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Fürst Bismarck. Entwickelt einen Steuerreformplan! heißt es. Wir antworten mit der Befürwortung einer höheren Branntweinsteuer zur Entlastung der unbemittelten Volksklaffen und zur Durchführung der sozialen Aufgaben. Wer anders gefährdet die liberalen Errungenschaften, als diejenigen, denen wir diese beklagenswerte Entscheidung des Reichstages verdanken. Der Redner schließt mit einem tiefergreifenden Appell an die deutsche Jugend, die deutschen Väter, die deutschen Soldaten von 1870, damit durch die laute Stimme der Vaterlandsliebe Palast und Hütte erreicht werde. Des Kaisers Herz ist traurig, macht es wieder froh! Ein edles Volk muß dankbar sein können. (Stürmischer Beifall.) Die Losung muß heißen: Für Kaiser und Reich, für Volk und Vaterland. So muß ein Jeder von uns ans Werk gehen und das Werk wird gelingen. (Minutenlanger stürmischer Beifall.) Dep. d. Fr. Journ.
Berlin, 27. Jan. Es fällt auf, so wird von hier geschrieben, daß der Reichskanzler Fürst Bismarck jetzt mit dem Kaiser sehr häufig, beinahe täglich, Konferenzen hat. Die einen glauben, daß dieselben durch die auswärtige Politik, dis andern, daß sie durch die Situation im Innern und die Proklamation veranlaßt seien, die seitens des Kaisers bevorstehen soll. Fürst Bismarck ist heute auch vom Kronprinzen empfangen worden, und zwar, wie der Hofbericht sich ausdrückt, zum Vortrage.
K ' lsruhe, 27. Jan. Netzer das Befinden des Erbgroß - Herzogs von Baden sind aus Cannes befriedigende Mitteilungen eingetroffen. Die Karlsr. Ztg. berichtet darüber: Die allgemeine Kräftigung ist in erfreulichster Weise fortgeschritten und gibt sich in dem frischen Aussehen kund, das viele Personen erfreut, welche den Erbgroßherzog in den letzten vier Wochen zu sehen Gelegenheit hatten. Dem entsprechend ist auch eine nicht unerhebliche Körpergewichts-Zunahme eingetretsn.
— Aus München wird der „Köln. Ztg." telegraphiert: Der Papst hat den hiesigen „Neuesten Nachrichten" zufolge nicht direkt, sondern indirekt, durch eine dritte Person, welche er brieflich damit beauftragt hatte, das Zentrum in sehr dringender, nicht mißzuverfiehender Form zum Eintreten für das Septennat ausfordern lassen. Bereits am 3. d. M. ist — sei es dem Abg. Windthorst allein, sei es mehreren Zentrumsmitgliedern, was ich nicht genau weiß — von dem Inhalte des päpstlichen Schreibens Mitteilung gemacht worden. Man darf mit Recht gespannt sein, wie der Abg. Windthorst es versuchen wird, jetzt seine Ableugnung im preuß. Abgeordnetenhause zu rechtfertigen. Des weiteren erfahre ich aus bayerischen Zentrumskreisen, daß viele Zentrumsabgeordnete, namentlich bayerische, ihre starke Mißbilligung darüber geäußert haben, daß Windthorst ihnen, entgegen dem Sinn des päpstlichen Schreibens, dessen Dasein und Inhalt vörenthalten habe. Die von den hiesigen Zentrumsblättern andauernd fortgesetzte Ableugnung jedes auf das Septennat bezüglichen Schrittes des Papstes beruht auf Unkenntnis.
— Aus Berlin telegraphiert man der „Köln. Ztg.": Da schon in allernächster Zeit alle Regimenter mit dem neuen Repetiergewehr ausgerüstet sein werden, so sollen jetzt auch die Reserven zu einer Schießübung mit diesen Gewehren eingezogen werden. Wie zuverlässig mitgeteilt wird, hat der Kaiser einigen höhere Offizieren bei der gestrigen Hofkour mitgeteilt, daß diese Schießübungen alsbald stattfinden und daß dazu 71,000 Mann aus der Reserve eingezogen werden sollen. Es bedarf keines Hinweises, daß diese Maßregel nicht mit den Kriegsgerichten zusammenhängt, es geschieht vielmehr nur das, was stets geschehen ist, sobald ein neues Gewehrsystem zur Einführung gelangte."
Potsdam, 29. Jan. Die Frau Prinzessin Wilhelm wurde heute nacht 1 Uhr von einem Prinzen entbunden. Das hohe Paar hat nunmehr 4 Söhne; Wilhelm, geb. 1882, Friedrich, geb. 1883, Adalbert, geb. 1884, und den neugeborenen Prinzen.
Gages-Werrigkeilen.
Calw, 31. Jan. Häufig hört man Klage darüber, daß Geschäftsleute und andere Personen ihre Forderungen, welche sie an Arbeiter und dergleichen Leute haben, hauptsächlich in den Wintermonaten durch Schuld- klagen beizutreiben suchen. Einiges Nachdenken muß die Ueberzeugung bei- bringen, daß diese Zeit wo die Arbeiter wenig und oft garnichts verdienen, wo Kleidung, Holz, manchfach auch Krankheit die wenigen Mittel besonders in Anspruch nehmen, zu Beitreibung von Forderungen bei armen oder wenig bemittelten Personen die ungeeignetste ist. Schuldklagen in dieser Zeit erhoben, führen häufig dazu, daß die Beitreibungskosten unnötig ausgegeben und die in Bedrängnis befindlichen Schuldner in Versuchung geführt werden, Forderungen abzuläugnen oder auf sonstige Weise sich ihrer Verpflichtung zu entziehen. In den Sommer- und Herbstmonaten vollzieht sich die Beitreibung von Forderungen an derartige Personen mit viel weniger Härte, überhaupt in jeder Beziehung leichter, jeder ehrliche und anständige Arbeiter bezahlt gerne, wenn er besseren Verdienst hat. 8.
* Calw, 31. Dez. Eine zahlreiche Wählerversammlung, wohl über 300 Personen, hatte sich gestern auf eine im „Enzthäler" erschienene Einladung im Gasthaus zur alten Linde in Wildbad eingefunden. Die Räumlichkeiten reichten schließlich nicht mehr aus und mancher mußte wegen Mangel an Platz den Saal wieder verlassen. Zu dieser Versammlung hatte unser Reichs- und Landtagsabgeordneter, Herr Kommerzienrat Staelin sein Erscheinen zugesagt und war denn auch um 3 Uhr nachmittags in Begleitung mehrerer Herrn von Calw eingetroffen. Herr Stadtschultheiß Bätzner von Wildbad hieß denselben, wie auch die anderen Herren herzlich willkommen und erklärte die Versammlung für eröffnet, worauf Herr Staelin sich in 3/Mndiger Rede zunächst über die Motive verbreitete, welche zur Auflösung des Reichstages Veranlassung gegeben hatten. Zum Schluffe ermahnte er die Anwesenden, wem sie auch ihre Stimme geben wollten, stets festzuhalten an Kaiser und Reich. Die von warmer Vaterlandsliebe getragenen Worte gipfelten in einem Hoch auf unfern Kaiser und seine ihm zur Seite stehenden Berater, unter stürmischem anhaltendem Beifall. Hieraus sprach Hr. Geh. Hofrat v. Renz in kurzen ergreifenden Sätzen über die gegenwärtige Lage und empfahl die Wiederwahl unseres seitherigen Abgeordneten, indem er ein Hoch auf denselben ausbrachte, das mit gleichem Beifall ausgenommen wurde. Es sprachen noch Hr. Stadtschultheiß Bätzner von Wildbad und Hr. Rektor Waizsäcker von hier, welcher in zündenden Worten unfern Reichskanzler verherrlichte und einen von donnerndem Applaus begleiteten Toast auf denselben ausbrachte. Ein von Hrn. Kollaborator Bäuch le in gebundener Rede auf das deutsche Vaterland ausgebrachtes Hoch fand ebenfalls stürmischen Beifall. Nachdem die Calwer noch eine Stunde mit den gastfreundlichen Wildbader Herren im K. Badhotel verweilt, verließen dieselben nach 8 Uhr in ihren Schlitten die Stadt, wiederum fest überzeugt von der Gesinnungstüchtigkeit der Enzthäler.
Stuttgart, 27. Jan. (Landgericht.) Der 25jährige Maurer Wilhelm Krämer von Kemnath, der Sohn einer armen Witwe, glaubte seiner kärglichen Herkunft ein besseres Relief geben zu sollen, indem er sich im Handumdrehen zu einem vermöglichen Bauern zu verwandeln beschloß. Der schöne Traum von vermöglichen Eltern, die ihrem einzigen Sprößling und Erben ganze Ställe voll Kühe und Pferde und einige Hundert Morgen Landes hinterließen, hatte zwar früher schon mit einigen Monaten hinter Schloß und Riegel geendigt, trotzdem glaubte Krämer den Versuch noch einmal machen zu sollen. Am 9. Dezember kam er zu Löwenwirt Hartmann in Hedelfingen, dem er als der reiche Bauer Haimsch von Kemnath einen Wagen Stroh mit 40 Ztr., ä 1.50, lieferbar 14 Tage später, verkaufte. Der Löwenwirt ließ Krämer einen Vertrag auf stät und fest unterzeichnen im Glauben, Haimsch vor sich zu haben, und gab ihm 3 Aufgeld. Auf Wunsch Krämers ging Hartmann mit nach Obertürkheim, woselbst jener bei
den auf Elisabeths Augen die letzten Monate gleichsam eingegraben hatten, jene weh- I mutige Ruhe lag auch in den Linien des kleinen, kalten Gesichtchens, über das seine I Hand liebkosend und zum ewigen Abschied dahinglitt.
War nicht dieses schuldlose Wesen das Opfer der letzten Unglückszeit? — Sprach nicht die laute Anklage der stummen, geschlossenen Lippen auch gegen ihn?
Und es war ihm, als höre er Elisabeth's bange Frage: Julius, bist Du selbst ganz rein, daß Du so grausam zu richten wagst?
Epilog.
Drei Jahre später.
Wieder brauste der Novembersturm und schüttelte von den Bäumen die letzten welken Blätter. An dem Fenster eines vornehm aussehenden Hauses Unter den Linden in Berlin stand ein junges Mädchen, dessen Madonnenantlitz wir kennen und das während der inzwischen verflossenen Zeit von seinem Liebreiz nicht nur nichts verloren, sondern neue, ideale Schönheit gewonnen zu haben schien. Vielleicht lag auf der hohen Stirn jetzt ein Schatten größeren Ernstes, vielleicht war die Knospe ganz zur Blüte entfaltet, aber diese notwendige Folge der verlebten Jahre hatte doch Anna's kindlich-offenem Blick, aus ihrem gewinnenden Lächeln Nichts zu stehlen vermocht — sie waren trotz aller Schwere der Verhältnisse auch heute noch dieselben geblieben.
So oft ein Wagen vorüberfuhr, sah das junge Mädchen hinab auf die Straße, und wenn die schnell entstandene Hoffnung zur Täuschung geworden war, ungeduldig auf die Uhr im Gürtel.
Noch viel zu früh! Noch viel zu früh! — Erst in einer Stunde kann er hier sein!
Und Anna seufze. Dieser Vormittag war endlos!
Den Kopf in die Hand gestützt, ließ sie sinnend die Bilder der Vergangenheit langsam an ihr vorüberziehen. Sie und Julius hatten einander nach jenem plötzlichen, beinahe herben Abschied in der Schützenstraße nicht wiedergesehen. Es vergingen Wochen, ehe überhaupt irgend ein Lebenszeichen zu ihr nach Berlin gelangte, einsame traurige Wochen, in denen oft die Bürde bis zur Unerträglichkeit zu drücken schien. Dann kam Elisabeth's erster, demütig bittender Brief und im Angesichte dieses unsäglich größeren Unglückes hatte sich Anna wiedergefunden.
Sie wurde die Freundin und Trösterin der Einsamen; sie, die Beraubte, w«x es, die der Verbrecherin aus der Fülle ihres sanften, liebevollen Herzens nicht nur verzieh, sondern die der irrenden Seele zeigte, wo auch die Verlassensten immer eine Heimat, eine Zuflucht finden.
Sie verschwiegen sich Nichts, die beiden räumlich so weit getrennten Frauen; sie hatten einander liebgewonnen, als der Tod das innige Freundschaftsband zerriß, und nun wieder in dem Leben des jungen Mädchens eine Lücke entstand. Julius hatte alle Briefe gelesen, aber erst nach Monaten entschloß er sich, der Vertrauten seiner Heimgegangenen Frau selbst zu schreiben.
Es war am Beerdigungstage der geliebten Mutter, als ihm das Herz zu schwer wurde und er sie bat, die Freundschaft, welche früher Elisabeth's Eigentum gewesen, jetzt auch auf ihn zu übertragen — nur die Freundschaft, weiter Nichts.
„Mama ist tot", sagte er am Schluffe seines Briefes. „Sie starb ruhig und. freundlich, wie sie gelebt, bereit, das müde Haupt zur Ruhe zu legen, nachdem ihr die arme Elisabet vorangegangen war und es nun Niemand mehr gab, der ihrer bedurfte, für den sie sorgen und den sie beschützen konnte. Ihre letzten Worte enthielten für Sie, liebe Anna, einen herzlichen Gruß!"
Er hatte ihr alles erzählt, was zwischen ihm und Elisabeth in der Todesstunde gesprochen worden war, und daß er wie seinen teuersten Schatz die Briefe von ihrer Hand mit sich hinausnehmen werde in die ungewisse Zukunft; er hatte sie gebeten, mit ihm fortdauernd korrespondieren zu wollen, und hatte ihr nicht verschwiegen, daß er Deutschland zu verlassen gedenke.
Dann kam nach diesem ersten Brief ein zweiter, ein Abschied für längere Zeit. Julius begleitete eine wissenschaftliche Expeditton auf ihrer Tour um den Erdball, und mehr als je war das Wiedersehen in unbestimmte Ferne entrückt, mehr als je fühlte die Einsame den ganzen Schmerz des Alleinseins. Heute noch erinnerte sie sich voll innerlichen Grauens jener Tage.
(Schluß folgt.)