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unserer Staatsstraßen, das aufzuwendende Material und andere ähnliche Punkte hatte sich entspannen, an welcher sich Frhr. v. Varnbüler, Leibbrand und Präsident v. Schütz beteiligten. Es wurde u. a. auch von allen Seiten besonderes Gewicht darauf gelegt, daß bei neuanzulegenden Straßen darauf Rücksicht genommen werde, daß dieselben auch Zufahrtsstraßen zu den Eisenbahnen sind.
Berlin, 1. April. Dem Reichskanzler Fürsten Bismarck wurden anläßlich seines heutigen Geburtfestes im Laufe des Vormitags und Mittags von den Musikkapellen des zweiten Garderegiments „Kaiser Alexander", des Kaiser-Franz-Gardegrenadierregiments und des Potsdamer Gardehusarenregiments Ständchen dargebracht. Die Prinzen Wilhelm, Heinrich Alexander und Georg brachten persönlich ihre Glückwünsche dar. Nachmittags um vier Uhr begab sich der Reichskanzler zum Kaiser, welcher ihm seine Glückwünsche auszusprechen wünschte. Von hier aus wie aus dem Reiche und dem Auslande gingen von früh ab unausgesetzt Glückwunschschreiben, Telegramme und Geburtstagsspenden ein. Die Minister und Staatssekretäre gratulierten persönlich. Mehrere hundert Personen gaben im Palais des Reichskanzlers ihre Karten ab.
— Ein Zeitraum von vollen sieben Jahren ist erforderlich, bevor das neue Reichstagsgebäude seiner Bestimmung übergeben werden kann. In der allernächsten Zeit soll die Fortsetzung der Maurerarbeiten, welche während des Winters geruht haben, beginnen. Mit der Vollendung des Baues tritt für die Reichsregierung die Verpflichtung ein, dem Architekten Wallot eine Bauprämie von 40,000 ^ auszuzahlen, nachdem derselbe bereits eine solche von 20,000 ^ nach Herstellung der Fundamente erhalten hat. Weiter werden ihm nach Vollendung des inneren Ausbaues nochmals 60,000 ausgezahlt werden, so daß die Gelamtsumme der an ihn zu entrichtenden Bauprämie 120,000 betragen wird. Sein Jahresgehalt beträgt außerdem 30,000 -/kL Der Kaiser nimmt an dem Fortgang der Arbeiten ein ganz besonders lebhaftes Interesse und läßt sich oft und gern über die Einzelheiten berichten.
— Wiener Meldungen zufolge wurde in Rußland eine ausgedehnte Militär. Verschwörung entdeckt; mehr als hundert Offiziere wurden verhaftet, darunter Oberstlieutenant Vogel, das angebliche Haupt der Verschwörung.
Berlin, 3. April. Ein sehr bemerkenswerter Artikel der „Nordd. Mg- Ztg." befaßt sich mit den gegen den deutschen Militärbevollmächtigten in Paris erhobenen Anschuldigungen französischer Blätter und führt aus:
„DiesesVerfahren ist im Verkehr der Staaten neu. Man wird keinen ähnlichen Fall anführen können, selbst in Epochen, wo die Spannung zweier Staaten einen Grad erreicht hatte, der zum Kriegsausbruch führte.
Nach der Darlegung des speziellen Falles, in welchem Minister Bou- langer in Besitz des — Konzepts — des Berichts des Hauptmann Schwarzhoff über die Seemanöver von Toulon gelangt war, fährt die „Nordd. Allg. Ztg." wörtlich fort:
Auf welche Weise ist wohl der französische Kriegsminister zur Einsicht in das Konzept des Berichtes des Hauplmanns Schwarzhoff gelangt? Bisher galt es für internationalen Anstand, das Kundschafterwesen nicht bis zu operativen Eingriffen in fremde Schreibtische auszudehnen und wenn dergleichen Mißgriffe vorkamen, sie auf der einen Seite zu verschweigen und auf der andern zu ignorieren. Der französische Kriegsminister hat das erste Beispiel gegeben, einen solchen Griff, dem er die Bekanntschaft mit „Konzepten" einer fremden Botschaft verdankt, zur Grundlage einer offiziösen Note zu machen. Den Anstand des Jgno- rierens hat man auf deutscher Seite trotz dessen beobachtet. Danach hat man doch wohl Grund, die namentliche Anschuldigung gegen den deutschen Militär-Attachc überraschend zu finden. In solchem Falle fragt
man vor Allem nach Beweisen für die Anschuldigung und kann nicht umhin, sich zu erinnern, daß »los agents provocateur s" ein französischer Kunstausdruck und als solcher in die übrigen gebildeten Sprachen übergegangen ist. Der deutsche Militär-Attache ist eine Zeit lang von agents provocateur« überlaufen worden, so daß er denselben mit Inanspruchnahme der Polizei drohen mußt e."
Metz, 1. April. Der Reichstagsabg. Tierarzt Antoine wurde gestern abend im Cafe verhaftet und in Folge eines gegen ihn erlassenen Ausweisungs-Befehls über die Grenze transportiert.
Rußland.
Petersburg, 1. April. Auf eine Anfrage wurde folgende authentische Antwort erteilt: Die Nachricht des „Reuter'schen Bureaus", daß in Gatschina ein Attentat versucht worden sei oder ähnliches frevelhaftes Unternehmen stattgefunden habe, ist falsch und grundlos.
— Trotzdem von verschiedenen Seiten die Meldung über ein neues Attentat auf den Zaren in Gatschina bestritten wird, erhält sich der Glaube an die Thatsächlichkeit der Nachricht in weiten Kreisen. Das Bureau Reuter hat gestern seine Meldung dahin ergänzt, daß das Attentat am 29. März im Park von Gatschina stattgefunden habe. Der Attentäter, ein Offizier, sei arretiert worden. Der Kaiser sei unverletzt geblieben, obgleich der Schuß aus nächster Nähe abgegeben worden war. Man wird von dem genannten Telegraphenbureau, welches der Welt allerdings schon manche Ente bescheert hat, erwarten dürfen, daß es derartige Nachrichten nicht leichtfertig und aus bloßer Sensationslust verbreitet und bekräftigt. Freilich wird sich der Beweis für die Richtigkeit der Meldung schwer führen lassen, weil der Schauplatz nach Gatschina verlegt wurde. Gerade aus dem letzteren Umstande schöpft die öffentliche Meinung aber auch Verdachtsgründe gegen die offiziellen Dementis. Man hat in Petersburg niemals das Recht dieser öffentlichen Meinung auf Wahrheit sonderlich respektiert und die Welt hat sich daran gewöhnt, das System der Verheimlichungen und Vertuschungen als ein organisches Merkmal der russischen Wirtschaft anzusehen. Den Nihilisten traut man es zu, daß sie mit ihren Anschlägen selbst bis in die waffenstarrende Stille von Gatschina eindringen, und den Panslavisten vertraut man nicht, daß sie die Einsicht besitzen, wie sehr ihr wahnwitziges Treiben den nihilistischen Verbrechen den Boden zu ebnen geeignet ist. Ob wahr oder nicht, die Nachricht von dem Attentate in Gatschina lenkt die politische Betrachtung auf keine neue Bahn, sie erhöht aber die mächtige Spannung, mit der Europa auf das Nachtbild starrt, das sich mehr und mehr in dem russischen Reiche entfaltet. Frkf. I.
GcrgöS-Werngksiten.
* Calw, 3. April. Als Eingang und Vorbereitung in die gegen- wärtige Passionszeit haben wir es mit hoher Freude begrüßt, daß der Kirchengesangverein am Palmsonntag verschiedene Teile der „Matthäuspassion" zur Aufführung gebracht hat. Dieses Kunstwerk, komponiert von I. S. Bach, dem größten Orgelkomponisten der Welt, der um mehr als eines Hauptes Länge seine Kollegen vor und nach ihm überragt, steht einzig in seiner Art da. In wunderbar ergreifenden Tönen, durchdrungen von hohem Ernst und hingebungsvoller Liebe führt es das Leiden und Sterben des Weltheilandes dem Christenvolk zu Ohren und Gemüt, predigt es von dem Haupt voll Blut und Wunden und von dem Mann der Schmach und der Schmerzen. Die Musik bringt den Charakter der in der Leidensgeschichte auftretenden Personen und die eintretenven Naturereignisse in vorzüglich natürlicher Weise empfindungsvoll zum Ausdruck. Wir erinnern nur an die ruhigen, göttliche Hoheit atmenden Antworten von Jesu, dessen Reden von milden, gezogenen Tönen umrahmt sind, an das lärmende, stürmischbewegte Judenvolk, dessen Geschrei: „Barabas!" und „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder"
wollte zuerst mit ihm allein verhandeln, Papa war auf dem Wirtschaftshof, Mama besorgte die Haushaltung — Erika war also ungestört.
„Ach, was habe ich für Angst!" sagte sie zu sich. „Wäre ich Hedwig doch lieber nicht gefolgt! Wenn er nun kommt, was soll ich sagen, wofür wird er mich halten?"
„Horch! Da schallte Wagengerasiel; der Wagen hält, es ertönen Schritte — ein Herr tritt ein. — Kein Zweifel mehr; er ist's.
Erika, ihrer Stimme kaum mehr mächtig, kann kaum ihre Hand zu ihm erheben, doch soviel sieht sie, er ist nicht mehr jung, er ist dick und hat ein rotes Gesicht, das nicht gerade so aussieht, wie sie sich geträumt hatte. Unwillkürlich mußte sie an Hedwigs Worte, an den von dieser prophezeiten dicken biertrinkenden Witwer denkend
Der Herr, gar nicht so feurig, wie er nach seinen Briefen hätte sein müssen, begann die Unterhaltung.
„Ich bin hierher bestellt,verzeihen Sie, könnte ich vielleicht Ihren Herm Papa —"
.Nein .bitte, nein mein Herr! Es ist ein Irrtum, ein-o, bitte, reisen
Sie wieder ab —"
„Oho! das wäre!"
„Wenn Sie mich nicht unglücklich machen wollen, wenn Sie in Ihren Briefen die Wahrheit sprachen —"
„Ich spreche immer die Wahrheit — aber mir scheint, Sie haben inzwischen ein höheres Angebot erhallen."
„Ist das ein roher Mensch", dachte Erika.
„So ohne Weiteres", fuhr der Dicke fort, „gehe ich aber nicht, da muß ich doch erst den Grund wissen."
„Ich habe mich in Ihnen getäuscht, ich habe mich auch in mir getäuscht, mein Herz —"
„Was geht mich ihr Herz an?" sagte in ungehobeltem Tone der Dicke. „Ich komme als Geschäftsmann, ich bin hierher bestellt und will die Reise nicht umsonst gemacht haben."
„Es sind Ihnen aber doch keine bestimmten Versprechungen gemacht worden. Es war mehr ein Scherz —"
„Dann war es ein sehr schlechter Scherz, daß man mich hierher bestellte. Wo ist denn Ihr Herr Vater?"
Das letzte sprach der dicke „biertrinkende Witwer" mit etwas mehr als schicklicher erhobener Stimme, und dadurch mochte wohl Papa veranlaßt worden sein, einzutreten.
„Papa", flog Erika ihm entgegen, „Papa, der Schneider! Aber —"
„So? — Nun der sieht auch nicht aus wie ein Ritter von der Nadel." Dann wandte er sich an den Fremden: „Haben Sie schon das Nötige gesehen? Nicht wahr, feiner Stoff?"
„Feiner Stoff wäre mir schon recht, wenn ich ihn nur hätte", war die Antwort.
„Nun Erika, geh', hole den Stoff."
„Papa!" — sagte zögernd die Aermste
„Ach so Du meinst: erst das Geschäft —"
„Geschäft, ganz recht, deshalb bin ich hier", sagte der Dicke; „aber das Fräulein wollte mich abweisen."
„Daß ihr der dicke Mensch kein Vertrauen einflößt, ist schließlich natürlich", dachte Mestelbach im Stillen. Da aber der Schneider keine Anstalten machte, Maß zu nehmen und Erika sonderbar schüchtern abseits stand, rief er aus: „Nun, nun, da er einmal da ist, so laß' ihn auch gewähren, er wird sich ja Mühe geben."
„Mühe geben? Habe ich gar nicht nötig! Wir gehen in den Stall und ein
Blick genügt —" ,
„In den Stall?" fragte Papa, was soll denn das wieder heißen?
„Oder haben Sie Ihr Vieh etwa im Salon?" sagte ungeduldig der Dicke.
„Vieh! — Was wollen Sie mit dem Vieh?" —
^Kaufen will ich es zum Henker — das heißt, wenn es mir gefällt, denn im Sack kaufe ich die Katze nicht."
(Fortsetzung folgt.)
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