terisierende Betrachtung voraus, worin cs heißt: Nicht mehr der Ehrgeiz der Fürsten, sondern die Stimmungen der Völker, das Unbehagen über die inneren Zustände und das Parteitreiben gefährden den Frieden. Die großen Kämpfe der Neuzeit seien gegen den Wunsch und den Willen der Regierenden entbrannt.
Berlin, 21. Aug. Die „Voss. Ztg." erfährt aus Wien: Das russische Ministerium wies sämtliche russischen Eisenbahnstationen telegraphisch an, die Uebernahme von Roggen zur Beförderung über die Grenze einzustellen.
Berlin, 22. Aug. Der Kaiser und die Kaiserin sind heute früh Uhr von Kiel hier eingetroffen, von einer großen Volksmenge enthusiastisch begrüßt. Der Kaiser und die Kaiserin stiegen alsbald zu Pferde und begaben sich nach dem Tempelhofer Felde zur Abhaltung der Parade des Gardekorps.
In Bezug auf die Notstandsfrage ist ein Drahtbericht von Interesse, den die „N. Allg. Ztg." von einem Kaufmann an der deutschen Ostgrenze erhalten hat: In Ostpreußen ist die Roggenernte vollständig, die Gersten- und Weizenernte halb geborgen. Die russische Roggenausfuhr ist kolossal. Unsere Grenzstationen sind mit angesammelten Roggenwaggons überfüllt. Bis zum 27. August werden aus Eydtkuhnen allein sicher 1600 Waggon passieren. Die Roggenpreise sanken in Kowno von 135 auf 95—100 Kopeken pro Pud. Ein Warschauer Telegramm besagt, in sämtlichen Gouvernements Polens würden umfangreiche Roggenkäufe zum sofortigen Versandt nach Preußen vorgenommen. Das bis zum 27. August zur Verladung gelangende Quantum berechnet sich auf mindestens 30 000 Tonnen. In hiesigen kaufmännischen Kreisen herrscht die Ueberzeugung, daß die Aufhebung des Ausfuhrverbots binnen drei Monaten erfolge. In Polen ist die Ernte gut.
Die „Allg. Ztg." teilt zur Entlassung Bismarcks mit, daß, nachdem Fürst Bismarck es abgelehnt hatte, zu einem Vortrag über das von ihm einzureichende Abschiedsgesuch am 17. März nachmittags im kgl. Schlosse zu erscheinen, ihm gegen Abend durch den vom Kaiser entsendeten General v. Hahnke persönlich eröffnet wurde, daß Se. Mas. die Einreichung des Abschiedsgesuchs erwarte. Fürst Bismarck entgegnete, daß er nicht glaube, die Verantwortlichkeit für die Einreichung eines Abschiedsgesuchs im gegenmärtigen Augenblicke übernehmen zu können, im übrigen stehe es ja Sr. Majestät frei, ihm den Abschied zu jeder Minute auch ohne Gesuch zu erteilen. Am folgenden Morgen erschien der Chef des Zivilkabinets, 3Virkl. Geh. Rat v. Lucanus, mit dem gleichen Aufträge, daß der Kaiser der Einsendung des Abschiedsgesuches im Laufe des Tages entgegensehe. Fürst Bismarck erwiderte, daß er dazu Zeit brauche, könne diese nicht abgewartet werden, so möge man ihm den Abschied ohne Gesuch geben. Am Abend des 18. März erfolgte dann die Einsendung des ausführlich motivierten Abschiedsgesuchs.
Die Sozialdemokratie kündigte nach dem Erlöschen des Sozialistengesetzes prahlerisch genug an, daß sie sich jetzt zu dem Feldzug in den kleineren Städten und auf dem platten Lande rüsten werde und bald würden auch die ländlichen Arbeiter begeisterte Anhänger der Sozialdemokratie sein. Jetzt, nachdem die Sozialdemokratie in diesem Feldzuge aus dem platten Lande vielfache Niederlagen erlitten hat, beklagt sie sich über die schlechte Behandlung, die ihr auf dem platten Lande zu teil geworden sei. Sie, welche an Verhetzung und Verrohung der Volksmassen das massenmögllchste leistet, welche jedes ideale Streben im menschlichen Geiste erstickt und ihre ganze Philosophie auf die Politik des Magens gründet, sie wundert sich ganz ungemein, daß es noch Leute auch unter den „Arbeitern" gibt, welche den sozialistischen Aposteln nicht glauben und ihnen mit echt bäuerlicher Grobheit entgegentreten. Ja, das Wunder geschieht, die Sozialdemokratie ruft nach dem Staatsanwalt, weil einige ihrer Genossen von den Landleuten durchgeprügelt wurden.
Deutsche Lehrer, welche bisher in den russischen Ostseeprovinzen beschäftigt waren, sind müssen- Haft zur Rückkehr nach Deutschland bewogen worden, weil man von ihnen die fertige Kenntnis in der russischen Sprache und Erteilung des Unterrichts in derselben verlangt hat.
Aus der Feder eines Mitglieds des preuß. Herrenhauses veröffentlicht das „Berl. Tagbl." einen ! Artikel mit der Ueberschrift: „Ist eine Abrüstung heut denkbar?" Diese Frage wird verneint, dann aber ausgeführt, daß eine Abrüstung wohl in Zukunft denkbar wäre, wenn Frankreich, was einzig seinen wahren Interessen entspräche, sich gleich England dem Dreibund anschlösse: dann stände Rußland end- giltig mit seinen panslavist'schcn Theorien isoliert in Europa da und es wäre der Augenblick gekommen, wo der Westen dem Osten die Gesetze diktieren und auch bezüglich der Abrüstung seinen Willen aufzwingen könnte.
Kommißbrot aus Weizen. In der Kreuzztg. lesen wir folgendes Eingesandt: Das Kriegsministerium beabsichtigt, bei den hohen Roggenpreisen die Ernährung unserer Armee mit Weizen- und teils Roggenbrot zu versuchen. Ob ein solcher Brotstoff auf die Dauer munden wird, ist die Frage; eine Ersparnis wird nicht stattfinden, zumal Weizenbrot alle drei Tage gebacken werden müßte. Brot aus einer Mischung von */s Roggen- und */2 Hafermehl ist wohlschmeckender und vor allem bedeutend nahrhafter, ferner wesentlich billiger; erstens ist Hafer billiger, zweitens braucht ein solches Brot nur alle zehn Tage gebacken werden. Ich habe schon öfter meine Leute mit solchem Brot ernährt; sie haben diese Mischung der Weizenmischung vorgezogen und haben sich sehr wohl befunden bei dieser viel billigeren Ernährung. Was ist nicht für ein bedeutender Unterschied im Hafer- und Weizenpreis? Und wir Norddeutschen sind, zumal der Arbeiterstand, an eine kräftige Nahrung gewöhnt."
Kaiser Friedrichs Leibpferd. Aus einer Mitteilung des „Berl. Fremd.-Bl." ist zu ersehen, daß der englische Fuchs „Wörth", den Kaiser Friedrich als Kronprinz in der Schlacht bei Wörth geritten hatte, am zweiten Weihnachtsfeiertage 1889 an Altersschwäche im Stalle verendet ist. Er wurde von der Feuerwehr im Hauptgange auf dem Spielplätze hinter dem Prinzessinenpalais in Berlin bestattet. Während seiner Krankheit ließ sich Kaiser Friedrich das treue Tier noch öfter vorführen, und es folgte bei der Beisetzung dem Sarge des Monarchen.
Nach einer Petersburger Meldung wird es in dortigen Hofkreisen als feststehend bezeichnet, daß das russische Kaiserpaar aus Dänemark, wohin dasselbe sich demnächst begeben wird, die Rückreise nach Rußland zur See machen werde. Dem Anscheine nach soll damit angekündigt werden, daß weder der russische Kaiser nach Berlin — was man auch nicht erwartet hat — noch die Kaiserin nach Paris kommen werde.
Des Zaren Freundschaft genügt den Franzosen nun doch noch nicht für einen Rcvanchekrieg gegen Deutschland. Es soll nun auch Spanien gewonnen werden. Deutschland kann auch das aushalten.
Besterreich-Angarn.
Während der böhmischen Ausstellung in Prag haben bekanntlich unendlich viele deutschfeindliche Kundgebungen stattgefunden. Das hat den Pariser Journalen natürlich ausnehmend gefallen, und sie empfehlen die Gründung eines eigenen Czechenreiches, welches auch mit auf Deutschland loshauen soll. Je mehr Feind, je mehr Ehr.
Frankreich.
Paris, 19. Aug. Nunmehr gestehen sogar französische Militärzeitschristen zu, daß das so sehr berühmte Lebelgewehr wegen seines veralteten Schaftmagazins nicht mehr auf der Höhe der Zeit stehe. Es wird zugegeben, daß die Einführung dieses Gewehrs eine Uebereilung war und nur politischen Gründen gedient hätte und daß der Verschluß desselben in keiner Weise mehr entsprechen würde und derselbe deshalb entschieden baldigst umgeändert werden müsse. Wenn das Gewehr trotzdem als gut bezeichnet werden muß, so habe es dies nur seiner Laufkonstruktion und seinem kleinen Kaliber zu verdanken. Als bestes jetziges Gewehr wird das deutsche angesehen, welches den besten Verschluß in Verbindung mit Rahmenfüllung eingeführt habe.
Paris, 21. Aug. Jules Ferrys Estafette nimmt offen Stellung gegen die berichtigten Agenturen, die ununterbrochen die hiesige Presse mit liegenhaften wahnwitzigen Berichten über die Vorgänge in Deutschland und die Gesundheit des deutschen Kaisers überschwemmen. Die Estafette, die übrigens mit diesem
Urteil allein steht, erklärt ein solches Verfahren als eine Schande für die französische Presse.
Es wird darauf hingewiesen, daß das französische Strafgesetzbuch auf die öffentliche Beleidigung fremder Staatsoberhäupter Gefängnis von drei Monaten bis zu einem Jahre oder Geldstrafe von 100 Frk. bis 3000 Frk. setzt. Trotzdem in letzter Zeit die Pariser Journale von Beleidigungen gegen den deutschen Kaiser wimmeltn, hat es doch kein Staatsanwalt riskiert, einen Strafantrag zu stellen.
Lille, 20. Aug. Die Kohlenbergwerke von Bruny wurden überschwemmt. 1500 Arbeiter sind arbeitslos.
Monarchistisches in der Republik. Nicht ohne eine gewisse Ironie schreibt der Pariser Be- richterstatter der „Times": „Letzte Samstag Nacht schliefen auf französischem Boden: ein Kaiser (Dom Pedro), drei Könige (einer von Griechenland und zwei von Serbien), eine Königin (Jfabella von Spanien), zwei Thronfolger (Prinz von Wales und Taib Bey von Tunis), ein Bruder des Zaren (Großfürst Alexis) und eine Gemahlin eines Thronfolgers (Gräfin non Flandern). Fünf von den neun waren in Paris. Die Republikaner sind in Ekstase."
Belgien.
Der internationale Arbeiterkongreß, der am gestrigen Sonntag in Brüssels eröffnet worden ist, dauert volle acht Tage. In der Jndo- pendance belge wird hervorgchoben, daß der haupt- fächliche Zweck des internationalen Arbeiterkongresses die „koäsration internationale", der internationale Bnnd der Sozialisten aller Länder ist, während die übrigen auf dem Programm befindlichen Punkte: achtstündiger Arbeitstag, Judenfrage, Militarismus und Parlamentarismus u. s. w., hinter der Hauptfrage an Wichtigkeit znrückstehen müssen. Gerade wie die internationale Maifeier in den beiden letzten Jahren vor allem die allgemeine Mobilisierung der sozialistischen Streitkrüfte bezweckt habe, stellen die internationalen Arbeiterkongresse nach der Auffassung Jndopendance belge gewissermaßen die sozialistischen Kriegsräte dar, wie sehr auch die Organisationen dieser Kongresse sich gegen jede kriegerische Anwandlung verwahren mögen, indem sie behaupten, daß sie lediglich die „Ideen des Friedens, des Fortschrittes und der Emanzipation" unterstützen. Wie sehr die koäsration intornationals aus dem Kongresse die Hauptsache darstellt, erhellt auch daraus, daß im Artikel 10 des Programmes die „ernsthafte und praktische Organisation" dieses Bundes im einzelnen festgesetzt wird. Neben einer internationalen Arbeiterkorrespondenz und Statistik soll das Einvernehmen aller Arbeiter der verschiedenen Metiers durch die Begründung eines Syndikats für jede Nation, sowie eines internationalen Syndikars gefördert werden. Demselben Zweck soll ein internationaler, sozialisti- cher Kalender und Almanach dienen, der in alle Sprachen übersetzt wird und jährlich erscheint. Zugleich wird für alle Länder beraten werden, welche Propaganda und Agitation für den Sozialismus am. angemessensten erscheint. Der Brüsseler internationale Kongreß erhält dadurch noch eine besondere Bedeutung, daß auf ihm die Delegierten aller Richtungen erscheinen. Wir verweisen im übrigen auf den Bericht über die Eröffnung des Kongresses.
Brüssel, 18. Aug. Auf dem internationalen Sozialistenkongres hielt Bebel eine Brandrede. Die Wunde im sozialen Körper müsse weiter klaffen und das Schutzgesetz nur als ein Mittel für die Arbeiter im Kampf für die Ausrottung der Bourgeoisie betrachtet werden. Der Kongreß erhob Einspruch dagegen. In den Abteilungen wurde beschlossen, die Judenrage von der Tagesordnung abzusetzen. Die Deutschen werden sich gegen den Antisemitismus erklären, unter Hinweis auf Singers Anwesenheit am Burcautisch, welche der bestte Beweis keiner Feindschaft gegen die Juden sei. Die deutsche Abteilung besprach den Militarismus. Liebknecht will Anträge stellen. Die An- ichten gehen dahin, unter den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen seien die stehenden Heere beizubehalten, eventuell auch das Vaterland zu verteidigen, man müsse die Umgestaltung der Gesellschaft erhoffen, welche den allgemeinen bewaffneten Frieden bringen werde. Im Einverständnis mit den Franzosen wird die sogenannte elsaß-lothringische Frage nicht besprochen.
Brüssel, 19. Aug. Der Sozialisten-Kongreß sprach sich einstimmig für das Prinzip des Klassenkampfes aus, weil, so lange eine Trennung der