Turme: Nro. 329. Vorm. Pred.: Hr. Stadtvikar Vogt. (Das Opfer ist für den Bau der evangel. Kirche in Böckingen, OA. Heilbronn, bestimmt.) Christenlehre mit den Söhnen in der Kirche. Missionsstunde nachm. 2 Uhr im Vereinshaus, Hr. Helfer Braun.
Freitag, 7. Oktober.
Bußtagspredigt um 10 Uhr im Vereinshaus, Hr. Stadtvikar Vogt.
Eotteräieafle ia äer Metkoäisteakapekke am Sonntag, den 2. Okt. 1887.
Morgens 9 Uhr, abends 8 Uhr.
ihrer Zeit gewesen sein, die neben ihr, die sich durch Wohlthaten und häusliches Leben auszeichnete, hieß im Munde des Volkes die „gute schöne Marquise."
Ohne ein Wort ging er dann an einem entzückend schönen, blonden Frauenkopf vorüber. Das goldene Haar umwogte ein rosiges Antlitz, aus dem ein paar dunkle Augen feuersprühend hervorleuchtcten. Eine reiche Schnur von Saphieren schmückte den blendend weißen Hals. Mit Interesse betrachtete Laura das reizende Bild.
„Wer ist diese, Onkel':" fragte sie.
Er blickte auf. „Ich rede nicht gerne von ihr."
„Warum: Sie ist so wunderschön, ihr Gesicht gefällt mir so gut!"
„O Laura, sage das nicht! Sie ist schön, aber ihr Gesicht hat keinen guten Ausdruck, das mußt Du sehen, Kind. Doch es ist vielleicht besser, wenn ich Dir ihre Geschichte erzähle. Diese Frau, die schöne Gabriele, verließ heimlich ihren Gatten, sie ist die einzige, die es gewagt, unsern reinen Namen zu beflecken. Wir vergeben den Männern manches, vielleicht mit Unrecht, den Frauen dagegen nichts. Die schöne Gabriele ist der Schandfleck unserer Familie und ich habe schon oft bereut, daß ich dies Bild mit hierhergebracht."
„Und warum verließ sie ihren Gatten':" fragte Laura, die während der Erzählung ihres Onkels todenbleich geworden.
„Well sie ihn verraten hatte. Doch reden wir nicht weiter davon, Kind. Dies ist das einzige Verbrechen, das ich einer Frau nie vergessen, nie vergeben würde. Aber was ist Dir, Laura': Du bist bleich, Du zitterst?"
„O, es ist nichts, Onkel", erwiederte sie, sie war bis in die Lippen erblaßt und ihre Knie bebten so, daß sie sich nur init Blühe aufrecht erhalten konnte. Der Marquis war äußerst beunruhigt. Sie mußte sich niedersetzen, und er fragte sie ängstlich, ob sie denn wirklich nicht krank sei.
„Gewiß nicht, Onkel", versetzte sie. Ich glaube es ist der Blumenduft, der
mich angegriffen; doch es geht schon wieder vorüber; erzähle mir nur weiter von den übrigen Damen und Herren, ich höre es so gern."
„Nein Kind, für heute nicht, Du bist müde und angegriffen; es ist Dir ja alles so neu."
Er führte sie in den Salon zurück und zwang sie, sich auf einer Chaiselongue niederzulegen, dann gab er ihr ein Buch und verließ sie.
Laura aber konnte nicht lesen, denn die Gedanken jagten sich in ihrem Kopfe. Was würde der stolze alte Edelmann sagen, wenn er hörte, daß sie das einzige Verbrechen begangen, das er nie vergeben konnte, daß sie ihren Gatten verlassen? Wie schnell würde dann all der Luxus ein Ende nehmen, der sie umgab, mit Schimpf und Schande würde man ihr die Thüre weisen.
Doch Niemand durfte es erfahren. Bald war sie ja in Sicherheit in Frankreich, und wenn sie nach zwei Jahren zurückkehrte, erkannte gewiß Niemand in der glänzenden jungen Erbin die Gärtnersfrau, die ihren Gatten verlassen hatte um des Geldes willen.
Sie fühlte sich krank und elend, so schwach, daß sie sich kaum erheben konnte, und wenn sie versuchte, ein paar Schritte zu gehen, erfaßte sie ein Schwindel.
„Ich werde doch nicht krank werden und sterben", dachte sie, „jetzt, da ich alles erreicht, wonach mein Herz sich sehnte."
Der Anfall ging vorüber, aber er wiederholte sich öfter in der nächsten Zeit, und der Marquis fing an, um die Gesundheit seiner schönen Nichte besorgt zu werden.
Er engagierte eine Zofe für Lady Laura's spezielle Bedingung, ein erfahrenes Mädchen das schon manche vornehme Dame bedient hatte. Ost frappierte es die junge Dame, wie dies Mädchen sie aufmerksam, fast ängstlich beobachtete, doch gab sie nicht weiter därauf Acht, da die Reisevorbereituvgen ihr viel zu thun und zu denken gaben.
Vierzehn Tage später befand sich der Marquis mit seiner Nichte und der nötigen Dienerschaft auf der Reise nach Paris. (Forts, folgt.)