Der Kaiser hat die Wahl des Professors Bernstein, welcher der jüdischen Religion angehört, zum Rektor der Universität Halle bestätigt.
Deutscher Reichstag. Freitagssitzung. Die zweite Beratung des Gesetzentwurfs betr. die Einführung von gewerblichen Schiedsgerichten wurde mit dem Absatz 3 des Z 12 und Z 72 fortgesetzt, die von Innungen handeln. Es wird dadurch bestimmt, daß durch Jnnungsschiedsgerichte die Zuständigkeit der Gewcrbegerichte ausgeschlossen wird. Abgg. Auer sSoz.s und Eberty ssreis.f beantragen die Beseitigung der Jnnungsschiedsgerichte. Abgg. Eberty, Meyer sfreis.s, von Cuny siiatlib.1 schließen sich dem an. Abgg. Bichl sCtr.j, von Kleist-Retzow skons.s, Böckel sAntisemits sprechen für d! Innungen. Geh.-Rat Lohmann und Abg. Miguel snatlib. halten es für das Beste, wenn den Innungen die Entscheidung der Gesellenstreitigkeiten entzogen und auf die Gewerbegerichte übertragen würde. Die Lehrliugsstreitigkeitcn könnten den Innungen bleiben. Abg. Bebel sSoz.^s erklärt eine Behauptung des Abg. Böckel, die Sozialdemokraten bekämen von den Juden die Mittel zu ihrer Agitation, für eine Lüge und wird deshalb vom Präsidenten zur Ordnung gerufen. Darauf kommt es zur Abstimmung. Zu H 12 wird der Antrag Auer, daß den Arbeiterinnen das aktive Wahlrecht für die Gewcrbegerichte gewährt werden soll, abgelehnt und der tz 12 mit einer vom Abg. Porsch fCtr.ss beantragten sachlichen Aenderung angenommen. Zu Z 72 werden alle Anträge, welche die Zuständigkeit der Jnnungsschiedsgerichte beschränken sollen, abgclchnt, worauf das Haus sich vertagt.
Deutscher Reichstag. Die Sounabendsitzung war nur kurz, weil für nachmittags das Präsidium und eine größere Anzahl von Abgeordnete» vom Kaiser zu einem Gartenfest nach der Pfaueninsel geladen waren. In der Fortsetzung der zweiten Beratung des Gewcrbegerichtsgcsetzes kam es zu einer längeren Debatte über den Z 48. Derselbe enthält nach den Kommissionsbeschlüssen die Bestimmung, daß den vom Gewerbegerichten vorzunehmenden Sühneversuchen die Beisitzer nicht beiwohnen sollen. Diese Fassung erfährt fast allgemeinen Widerspruch. Abgg. Stadthagen fSoz.ss, Dr. Hammacher, Dr. Miguel snatlib.s, Eberty sfreis.j, Staatssekretär von Bötticher erllären sich dagegen und es wird die Regierungsvorlage wieder hergestcllt, nach welcher die Zuziehung der Beisitzer in solchen Fällen unterbleiben kann, in denen sie entbehrlich sind. H 49 besagt, daß gegen das Urteil der Gewcrbegerichte Berufung an die" ordentlichen Gerichte eingelegt werden kann, wenn der Wert des Streitgegenstandes 100 übersteigt. Abg. Auer und Singer fSozl wollen keine Berufung gegen das Urteil der Gewerbegerichte zulassen, während Lbg. v. Stumm ffrcikons.) auch eine Berufung in solchen Fällen fordert; in denen der Werl des Streitgegenstandes nicht 1t 0 ist. Zu einer Abstimmung hierüber kommt es noch nicht, die Sitzung wird vielmehr abgebrochen und- die Weiterderatung auf Montag vertagt.
Berlin, 20. Juni. Bebel hielt gestern in einer Volksversammlung eine bemerkenswerte Rede, worin er vor verfrühtem Siegeljubel warnte. Seit den Wahlen sei einem großen Teil der Arbeiter der Kamm geschwollen. Sie glaubten, den Kapitalisten alles Mögliche bieten zu können und die Bourgeoisie stehe am Rande des Verfalls. Leider sei die sozialistische Partei noch lange nicht so weit. Bebel verurteilte scharf die mit ungenügenden Mitteln unternommenen Streiks und das Boykottsystem. Bierboykott nannte Redner „eine Dummheit". Die Versammlung beschloß hierauf, die Bierboykotts aufzuheben.
Berlin, 21. Juni. Es läßt sich jetzt schon übersehen, daß an der Summe von 20 Millionen Mark für Gehaltserhöhungen der Reichstag etwa 7—8 Millionen obstreichen wird. Die Post- und Telegraphensekretäre werden die oberste Beamtenklasse bilden, welchen die Gehaltserhöhung noch zugebilligt wird : über diesen werden nur noch 2 Klassen, nämlich die Vorsteher von Postämtern zweiter Klasse und die Bureau- und Rechnungsbeamten im Reichspostamt Gehaltserhöhungen erhalten.
Berlin, 23. Juni. (Corresp.) Die Wahlprüfungskommission des Reichstags hat heute mit allen gegen 3 Stimmen (2 Nationalliberale und I Zentrumsmitglied) beschlossen, die Gültigkeit der Wahl des Reichstagsabgeordneten des VIII. würt- tembcrgischen WahlkAuscs, des Freiherrn v. Münch, zu beanstanden und über die behauptete Wahlbestechung durch Vernehmung der 3 in der Wahlan- fechtungsschriit benannten Zeugen Beweis zu erheben. Frhr. v. Münch, im Reichstagshandbuch 1890 S. 224 als „Reichsfreiherr" und „Volksparteiler mit eigenem Programm" bezeichnet, ist das jüngste Mitglied des Reichstags, 25 I. alt, die zwei nächsten nach ihm im Alter sind 2 Sozialdemokraten, der 29 I. alte Zigarrensabrikant Bruhns und ^der 30 I. alte Schriftsteller Schippet. — Die Ernennung des Reichstagsabgeordneten Miguel zum preußischen Fi- nnazminister soll bevorstehen.
Berlin, 24. Juni. Der Kaiser genehmigte das Entlassungsgesuch des Finanzministers Scholz uutcr Verleihung des Kreuzes der Großkomthure des Hohenzollernvrdens. Oberbürgermeister Miguel von Frankfurt wurde zum Finanzminister ernannt. Derselbe übernimmt die Geschäfte am I. Juli.
Reichskommissar Major Wißmann ist in Berlin angekommen und von zahlreichen Herren, Bekannten und Freunden, Mitgliedern der Kolonialvereine rc. begrüßt. Der Reichskommissar hat in Afrika sein schwieriges Werk mit großer Ruhe, Umsicht und Thatkraft durchgeführt und die allgemeine Anerkennung wird feinem Wirken nicht fehlen.
Nunmehr ist der dritte Nachtragsctat an den Bundesrat gelangt. In demselben werden 73600000 Mark, darunter 65 209 000 ^ einmalige und 8 400 000 dauernde Ausgaben gefordert. Von den einmaligen Ausgaben kommen 42 Millionen auf militärische Zwecke, darunter 15 für Artillerie, 10 für neue Gewehre, 12 für Uebungen der Reserve, 5 für Garnisonsbauten in Elsaß-Lothringen. Der Bau strategischer Bahnen erheischt 10 300 000
Ein geringer Teil der Kolonialkreise in Deutschland kann sich mit dem Abkommen zwischen England und dem deutschen Reiche gar nicht befreunden. Namentlich bedauern sie lebhaft, daß das Sultanat Sansibar England überlassen ist. Die Herren sollen liebersich selber eingestehen, daß es ihre Schuld ist, wenn es so gekommen. Hätten sie von Anfang an tüchtig Geld aufgebracht, mehr durch die Thal, als mit Worten Kolonialpolitik getrieben, dann hätte Sansibar längst dem deutschen Einfluß gewonnen sein können. Wenn man die kolossalen Summen in Anrechnung zieht, mit denen die englischen Kolonialvereine operieren, und zu denen der Staat keinen Pfennig giebt, so muß man zu der Einsicht kommen, daß es unseren Kolonialkreisen noch sehr an Opferfreundlichkeit fehlt. Mit Beschlüssen, Wünschen und Reden wird keine Kolvnialpolitik getrieben, sondern mit barem Geldc. Das hätte auf den Tisch gelegt werden sollen, dann hätten wir heute Sansibar. Das nachträgliche Lamentieren ist höchst unnötig.
Der „Post" geht aus Berliner Kolonialkreisen ein Schreiben zu, in welcher gegen das deutsch-englische Kolonialabkommen Protest erhoben wird. Es heißt in der Zuschrift: „Dieser Vertrag berührt die kolonialen Kreise um so schmerzlicher, als sie keine Mittel unversucht gelassen haben, ihre Ansichten der kaiserlichen Regierung in Formen ausführlicher Denkschriften und anderem Material zu unterbreiten. Die Verstimmung gieng sogar so weit, daß ernsthaft diskutiert worden ist, ob man nicht den zu Ehren Wißmanns auf den 28. d. M. angesetzten Kommers ausfallcn lassen solle, da in so trüber Zeit keine Neigung für öffentliche Feste vorhanden und Wißmann von der neuen Gestalt der Dinge nicht sonderlich erbaut sein dürfe." In Friedrichsruhe scheint man mit dem Vertrage dagegen sehr einverstanden zu sein. Eine Auslassung in den dem Fürsten Bismarck nachstehenden Hamburger Nachrichten erkennt den guten Willen Englands gegenüber Deutschland an und drückt nur die Hoffnung aus, daß England gelegentlich sich bereit finden lassen werde, wie Helgoland, so auch die Walsischbay an das deutsche Reich abzutreten, da dieselbe für England werthlos, für Deutschland aber von Wichtigkeit sei.
Fürst Bismarck über sich selbst. Nunmehr hat der bisherige Reichskanzler sich auch deutschen Herren gegenüber über seinen Rücktritt und über seine gegenwärtige Stellung geäußert. Es geschah das gegenüber Düsseldorfer Herren, welche ihm eine Adresse überreicht haben. Der Fürst verhehlte nicht, daß >er sich gerade bei seinem jetzt sehr günstigen Ge- nndheitszustande kräftig genug gefühlt habe, die Bürde seines Amtes noch weiter zu tragen, daß er auch gern dazu bereit gewesen sei und gehofft habe, bis zu seinem Lebensende in bisheriger Weise dem Vaterlande dienen zu können, lieber die gegebenen Verhältnisse habe er sich aber sagen müssen, daß eines Bleibens nicht mehr sei. Er sei jetzt Privatmann, und habe keinen sehnlicheren Wunsch, als all- eitig als solcher betrachtet und behandelt zu werden; man solle ihn doch deshalb in Ruhe lassen. Daß er auch als Privatmann noch besonders Interesse an der Politik nehme, sei erklärlich, da er sich doch 40 Jahre lang ausschließlich mit derselben beschäftigt und ihr alle seine sonstigen Neigungen und manig- ache Beziehungen zum Opfer gebracht habe. Nichts iege ihm aber ferner, als auf den Gang der Po- itik erneut einen Einfluß erstreben zu wollen. Alles, was die Zeitungen nach dieser Richtung schreiben, sei unrichtig. Möchten dieselbe doch endlich einmal aufhören, ihn in solcher Weise zu verdächtigen. Aber gerade diejenigen, deren Wünsche durch seinen Rück
tritt vom Amte Erfüllung gefunden, suchten ihm auch die Rechte eines Privatmannes zu schmälern. Er lasse sich aber das jedem Privatmanne zustehende Recht der freien Meinungsäußerung nicht nehmen. Auch könne er sich hierin durch die Ratschläge ihm früher wohlgesinnter Blätter nicht beirren lassen. Er glaube nicht, daß er nach dem 20. März weniger in der Lage sei, ein richtiges Urteil zu fällen, und richtiger zu handeln, als vorher, und er fühle sich durchaus im Stande, die volle Verantwortung für sein Auftreten zu übernehmen. Alles aber, was er thue, könne nach seiner Auffassung doch nur bezwecken, der Dynastie und dem Vaterland zu nützen. Mit besonderem Dank an die Abordnung, deren Erscheinen ihm wohlgethau habe, schloß er diese längeren Ausführungen. Nach der Besichtigung der Adresse lud der Fürst die Herren zu einem Spaziergang in den Park ein, worauf ein Frühstück im Kreise der Familie und einiger Gäste folgte. Der Fürst, welcher sehr wohl und frisch aussah, belebte die Tafel durch die Wiedergabe interessanter Erinnerungen aus seinem Leben und Bemerkungen über verschiedene Tagesfragen.
F r a u k r' e i ch.
Paris, 21. Juni. Siocle meldet, König Leopold werde Stanley nicht zum Gouverneur des Kongostaates ernennen, da er einen Abenteurer nicht an die Spitze eines Staates stellen könne.
Paris, 21. Juni. Die Nachricht von dem bevorstehenden Mobilisierungsversuch eines Teiles der Flotte hat außerordentlich überraschend gewirkt.
Paris, 21. Juni. Hier sind Nachrichten eingetroffen, laut welcher der Zar am Mittwoch auf seinem Schreibtische eine Mitteilung gefunden habe, die ein neues Vorgehen gegen die russische Selbstherrschaft ankündige. Die Mitteilung trage die Unterschrift: „Ausschuß für die Befreiung des Ruffen- volkes-"
Paris, 22. Juni. Die Sprache der Blätter über den deutsch-englischen Vertrag ist immer noch sehr heftig. In der „Autoritö" schreibt Paul de Cassagnac: „Dieser deutsch-englische Vertrag ist von einer ungewöhnlichen Bedeutung. Unser Vaterlandsgefühl ist aufs Empfindlichste getroffen worden. Das ist das schwerste Ereignis, welches sich seit zwanzig Jahren zum Schaden Frankreichs zugctra- gen hat. Wir erblicken darin große Gefahren für unsere Sicherheit in einer nahen Zukunft." Das „XIX. Siocle" spricht von „diplomatischem Schacher" und meint, „Deutschland und England behandeln die Völker wie Kartoffeln, Baumwolle und Schnaps. Sklaverei und Sklavenhandel seien abgeschafft, aber was thäten Deutschland und England anders, indem sie die schwarzen Völker unter einander verteilten?" Und was hat denn Frankreich in Tunis und Tonkin, in Senegal, in Gabun, in Algerien u. s. w. gethan?
Die französischen Blätter fahren fort, von geheimen Abmachungen zwischen England und Deutschland zu faseln, die einerseits Englands Herrschaft in Aegypten, andrerseits den eventuellen Beistand Englands gegen Rußland verbürgen sollen. Herr v. Gravenreuth, der bisherige Stellvertreter des Reichskommissars in Ostafrika, der gegenwärtig zu einer Erholung auf seiner Besitzung Obergriesbach weilt, hat dem Redakteur eines Augsburger Blattes gegenüber sein „schmerzliches Erstaunen" darüber geäußert, daß Deuschland mit dieser Konzession den Schlüssel zu ganz Ostafrika an England ausgeliefert habe. Es ist überhaupt nicht zu verkennen, daß nur noch in sehr wenigen Blättern eine vollkommene Befriedigung über den Vertrag zum Ausdruck kommt.
Italien.
Eine wichtige Meldung kommt heute aus Mailand. Nach einem Telegramm der dortigen Persc- veranza sollen am Samstag in Rom zwei Kabinettskuriere aus Berlin und Wien eingctroffen ein, welche die Ratifikation oes Vertrages zur Verlängerung des Dreibundes bis Ende 1895 Überfracht hatten. Zu gleicher Zeit heißt es, das rus- ische-französische Bündnis sei endgültig abgeschlos- en. (?)
: Ministerpräsident Crispi hat in der Deputiertenkammer erklärt, er wolle gern dahin streben, daß Streitigkeiten zwischen einzelnen europäischen Staaten durch den Spruch eines Schiedsgerichts beseitigt würden. Fraglich sei aber, ob alle Staaten dem zustimmen würden, und vor allen Dingen dürfe man
/